„Tod den Reichen!“
„Die Nacht zum 14. Juli 1789 war lang, sehr lang, eine der längsten aller Zeiten. Niemand konnte schlafen. Um den Louvre zogen kleine, stumme Grüppchen auf finsterer Diebestour. Die Kneipen schlossen nicht. Die ganze Nacht lang irrten einsame Gestalten, sonderbare Schatten, über die Seine-Ufer. Es herrschte eine drückende Hitze, an Schlaf war nicht zu denken; draußen lechzte man nach ein bisschen Wind, ein bisschen Luft. Ganz Paris schlief nicht.“
Die kurze Passage, sie befindet sich auf Seite 35 des schmalen Bändchens, verdeutlicht das literarische Konzept Éric Vuillards, mit dem er es spätestens seit Veröffentlichung seines vorletzten, hochdekorierten Romans „Die Tagesordnung“ auch hierzulande zu einiger Bekanntheit gebracht hat. Und auch in seinem neuen Buch „14. Juli“ (im französischen Original bereits 2016 unter dem Titel „14 juillet“ erschienen) bleibt er sich sowohl stilistisch als auch bei der Wahl des Sujets treu: Der Band behandelt den „Sturm auf die Bastille“, der in der Rückschau als Auslöser der Französischen Revolution angesehen wird.
Wie von Vuillard gewohnt, vermischen sich dabei Fakten und Fiktion. Was nach der Lektüre hängen bleibt, ist vor allem ein atmosphärischer Gesamteindruck der Ereignisse des 14. Juli 1789, ein Stimmungsbild der Menschen auf den Pariser Straßen rund um die Bastille, welches andeutet, wie es damals zugegangen sein könnte. Vuillard erzählt die Geschichten all jener, die nie in den Geschichtsbüchern auftauchen werden; Menschen, die sich nach den Ereignissen gleich wieder verflüchtigen, an die sich schon kurze Zeit später niemand mehr erinnert, da ihr Heldenepos lediglich eine Minute währte.
Für Vuillard begann die Revolution nicht am 14. Juli, sondern bereits am 23. April. An diesem Tag plünderte eine aufgebrachte Menge die Folie Titon, den pompösen Sitz der einstigen Papier- und Tapetenmanufaktur des Unternehmers Jean-Baptiste Réveillon. Dieser hatte kurz zuvor angekündigt, die Löhne seiner Arbeiter von zwanzig auf fünfzehn Sous am Tag zu senken. „Die Wut steigt, wie die Löhne fallen“, schreibt Vuillard, und aus den Klagen der Arbeiter entwickelte sich binnen weniger Tage ein Sturm der Empörten, dem sich immer mehr Menschen anschlossen, nicht allein die Arbeiter, sondern unzählige weitere „arbeits- und mittellose Seelen“, Frauen, Kinder. Mit über dreihundert Toten war der erste Tag der Revolution zugleich auch einer der mörderischsten.
Szenenwechsel, Schauplatz Versailles: Um die für die Küche des königlichen Palastes zuständigen 1500 Bediensteten unterzubringen, wurde die gesamte Einwohnerschaft des Dorfes enteignet. Allein für das Schlafzimmer des Königs waren vier Uhrmacher angestellt, einer von ihnen eigens mit der Aufgabe betraut, morgens die Uhr des Monarchen aufzuziehen. „Wie eine Farce, ein Scherz à la Rabelais“, meint Vuillard. Derweilen verdorrten die Finanzen des Landes. Um das Defizit aufzufangen, wurden fortlaufend die Abgaben und Steuern erhöht, für alle, außer für die Reichen. Und während man sich in Versailles an den Hirschjagten erfreute, zermarterte sich der Finanzminister das Hirn, wie er die Börsen beruhigen könne – „den schon damals maß man an der Börse die Temperatur der Welt“.
Am 14. Juli brach sich die aufgestaute Wut Bahn. In den Worten Vuillards, der trotz seines sachlichen Stils keine Gelegenheit zum Pathos auslässt, klingt das so: „Der Wille des Volkes hat soeben die Bühne der Geschichte betreten. […] die Intifada der kleinen Händler, der Handwerker von Paris, der armen Kinder [beginnt]“. Weil sich nicht genügend echte Waffen auftreiben ließen, wurden die Theater gestürmt und die Requisitenkammern geplündert.
Bereits in den frühen Morgenstunden versammelte sich der Menschenauflauf um die Bastille. Die Gardes Française, Infanteristen des Königs, hatte sich der Menge angeschlossen. Volk und Gardisten vermischten sich, „man verbrüdert sich […], ist sich nahe, ohne einander zu kennen.“ Zweihunderttausend Menschen versammelten sich rund um die Bastille. Abzüglich der Kranken, Greise und Neugeborenen war das ganze Stadt. Wer nicht kämpfte, pflegte die Verwundeten oder besorgte Nachschub an Schießpulver und Verpflegung. Der Belagerer der Bastille heißt Paris, schreibt Vuillard.
Dazu gehörte beispielsweise Cholat, der kleine Weinhändler aus der Rue des Noyers, der noch nie in seinem Leben mit der Muskete geschossen hatte, nun aber hinter einer eilends herangekarrten Kanone stand. Oder der Laternenanzünder François Rousseau, der nachmittags um zwei von den Soldaten des Königs totgeschossen wurde und dem die Fliegen die Augen zerfraßen, bevor der Leichnam entsorgt werden konnte. Oder Humbert, Uhrmacher aus der Schweiz, der sich für gewöhnlich mit präzisen Uhrwerken beschäftigte, heute aber ein ums andere Mal die Festung unter Beschuss nahm. Vuillard entwirft ein Mosaik an Figuren, die kurz in Erscheinung treten, genauso schnell wieder verschwinden, um vereinzelt an anderer Stelle erneut aufzutreten.
Es war kurz nach fünf Uhr, als die Menge die Bastille stürmte und unverzüglich mit ihrer Zerstörung begann. Ein Freudenfest, das eine ganze Woche währte, begleitet lediglich von der Sorge, neue Truppen könnten eintreffen und dem Treiben ein abruptes Ende bereiten. Hier schließt Vuillards Geschichte. Gegen Ende des 14. Juli soll es geregnet haben.
Es wäre naheliegend, in Éric Vuillards Text – und nicht wie häufig geschehen in Michel Houellebecqs Roman „Serotonin“ – den zeitgemäßen Kommentar zur französischen Gelbwestenbewegung zu sehen. Allerdings ist Vuillards Buch in Frankreich bereits 2016 und somit ein gutes Jahr vor den ersten Protesten der Gelbwesten erschienen. Dass die Protestierenden in Vuillard jedoch einen wortmächtigen Unterstützer haben, davon darf man nach Lektüre von „14. Juli“ getrost ausgehen. Steht doch ganz am Ende des Buches der Rat, die Türen „unserer lächerlichen Élysée Paläste“ einzutreten, die „Scheiben mit Steinen ein[zu]schmeißen“ und alle Papiere aus dem Fenster [zu] werfen: Dekrete, Gesetze, Protokolle, einfach alles!“
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