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Kritik

Lavinia

Dagmar Leupolds Protagonistin findet im Fallen Worte, um die eigene Geschichte mit aller Willkür, Gewalt und Liebe zu erzählen, und sie auf diese Weise zurück zu gewinnen.
Hamburg

„Lavinia“ bereits im Titel klingt an, dass es sich um einen Sturz handeln könnte, eine Lawine, die Erinnerungen, Zeiten und Erfahrungen, nahezu unkontrolliert aufeinander prasseln lässt. Die Art, wie der Name auf dem Umschlag gesetzt ist, befördert diese Assoziation durchaus, denn das letzte A steht auf dem Kopf.

Und darum geht es natürlich auch, die Dinge von den Füßen auf den Kopf zu stellen, oder andersherum, jedenfalls sie zu ändern, indem man ihnen schreibend nachspürt.

Dagmar Leupold, 1955 geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Philologie und lebt als Autorin, Übersetzerin und Leiterin des „Studio Literatur und Theater“ der Universität Tübingen in München. Für ihr letztes Buch „Die Witwen“ war sie 2016 für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Sie selbst nennt als Kern ihres Schreibens: „Widerworte finden und wieder Worte finden.“ Ein Motto, dessen Personifikation die Figur der Lavinia, eine Figur der römischen Mythologie, zu sein scheint.

Ein Roman als Sturz durch die Zeit also, durch die Generationen und einen Teil der Weltgeschichte. Eine Ergründung der vielfältigen Möglichkeiten des „Fallens“ als Ausgangspunkt, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Zum Beispiel woher dieser unerschöpfliche Vorrat an Scham kommt:

„Wie ich mich schäme! Nichts, was keine Scham auslöst. […] Lange vor der Geburt habe ich einen Schamvorschuss erhalten, zins- und anstandslos ausgezahlt, den trage ich nun ab, lebenslang und wurzelwärts.“

Wobei die Wurzeln wiederum etwas sind, das je gründlicher man ihnen nachspürt, umso folgen- und weitreichender sind. Unter den Schlagworten „Überfall“ und „Rückfall“ schildert Leupold die tief eingeschriebenen, sorgsam verschwiegenen Kriegslasten, und die neuen Traumata wie 9/11, die sich ebenfalls einschreiben werden in das kollektive Gedächtnis jedes Einzelnen, in die Art, wie wir denken und reden und miteinander umgehen.

„Vielleicht ist die voraussetzungslose kindliche Liebe – man liebt den einen bestimmten  Menschen, so als sei er für einen selbst erstanden, ohne geschichtliches Beiwerk, ohne Erfahrungen, die sich auf anderes als die gemeinsamen Momente geteilter Gegenwart beziehen – für die Kriegsverstörten auf beiden Seiten, Täter wie Opfer, ein Erholungsangebot: Scham und Verbrechen zunächst zu beschweigen. Das Erholungsangebot wird tückisch, sobald die Kindheit zu Ende ist. Dann geht es über in wilde Schadstoffentsorgung im Gewebe der Nachkommen.“

Dieser Nachkommen, die mit den Toten leben:

„Es wird warm in der Welt, / und die Toten/ knospen und blühen.“

Es sind die Millionen ermordeten Opfer des Naziregimes, aber auch diejenigen, die dem jungen Mädchen Lavinia fraglos Halt gegeben haben, durch ihr Dasein und ihre Liebe, die den Grundstock legten für das Gedeihen der Widerworte. Ein aufkeimender Widerstandsgeist, der wenig später genährt wurde durch die Maßlosigkeit einer ersten großen Liebe.

Darüber hinaus schreibt Leupold mit „Lavinia“ eine Geschichte der Weiblichkeit. Der Roman widmet sich Erfahrungen davon, wie es ist in einem beengten prüden Umfeld und einem zumindest latent frauenfeindlichen Zeitgeist zur Frau heran zu wachsen. Plastische Szenen schildern eindringlich das amorph Unheimliche der Klassenfeiern während der Pubertät, zwischen Neugier und Übergriff.

Überhaupt gelingt Dagmar Leupold die Beschreibung des Zusammenspiels von Zeitgeschichte und Lebensgeschichte als körperlich organischem Prozess. Die Geschichte Lavinias ist gleichzeitig eine Geschichte der Einverleibung der Weltgeschichte in einen Frauenkörper.

Inklusive der Schilderung von Missbrauch und der rettenden Dissoziation als Reaktion darauf. Auch das völlig ohne Pathos, ohne Selbstmitleid, dafür schonungslos, erzählt. Ein „Logbuch der Gewalt“ zu führen ist wichtig „um die exakte Dosis für das Gegengift zu ermitteln.“ Und so werden Sprache, Körper und Sexualität ebenso rücksichtslos wie gewissenhaft erkundet. Deutlich wird in diesem Roman nicht zuletzt wie die Erfahrungen über die Zeiten hinweg an die jeweils geltenden gesellschaftlichen Konventionen gebunden bleiben. Was Leupold dem entgegensetzt ist der aufrichtige (auch das Scheitern nicht verschweigende) Versuch, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen, den schlimmen ebenso wie den schönen Gefühlen nachzuspüren. Die Toten sind dabei ein nahezu vitaler Bestandteil des Lebens. Überhaupt lebt der Roman, der Sturz durch die Zeiten, diese Lawine, die eine Bewegung hin zum Kern der eigenen eigentlichen von den aufoktroyierten Zuschreibungen befreiten Person ist, von der beständigen Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart, Glück und Leid, Einverständnis und Protest, Minnegesang und Rapp, Zeit- und Lebensgeschichte.

Der Zeitgeist des „deutschen Herbst“, des Höhepunkts der Terrorwelle der RAF 1977, wird in einem einzigen Satz verdichtet:   

„Die Republik ist übersäuert, hat Muskelkater vom Verschleppen.“

Und in diesem Klima, erfährt Lavinia das Phänomen „Liebe“, weit aufgespannt, zwischen der Verbindung von Fallen und Gefallen, zwischen Metamorphose und Selbstverrat. Im Stockwerk „Ich gefalle“, wird Weiblichkeit als Verfügbarkeit, als Angewiesenheit auf den fremden männlichen Blick beschrieben. Das ist bedrückend und zugleich ein sehr kluger, ebenso fundierter wie weitreichender Kommentar zur metoo Debatte.

Immer wieder gelingt es Leupold ein ganzes weitreichendes und weit ausgreifendes Generationenverhältnis und Zeitbild in wenigen prägnanten Sätzen zu formulieren. Sätze die aufblitzen im atemlosen Fallen durch die Zeit- und Lebensgeschichte. Fallgeschichten, die angerissen statt auserzählt werden. Getragen von einem rhythmischen Monolog, der während er von sich erzählt, viel Welt erfahrbar macht. Verwundungen werden sichtbar. Narben. Vielleicht auch Heilungsmöglichkeiten dann und wann.

Im haltlosen Sturz offenbaren sich sowohl die Fallen in die man blindlings gestolpert ist, als auch jene, die man sich selbst gestellt hat.

„Lavinia“ ist eine Lebensgeschichte, erzählt durch die Fallen der Zeitgeschichte, eine Bewegung von der Entfremdung zurück zu sich selbst. Ergründend, gründlich und einleuchtend, gewidmet den Zugefallenen, ist der Roman die Geschichte einer Frau, die sich letztendlich über diese Geschichte erhebt, oder besser: vom Boden dieser Geschichte abhebt.

Dagmar Leupold
Lavinia
Jung und Jung
2019 · 240 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-99027-234-3

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