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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

„Der Sand ist weiß, der Wald schön, der Himmel blau und das Meer auch.“

Zur Anthologie des 25ten Open Mike
Hamburg

Dass es doch möglich sein müsste, irgendwas Sinnvolles zu tun, denkt Beat weiter vor sich hin, Probleme gibt es wohl genug, doch er weiß nicht, wie anknüpfen, wie mit echten Problemen, Menschen in Kontakt kommen? Soll er etwa für sie Musik spielen? Schon der Gedanke scheint ihm lächerlich.

Oh, modern life, so nice, so dull, so unempathic. Kaum hat Florian Kessler das Warum? und Wozu? in seinem Vorwort zur Open Mike Anthologie emphatisch umrissen, stellt Ann-Kathrin Ast sie in ihrem Text schon wieder, die Fragen. Ihr Protagonist Beat steht dem Takt der Welt ratlos gegenüber: eine Umweltkatastrophe hier, ein Flugzeugabsturz da, aber keine Möglichkeit, sich auf dem drehenden Karussell aus Schein und Schund irgendwie vernünftig einzubringen. Wo sind sie, die echten Probleme und warum schirmt sich der gemeine Mitteleuropäer so entschieden von ihrer Existenz ab, was bleibt ihm denn dann noch?

Deutscher Mustermann im Fokus: Lukas Diestels Text über den Routinier Peter M., der mit seiner Vorstellungskraft eines Tages ein exponentielles Chaos verursacht, ist zwar kurzweilig unterhaltsam, ein Mix aus fantasievoller Komik und Scherzen auf Kosten des Spießertums, erschöpft sich aber schnell darin. Vielleicht fehlt mir ja das entsprechende Vorstellungsvermögen, um die Tragweite dieses Textes zu begreifen.

Mariusz Hoffmanns Siegertext „Dorfköter“ schleicht sich an einen heran, man spürt die Wucht seiner Essenz eher untergründig, statt dass man sie konkret in einem Bild oder in einer Szene vollends wahrnimmt; ein unscheinbarer Zug liegt auf der Sprache und der Handlung. Vielleicht rührt dieser Eindruck aber auch daher, dass Hoffmann gekonnt die Distanz zwischen den Leser*innen und dem Kosmos seines Textes überbrückt, indem er mit einer Selbstverständlichkeit zu Werke geht, die einen schon nach kurzer Zeit in ihren Bann zieht.

Nach Peter M. nun auch noch ein Herr Meier. Rainer Holls Erzählung „Prolog“ ist zart, ist abschweifend, kreist um die kleine Existenz des Herrn Meier. Es ist ein gelungener Text, aber es gelingt ihm nicht, mich zu inspirieren oder zu verblüffen, was wohl auch nicht seine Absicht ist. Eine kurze, fast einlullende Lektüre, aber, das muss noch einmal betont werden: sehr zart, gelungen zart.

Satzfeuerstoß auf Satzfeuerstoß schlägt mir bei Magdalena Kotzurek entgegen; mal sanft, mal schnell, mal ausgestreuter. Sie surren durch das Panorama eines Badeortes in Polen, über den Spuren von Nazis und Sowjets, im Urlaubslüftchen. Mir gefällt die Art, wie der Text erzählt und seine Dynamik entfaltet – nur leider weist er so wenig Fassbares auf, dass ich trotz interessanter und subtiler Ansätze schnell keinen Reiz mehr davon ausgehen sehe.

stell dir vor
die haut fällt von dir ab
wie die rinde
            einer anderen zeit
/ am rückgrat wachsen
blätter
eingeweide          modert
langsam vor sich hin
aus dem körper der geruch
von feuchter erde

So beginnt Eva Maria Leuenbergers lyrisches Stimmen- und Körperstück, das sich immerhin über 25 Seiten hinzieht, zerrinnend und zerreißend, fließend, dabei kaum fußend. Geschrieben wurde es u.a. mit einigen Versatzstücken aus Texten von Louise Glück, Anne Carson und anderen.

Es ist, schlicht, beeindruckend. Bohrend mitunter. Intensiv in der Art, wie es sich mitunter selbst befühlt, zu berühren vermag.

du fragst dich
ob der riss in der haut
die lösung ist

Ich glaube, ich werde diese Anthologie – vielleicht sogar in einigen Jahren, wenn überhaupt noch mal – vermutlich nur wieder in die Hand nehmen, um diesen Text noch einmal zu studieren. Schon jetzt schwirrt er mir mit seinen vielen Verästelungen noch im Kopf herum.

Schon muss ich das vorangegangene Statement etwas relativieren: Sollte ich die Anthologie wieder in die Hand nehmen, nach Jahren, würde ich vermutlich auch, mit Genuss und mit Vergnügen, noch einmal den Text von Baba Lussi lesen. Ein subtil-komisches Kleinod, das noch einmal sehr gewinnt, wenn sie es selber vorliest.

Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, wenn da plötzlich ein harmloser, trauriger Fremder in meiner Wohnung sitzen würde. Aber das Schöne an dem Text ist, dass er diese Frage mit der richtigen Balance aus Spiel und Ernsthaftigkeit angeht – und dem unwiderstehlichen sprachlichen Takt seines Stils.

wie wochentags schon hinterm kippstuhl
die front begann, wo wir die konformität tor
pedierten, schlieren am boden zurückließen.
im putzwasser schiffe versenken.

Lauritz Müllers „renaturierte spielbretter“ und „die natur im verdacht“ knallen ans Auge heran, das einem Einblick und Verstehen schnell vergehen. Nein, im Ernst, es macht schon ziemlich viel Spaß, diese Gedichte zu lesen, allein schon wegen den Tempowechseln und den Luftlöchern, wo die Sprache plötzlich aus ihrer Höhe fällt, oder wegen Sätzen wie:

es galt unsere haut als letzte verfügbare fracht

Aber man verliert sich doch allzu unbedacht und unbeachtet in diesen Dichtungen.

Ungewöhnlich, aber auf eine gute Weise, ist das Sujet des nächsten Textes. Markus Ostermair schickt seinen Helden, einen Obdachlosen und Bettler namens Karl, durch die Münchener Innenstatt. Leute, Aufkleber, Gedanken, Geschichten ziehen vorbei, während Karl nebenbei noch Auskünfte über das Für und Wider verschiedener Techniken des Bettelns gibt. Der Text scheint auf nichts abzuzielen, lebt von der Aneinanderreihung der Beobachtungen; und doch gelingt ihm unter der Hand die knappe Darstellung einer Lebenswirklichkeit, die neben dem Hochglanzanstrich der Städte existiert, darin und darum herum.

Sorgfältig schneidern sich Ronya Othmanns Gedichte einen Weg durch die Sprache, unauffällig, aber bestimmt. Zartes und Gebanntes, Heftigeres, dicht nebeneinander, fast schon ineinander geneigt. Wie Würfel fallen manche Sätze. Die von den Worten bespielte Oberfläche wird mit Leichtigkeit zur Landschaft, zur Umgebung. Belebt von allerlei, doch eigentlich nur betrachtet, wahrgenommen. Ihre Worte ziehen an einem schmalen Strang, der um etwas gewickelt ist, das tief im Empfinden steckt, vielleicht sogar wurzelt.

spiele wie wind
hunde jagen nach dem
v der vögel

Gestreut wirken die Gedichte von Tobias Pagel, mit in die Luft geworfenen oder schnell mal aufgelegten und angespielten Worten, voller Phrasenimitationen und Dies-vor-den-Latz-geknallt-Orgien. Mitunter verklausulieren sie sich in Spielereien, die einander zu jagen scheinen. Meteore fragen Karrieren aus und das frühe Dunkel ist der Dieb – lieb- und lose Behauptungen, die auf der Projektionsfläche des Textes herumgeschossen werden wie Murmeln und vom nächsten Satz ihrerseits wieder weggekickt werden.

und warum auch immer hat Walter ein Schaf als Haustier und das liegt jetzt mit uns an diesem See und warum trägt es ein Halsband?

„zu viel Spaß“ verspricht der Titel von André Pattens dahinströmendem Text, der sich als solider Mix aus Gegenwartsreizwörtern, Gruppendynamiken und Lebensüberdruss entpuppt. „Ist die Welt so banal oder bin ich das?“, tönt es aus jeder Feststellung, jedem Gesprächsthema. Es ist aber leider nicht wirklich originell, die Banalität menschlicher Wesens- und Sozialzüge anzureißen. Vor allem weil der Geschichte um die Freundesgruppe am See, bei aller Lust und allem Frust, irgendwie der Knackpunkt fehlt. Wenn da nichts ist, das sich durch das Erzählen ergibt, ist die Beschreibung der Banalität leider selbst banal.

Sag mal, Stan, bist du eigentlich vollkommen übergeschnappt?
Nein.
Und
Aber ich arbeite daran.

Auch mich als Leser trieb Timotheus Riedels Text ein wenig in den Wahnsinn – zumal ich lange nicht wusste, ob ich es hier mit einer ausgeklügelten Angelegenheit oder einer durchtriebenen Farce zu tun habe. Der Text springt zwischen einer Paargeschichte (in der der Mann, Stan(ley), beschließt verrückt zu werden) und einer Kliniksituation hin und her. Der Text gibt sich aberwitzig, ironisch, knallig fast und wirkt dadurch teilweise befremdlich, auf jeden Fall fern. Und er lässt einen, trotz Zusammenführung und Pointe, am Ende irgendwie unbefriedigt zurück.

In Laura Schieles Gedichten stimmt mitunter die Chemie nicht, die Chemie zwischen dem Du und dem Ich. Die Texte wirken schön und irgendwie kindlich, auf den ersten Blick; auf den zweiten eher behutsam, reduziert auf ein zärtliches Maß an Bewegung, Aufregung. Schöne Gedichte, aber auch Gedichte, die man schnell wegliest.

Der Bussard stürzt wie ein leerer Teller vom Himmel.

Es ist so etwas wie der Höhepunkt im Text von Christian Schulteisz, als der Bussard vom Himmel fällt. Davor werden wir Zeuge des entspanntesten Berufes der Welt: Schrankenwärter. Hier geht’s zwar ständig auf und ab, trotzdem passiert nicht viel, alles zieht vorbei. Da könnte man eigentlich in Ruhe seine Wild-West-Heftchen lesen. Wäre da nicht der Bussard, der aus der Routine des Schienenverkehrs ein Wirrwarr macht. Raupenmus spielt auch eine Rolle.

Bumble statt Tinder. Keine Schleichwerbung, sondern wohl eher ein Variationsversuch (das Spannende an dieser Dating-App soll (angeblich) sein, dass Frauen hier den ersten Schritt machen müssen).
Das Date ist am Anfang von Magdalena Sporkmanns Text aber schon gelaufen, jetzt telefoniert die Protagonistin mit einer Freundin/einem Freund, schildert den Verlauf und ihre Meinung zu dem Treffen. Wir hören nur, was sie sagt, die Aussagen ihres Gegenübers am anderen Ende der Leitung können wir nur aufgrund ihrer Antworten erahnen (was meist gut funktioniert). Trotz ein paar schön-sezierender Stellen und einem guten Gespür für die Sprechweise der Protagonistin wird der Text zuletzt, vor allem durch die „Schlusspointe“ (kaum hat sie aufgelegt, geht sie wieder auf die Dating-App, obwohl sie im Gespräch noch sagt, dass sie mal schaut, wie es mit dem Getroffenen weitergeht), irgendwie verkürzt auf die entlarvende Komponente; was ein bisschen simpel wirkt.

Der Himmel war blau und die Kinder schrien wie am Spieß.

Archaisch, teilweise monströs, wirkt Ralph Tharayils Text „Liebchen“, spielend in den Schweizer Berghöhen; er hat etwas Kosendes und gleichsam Gewalttätiges, pendelt sich gekonnt zwischen diesen Dimensionen ein. Seine Protagonisten sind Kinder, die wild und roh wirken, gefühllos und doch getrieben und auf eigenwillige Weise empfindsam. Im Gegensatz zu vielen anderen Texten aus dieser Anthologie, steigert sich „Liebchen“, obgleich er schon heftig beginnt, immer mehr, spitzt sich, sprachlich und inhaltlich, zu. Eine Lektüre, von der man sich nicht so schnell erholt.

Matthias Emanuel Tonons „Sam“: ein Text über einen Typen, der mir etwas zu rasch zusammengestrickt vorkommt (der Text beginnt irritierend schnell und allzu umfassend mit seiner Charakterisierung) und seinen Freund (Liebhaber, WG-Genossen, Kumpel), den Erzähler, der Krebs hatte und den Sam dann eines Tages verlässt. „Sam“ wirkt im Ganzen wie ein Gericht aus ausgewählten Zutaten, die nicht zueinander passen.

Sehr gelungen finde ich Sarah Wipauers Text über die imaginäre Säuglingskrankheit (bei der Babys in der Brust von Männern heranwachsen, die dann von der Gesellschaft geächtet und in bestimmten Einrichtungen weggesperrt werden, bis sie dann sehr bald an den Wucherungen in ihrer Brust sterben). Er beginnt mit einer neutralen, eher referierenden Einleitung, um dann im Verlauf eine (mögliche) Patientengeschichte zu erzählen. Schön ist dabei nicht nur die Komponente der gesellschaftlichen Fragen, sondern auch die stilistische Ebenmäßigkeit.

In der letzten Geschichte ist es die Flüchtlingskrise, die den Urlaubsalltag eines Pärchens stört. Der wird, im selben Hotel wie jedes Jahr, zwischen Strand, Büffet und Bett verbracht. Bis dann die Körper angetrieben werden. Letztes Jahr waren es vor allem Quallenkörper, die leuchtend rot im Wasser dümpelten, zu hunderten. Jetzt werden zahlreiche Menschenkörper angeschwemmt. Wirklich kümmern tut es die Handtuchurlauber nicht. Armin Wühles Text beunruhigt, ist aber doch etwas einspurig, zu glatt, für meinen Geschmack.

 

Haus für Poesie (Hg.)
25. open mike / Wettbewerb für Junge Literatur. Die 20 Finaltexte
Allitera Verlag
2017 · 14,80 Euro
ISBN:
978-3-96233-008-8

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