Spargel im Winter
„Draußen hatte es geregnet. Der Asphalt glänzte.“ Die Szene erinnert an ein Gemälde von Lesser Ury, das passenderweise auch den Umschlag dieses in jeder Hinsicht gewichtigen Buches ziert. Berlin wird Großstadt, ja, Weltstadt sogar. Pferde, so prophezeit Paul Effinger, werden bald überflüssig. Stattdessen wird sich die pferdelose Kutsche durchsetzen, angetrieben von einem Gasmotor, den zu entwickeln sich der Fabrikant zum Lebensziel gesetzt hat. Ein gewisser Karl Benz verfolgt ähnliche Pläne. Doch Konkurrenz belebt bekanntlich das Geschäft. Und zunächst gilt es die Menschen von den neuen Ideen zu überzeugen. „Kein Mensch, der seine fünf Sinne beisammen hat, wird sich je in so ein Ding setzen“, schreibt die Presse. „Wir sind gewiss für den Fortschritt, aber dieses Ding kann man nur als die Ausgeburt einer irregegangenen technischen Phantasie bezeichnen.“
Das 19. Jahrhundert geht zu Ende. Die gesellschaftliche Unruhe angesichts der rastlosen Entwicklungen ist mit Händen zu greifen. Die Meinungen darüber, ob das neue Jahrhundert nun ein besonders helles, oder ein besonders dunkles werden wird, gehen weit auseinander. Was für die einen Fortschritt ist, bedeutet für die anderen Niedergang. Die Wahrheit liegt auch hier, wie fast immer, im Auge des Betrachters.
Das ist, zusammengefasst, das Spannungsfeld, in dem die Handlung dieses grandiosen, 1951 erstmals veröffentlichten Romans von Gabriele Tergit angesiedelt ist. Im Mittelpunkt stehen die Geschichten dreier durch Heirat miteinander verwobener Familie: die Effingers, die Goldschmidts und die Oppners.
Die Erzählung setzt ein mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Gründerjahre und reicht im Epilog bis über die Zeit des Zweiten Weltkrieges hinaus. Dazwischen wird geboren und gestorben, geheiratet und geschieden, werden Vermögen aufgebaut und wieder verloren, wird emanzipiert und unterdrückt. Denn „Effingers“ ist nicht nur eine großartige Familienchronik über 70 Jahre und vier Generationen, sondern auch die Beschreibung des im 19. Jahrhundert so hoffnungsvoll begonnenen und im 20. Jahrhundert so tragisch gescheiterten Versuchs der jüdischen Emanzipation in Deutschland. Sinnbildlich dafür stehen im Roman wie in der Wirklichkeit die Jahre des Ersten Weltkrieges, als sich Teile der jüdischen Bevölkerung im nationalen Einheitstaumel sowie im anschließenden Opfergang an der Front bereits am Ziel wähnten, was sich nach Kriegsende rasch als folgenschwere Illusion herausstellte. Auch davon berichtet das Buch eindrucksvoll: Vom Gift des Antisemitismus, der Juden im Kaiserreich systematisch von öffentlichen Laufbahnen ausschloss, sie nach dem Ersten Weltkrieg Stück um Stück aus der Gesellschaft drängte, und ihnen schließlich nach 1933, sofern sie nicht von selbst die Flucht ergriffen, nach dem Leben trachtete.
Doch ziehen sich die Spannungen der Zeit nicht nur quer durch die Gesellschaft, sondern auch mitten durchs Familienleben der Effingers, Oppners und Goldschmidts. Es ist der großen Erzählkunst Tergits zu verdanken, dass diese zeit- und milieuspezifischen Beschreibungen niemals plakativ daherkommen, sondern, durch kurze Kapitel und fundierte Detailschilderungen befördert, über 900 Seiten einen Lesesog und Spannungsbogen entwickeln und aufrechterhalten, wie man das sonst nur von den Klassikern des Gesellschafts- und Familienromans im 19. Jahrhundert kennt.
Sinnbildlich für die Gegensätzlichkeit der Zeit stehen die Schauplätze Berlin und die – fiktive – Residenzstadt Kragsheim, aus der die Effingers stammen und wo Matthias Effinger bis ins hohe Alter – so viel Symbolik sei erlaubt – als Uhrmacher arbeitet. Natürlich bekommt man auch in Kragsheim mit, dass die Welt sich ändert, und doch halten sich die Auswirkungen auf die Bewohner in Grenzen. Selbst die Nachricht vom Kriegsausbruch 1914 vermag die gewohnte Ruhe nicht zu stören oder den alten Effinger von seinem täglichen Spaziergang – „immer zu dritt, mein Stock, meine Zigarre und ich“ – abzuhalten.
Unwirsch blickt man hingegen auf die Ambitionen der Kinder, von denen einzig Helene durch ihre frühe Verheiratung nach Neckargründen der vorbestimmten Rolle und damit den Erwartungen der Eltern entspricht. Paul und Karl zieht es nach Berlin, Benno, der älteste, wandert sogar nach London aus, wo er sich erfolgreich als Unternehmer verdingt, zum Lord aufsteigt und den deutschen Zuständen keine Träne nachweint. Statt zu sparen, wie sich das über Generationen bewährt hat, lebt man in Berlin auf großem Fuß. So zumindest sieht man das in Kragsheim. Indiz dafür: Selbst im Winter wird bei den Familientreffen Spargel serviert!
Dabei gibt es auch innerhalb des Berliner Familienzweigs, Karl und Paul haben sich mittlerweile mit den beiden Töchtern des Bankiers Oppner vermählt, gravierende Differenzen in Lebensstil und Ansichten. Während Paul tagein, tagaus in der Fabrik arbeitet und keinen Wert auf Luxus und Repräsentation legt, logiert Karl, nachdem er sich, den Erfolg von Pauls Unternehmen ahnend, kurzerhand zum Co-Chef ernannt hatte, an erster Adresse am Kurfürstendamm, lässt sich ein „Watercloset“ und allerlei sonstigen modernen Schnickschnack einbauen, und schmückt die Zimmerwände mit Werken des bekannten Historienmalers Wendlein. Was ein Naserümpfen bei seinem liberalen Schwager Waldemar Goldschmidt hervorruft, der seinerseits die, Zitat Wendlein, „neuen Klexer“ Monet, Renoir und Pissaro bevorzugt.
Ein nicht minder raumgreifendes Motiv des Romans sind die Versuche der Töchter, aus ihren tradierten Rollen auszubrechen, was dem ewigen Konflikt zwischen Alter und Jugend eine weitere Dimension hinzufügt. Doch spielt den Jungen die Zeit in die Karten. Der Erste Weltkrieg fegt die bestehenden Verhältnisse ein für alle Mal über den Haufen; und eröffnet den Frauen nicht nur Zugang zu neuen Berufen, sondern auch zu gänzlich veränderten Lebensmodellen. Nach ihrer Scheidung von dem Nichtsnutz und Bankrotteur Gerstmann lässt sich Sophie, eine der drei Oppner-Töchter, in München als Künstlerin nieder. Die Wirren der Revolution 1918/19 erlebt sie aus nächster Nähe, zusammen mit ihrer Cousine Marianne Effinger, die sich, sehr zum Leidwesen ihrer Familie, mit Feuereifer dem sozialistischen Projekt verschrieben hat.
Tergits Roman ist aber nicht nur ausgesprochen klug und unterhaltsam, sondern streckenweise auch auf eine Musil’sche Art witzig. Etwa wenn der alte Ludwig Goldschmidt als Aufsichtsrat in Paul Effingers Firma mit Nachdruck gegen die Anschaffung neuer Maschinen auf Kredit und Rohstoffe auf Vorrat votiert, sondern stattdessen zu Sparsamkeit und Umsicht rät. Die jüngeren Vertreter wischen den Einwand als unzeitgemäße Bedenkenträgerei vom Tisch – nur um mit Ausbruch des Krieges eines Besseren belehrt zu werden. Auch derlei kleine Episoden sind es, eingeflochten in das große historische Panorama, die „Effingers“ zu einem so ungemein lesenswerten Buch machen.
Gabriele Tergit hieß eigentlich Elise Hirschmann. In den 1920er Jahren war sie Gerichtsreporterin des „Berliner Tagblatts“. Ihr Chef war der große Publizist Theodor Wolff. Aufgewachsen war Tergit in Bayern und Berlin, als Tochter eines wohlhabenden Kabelfabrikanten und Selfmade-Unternehmer der Gründerzeit. Die autobiografischen Wurzeln ihres großen Romanprojekts liegen auf der Hand. Das „Effingers“-Manuskript entstand zwischen 1933 und 1950, der, wie Nicole Henneberg in ihrem Nachwort schreibt, „schwierigsten Zeit ihres Lebens […] in Dutzenden Hotelzimmern, in Prag, Jerusalem, Tel Aviv und schließlich ab 1938 in London“. Der Schmerz über die Vertreibung aus Berlin sowie die untergegangene Welt sei ihm anzumerken. Als das Buch 1951 in einem kleinen Hamburger Verlag erschien, blieb ihm die erhoffte Resonanz verwehrt. Sechs Jahre nach dem Krieg wollte niemand in Deutschland mit einer Erzählung über den Antisemitismus behelligt werden. Erst kurz vor ihrem Tod 1981 in London wurde Gabriele Tergit von den Feuilletons wiederentdeckt. Für ihren Lebensroman erfährt sie jetzt die Anerkennung, die ihr zu Lebzeiten verwehrt geblieben war.
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