"Eine Kolonialisierung des Blicks"
Es handelt sich bei der Lyrikanthologie "Cinema" um ca. 170 Seiten deutschsprachige Gegenwartslyrik über das Kino, großteils bisher unveröffentlicht – für einen Gedichtband also eine ziemlich geballte Dröhnung, bestückt mit Beiträgen eh der meisten üblichen Verdächtigen1 und dank ihres rein inhaltlichen Fokus völlig unbelastet von jenen Erwägungen zu Kanon und Theorie, die sonst für Anthologien meist konstitutiv sind. Über die Auswahl schreiben die Herausgeber Wolfgang Schiffer und Dinçer Güçyeter in ihrem Vorwort:
Der ELIF VERLAG hat Lyrikerinnen und Lyriker eingeladen, Gedichte über das zu schreiben, was sie mit CINEMA verbindet.
Klug, an diese Stelle das Wort "CINEMA" zu setzen und nicht "Kino" oder so – so wird den 64 (!) Autor*innen ermöglicht, auch von allerhand Serien u. ä. zu sprechen, die sich ihrerseits auf den Erfahrungshorizont Film beziehen, und vermittels derer auch die veränderliche Wirklichkeit unseres Medienkonsums in den Blick zu bekommen ist – von den diversen Wirklichkeiten der Institutionen, die ein CINEMA heißen können, noch geschwiegen.
Das Konzept des Bandes geht auf, weil Gedichte und Filme sich (trügerisch) leicht in einander übertragen lassen. Eine der Stärken der Gattung Lyrik besteht ja im sprachlichen Umgang mit Bildmaterial, konkret im Implizieren von Bildern vermittels (weniger) Worte, und dann in der Spannung zwischen dem, was da impliziert ist, mit dem, was (später im Text und ggf. entgegen der geweckten Erwartung) expliziert werden kann. Dem gegenüber impliziert Film Gedanken vermittels seiner Bilder; das Verweisziel liegt in beiden Fällen außerhalb des Mediums, außerhalb des manifest lesbaren Texts. Dem entsprechend häufig finden wir in der Anthologie Kippeffekte der Art, dass der manifeste Bildgehalt eines Films entgegen seine "verbürgten" Bedeutungen gelesen und/oder weitergeschrieben wird. Die thematische Klammer legt drei Gedichttypen nahe, die sich in der Anthologie wiederholt finden: Zum ersten Übersetzungen eines Films, eines Frames, einer Serie in die Sprache des Gedichts, mit oder ohne Zugabe; zum zweiten die biographischen (bzw. bloß-unpersönlich "nostalgischen") Texte, in denen Film (oder was mit ihm geschieht) die Funktion eines Indikators oder einer Metapher hat; drittens popdiskursive Texte, die das ausgebreitete (Film-[Geschichts-])Material vor allem als Raum von Theoriegeschichte durchmessen. "CINEMA" bietet der Menge an abgedruckten Autor*innen wegen einen einigermaßen umfassenden Überblick über die möglichen Gestalten zeitgenössischen deutschsprachigen Dichtens; dabei behält der Band – wohl vor allem wegen des Themas, das auf einen bereits breit popularisierten Vorrat an Referenzmaterial hinausläuft – ein unakademisches, "zugängliches" Gepräge.
Es ist kaum vorstellbar, dass einer Leserin alle Gedichte der Anthologie gleichermaßen zusagen, aber ebenso wenig, dass man auf den 172 Seiten gar nichts für seinen Geschmack findet.
Die Herausgeber haben die Einträge in ihre Sammlung so angeordnet, dass sie am einfachsten tatsächlich von vorne nach hinten gelesen werden zu können scheint, mit (im Verzeichnis nicht als solchen vermerkten) Kapitelmarken in Form der doppelseitigen Collagen von Stefan Heuer. Ein Problem könnte damit allenfalls derjenige Leser bekommen, der ausgerechnet mit keinem der eröffnenden drei Textblöcke etwas anfangen kann. Das ist aber unwahrscheinlich, denn zu sehr umfassen bereits diese drei untereinander die Vielfalt des Buchs, das sie eröffnen:
José Olivers, sagen wir, tarantinoesker "Abspann" zum Western als Genre und blutiger Wirklichkeit trennt einiges von jener Elegie von Nora Gomringer zu "Out of Africa", die dem Kamerablick, der
Kolonialisierung des Blickes
selbst zu gelten scheint, und von diesen beiden zu Kai Gutackers knappem "Mad Men"-Stollen –
(…) bis wir aus Worten
Rauch und Kirschfurnier
Ein Rückgrat für sie gebaut haben
– das sind alles sehr unterschiedliche Film(zuschauer)welten.
Eine Bemerkung zum Satz: ganz klar, was die "zweite" Schriftart des Bandes, die, in der Überschriften und hervorgehobene Textbestandteile gesetzt sind, uns sagen will. Sie wirkt wie eine entfernte Verwandte der Schriftarten der alten Hollywood-Plakate und der title cards der dreißiger-vierziger-fünfziger Jahre, ein bisschen Art Deco, und neben jener schmalen, sachlichen, serifenlosen Schrift, in der der Fließtext hier wie in den meisten anderen Elif-Publikationen gehalten ist, entfaltet sie ihre Wirkung auch punktgenau und versetzt uns in des gewünschte mindset. Gleichwohl macht sie, wo ich sie tatsächlich lesen können muss – in Motti, langen Titeln, mehrzeiligen Hervorhebungen – echt Augenschmerzen. Also: mehr, als sie ästhetischen Nutzen stiftet.
***
Mit Gedichten von: José F. A. Oliver, Nora Gomringer, Kai Gutacker, Silke Vogten, Harald Gröhler, Giuliano Spagnolo, Christoph Danne, Lütfiye Güzel, Georg Leß, Jonis Hartmann, Marina Büttner, Leander Beil, Róža Domašcyna, Gundula Schiffer, Marcus Roloff, Hartwig Mauritz, Stan Lafleur, Anke Glasmacher, Ulf Großmann, Amir Shaheen, Andrea Karimé, Katia Sophia Ditzler, Martin Piekar, Lisa Goldschmidt, Sudabeh Mohafez, Melanie Katz, Sascha Kokot, Niklas L. Niskate, Annette Mathilde Winz, Matthias Göritz, Klára Hu ̊rková, Simone Scharbert, Björn Hayer, Bernd Lüttgerding, Paul-Henri Campbell, Jan Volker Röhnert, Friedel Weise-Ney, Özlem Özgül Dündar, Bastian Schneider, Hendrik Jackson, Hung-min Krämer, E. Ch. Cohnen, Jayne-Ann Igel, Alexandru Bulucz, Dana Range, Thorsten Krämer, Crauss., Tanja Dückers, Hans Thill, Uwe-Michael Gutzschhahn, Kerstin Becker, Fabian Lenthe, Dominik Dombrowski, Safak Saricicek, Anja Ross, Hans-Ulrich Heuser, Axel Kutsch, Orsolya Kalász, Timo Brandt, Ilma Rakusa, Uljana Wolf, Stefan Heuer, Jörg Sundermeier, Ulrike Almut Sandig.
- 1. …außer mir, der, full disclosure, dann doch ein kleines bisschen beleidigt ist, nicht auch eingeladen worden zu sein.
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Kommentare
full disclosure
ich wurde auch nicht eingeladen ...
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