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Heimat verhandeln V&R böhlau
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Kritik

Diesem unermesslichen Leid die Hoffnung und die Erinnerung beimengen …

Hamburg

„Es gibt kein Handbuch für Eltern, deren Kind ermordet worden ist. Wir waren gezwungen zwischen Trauer und Freude zu manövrieren. Wir mussten viele Entscheidungen treffen und gleichzeitig versuchen, weiterzuleben.“

Eigentlich will die in Schweden geborene Journalistin Kim Wall am 10. August 2017 nur schnell ein Interview mit dem berüchtigten Raketen- und U-Boot-Konstrukteur Peter Madsen auf seinem U-Boot UC3 Nautilus machen – und in ein paar Stunden wieder zu ihrem Lebensgefährten und den Freund*innen in Kopenhagen stoßen. Doch dann vergehen Stunden, schließlich die ganze Nacht, ohne eine Nachricht von ihr.

Der Lebensgefährte alarmiert die Familie. Kurz darauf wird Madsen aus dem Wasser gefischt. Er behauptet, Kim anderswo abgesetzt und das U-Boot dann versenkt zu haben. Es folgen Stunden voller Bangen und Hoffen. Nach und nach kommt aber die schreckliche Wahrheit ans Licht: Kim Wall ist in dieser Nacht auf dem U-Boot gestorben und sehr wahrscheinlich, aus sexuellen Motiven, grausam misshandelt und ermordet worden.

Was bleibt ist ein unfertiges Leben, eine vielversprechende, jäh unterbrochene Karriere, ein gerade erst am Anbeginn stehendes journalistisches Werk. Ingrid & Joachim Wall, die Eltern der Ermordeten, schrieben dieses Buch vor allem, damit dieses Werk und die Journalistin und Person dahinter der Nachwelt erhalten bleibt, und nicht der Mord, das Spektakel, die Opferrolle ihre Geschichte und ihr Gedenken dominieren und ihr Bild für immer bestimmen. 

„Wir wollen, dass Kim als die begabte Journalistin und tolle Frau in Erinnerung bleibt, die sie war, und nicht als das Mordopfer, das sie zufällig wurde.“

Das Buch ist also zweierlei: Einerseits Bewältigung und Protokoll des Jahres nach dem Mord, inkl. der posthumen Ehrungen für Kim Walls Werk, der Arbeit an der Stiftung mit ihrem Namen (Kim-Wall-Memorial-Fund, unterstützt die Arbeit an journalistischen Projekten), der persönlichen Momente in der Familie und mit Freund*innen – und, natürlich, des Mordprozesses und der damit einhergehenden medialen Öffentlichkeit.

Auf der anderen Seite ist es eine Biographie von Kim Walls Leben, von den ersten Schritten bis zum Abend des Mordes. Es ist die Geschichte einer aufgeweckten und engagierten Frau, die sich nicht nur für progressive Themen und die Rechte von Minderheiten und Unterdrückten einsetzt, sondern vor Ort recherchieren und hautnah journalistisch arbeiten will. So reist sie etwa auf die Marshall-Inseln – mit dem berühmten Bikini-Atoll –, wo die USA viele ihrer Atombombentests durchführten, nach Sri Lanka, Indien und China und sogar nach Nordkorea. Einige Ausschnitte ihrer Texte & Korrespondenz finden sich auch im Buch.

Neben ihren Reisen und Recherchen gelingt es ihr, sich überall auf der Welt Freund*innen zu machen, wie die Eltern nach ihrem Tod mit einer Mischung aus Trauer und Freude feststellen. Sie studiert in London, an der Sorbonne in Paris und in New York, und plant mit ihrem Lebensgefährten für ein Jahr nach China zu ziehen.

Die Chronik des Gedenk- und Prozessjahres und Kim Walls Biographie werden in den mehr als fünfzig Kapiteln und meist abwechselnd geschildert. Erzählerin ist fast immer die Mutter. Natürlich ist das Buch kein objektives Dokument, was sich auch im Stil bemerkbar macht – viele Formulierungen und Aussagen wiederholen sich, es gibt viele Appelle, viele emotionale Passagen und Momente und immer wieder stößt das Buch an die Grenzen des Sagbaren. Aber es steckt seine ganze Energie unbeirrt, allen emotionalen und ästhetischen Schwierigkeiten zum Trotz, in die Aufgabe, Kim Walls Vermächtnis und Persönlichkeit so hell leuchtend und greifbar wie möglich zu machen.

Das Buch zu lesen fühlt sich wie Anteilnahme an, besser kann ich es nicht beschreiben. Und seine Absicht geht auf, trotz einiger Mängel in der ästhetischen Umsetzung (oder gerade deswegen): Kim Wall wird lebendig, bleibt den Lesenden als Person in Erinnerung, nicht nur als medialer Hype und/oder Mordopfer (ohne, dass die Eltern leugnen, wie wichtig es ist, dennoch immer wieder darauf hinzuweisen, dass Kim auch ermordet wurde, weil sie eine Frau war).

Es ist also kein Buch, das man liest, um sich dem Mordfall oder seinen Themen anzunähern, sich damit auseinanderzusetzen. Es ist ein Buch, in dem man einem Menschen begegnen kann, der bereits tot ist, in dem man lesen und spüren kann, was dieser Mensch anderen Menschen bedeutet hat und was dieser Mensch bewirkt hat mit seinem Leben, mit seiner Präsenz. Eine nicht zu unterschätzende Erfahrung.

Ingrid Wall · Joachim Wall
Kim Wall
Aus dem Schwedischen von Hanna Granz
btb
2019 · 352 Seiten · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-442-75836-4

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