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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Mare mediteranea: blutrot

Hamburg

Lyrik entsteht wie alle Kunst aus einem affektiven Zustand höchster Erregung, nennen wir ihn Betroffenheit. Wenn sich ein Sprachwerk formt, wenn die Zeit für einen Schrei, ein Manifest, eine performance oder auch ein beredtes Schweigen (vor Publikum) gekommen ist, beginnt der Prozess der Entäußerung (Objektivierung). Betroffenheit heißt nicht en passant oder impromtus, heißt nicht „Stoff“, sondern: Ich, das lyrische, das künstlerische Ich, (einstmals: Genius) kann nicht anders, also ist es gezwungen, in diesem besonderen Fall ein Gedicht zu formulieren oder das Konzept eines Gedichtes. Die Anlässe gehen gegen ∞: Ein Gang durch die Krebsbaracke, über die Avenidas, eine transalpine Fahrt mit der Kutsche in das Land, wo die… usf. Von mir aus auch ein Blick aus dem biedermeierlichen Salon vom Chaiselongue auf den Giersch, der anarchisch endlich die spießigen Blumenrabatten überwuchert. Aber ist Gottfried Benns Blick auf die Krebspatienten nicht voyeuristisch? Keineswegs oder jedenfalls nicht nur, denn das sprachliche Kunstwerk ist eine mögliche Reaktion auf die Umstände, das heißt prinzipiell auf die Welt (innen & außen), die die Autorin betrifft.

Vor Lampedusa sank am 23.10.2013 ein Kutter mit 545 Migranten an Bord, 366 kamen nachweislich ums Leben.  Es war damals notwendig, ein Gedicht zu schreiben.

X.13

Pflaumenbaum wird früh gelb heuer.
Ertranken dreihundertundfünfzig1  Menschen vor Lampedusa.
Gebe Lindenhonig in den Tee.
Es regnet stetig.

Lade die Ertrunkenen ein,
Kinder, Frauen und Männer.
Frierend sammeln sie sich vor dem Herd.
Meerwasser rinnt.
Schauen mit leeren Augen ins Feuer.

Das Gedicht ist ein Notat, das in einer morbiden, das Vergehen empfindenden Stimmung (absterbende Blätter) die luxuriöse Lage des lyrischen Ichs (Lindenhonig) angesichts einer fortwährenden “humanitären Katastrophe“ beschreibt, die später sogar den Papst an den Ort des Geschehens fahren ließ. Die 41 Wörter über das Ertrinken von 366 Menschen gelangte am 31.01.2016 in eine kleine Öffentlichkeit,2 ohne unmittelbar wahrnehmbare Folgen. Ein solches Gedicht ist hilflos, ja hoffnungslos. Doch macht es einen Unterschied, ob eine Haltung ausgedrückt wird oder nicht. Für das lyrische Ich und für die Hörer, sei ihre Zahl auch beschränkt. Es ist ein Unterschied, ob das Wort gesagt wurde oder ungesagt bleibt. Ein Gedicht kann ein NEIN gegen unerträgliche, die ethischen und politischen Grundgegebenheiten Europas erschütternden Umstände sein. Sehr individualistisch: Ein stummer Schrei in der Einsiedelei des Ichs. Doch diese Form der Entäußerung ist zunächst ein Mittel der Kunst, der Kontamination durch die unmenschlichen Gegebenheiten unserer Welt zu entgehen. Kontamination heißt Schweigen oder auch, sich ausschließlich mit dem inneren Kontinent zu beschäftigen. Das Gedicht steht für mich, existiert für meine Existenz in der Welt. Allerdings ist der Eingriff, (wenn man den Begriff überhaupt verwenden kann), in die Realität nicht einmal von dem Gewicht eines Staubkorns, denn in der Zeit nach dem Gedicht in den Jahren 2016 und 2017 starben insgesamt 10.000 Migranten im Mittelmeer.3  Es wäre vermessen, mit 41 Wörtern dagegen angehen zu wollen.

Insofern ist das Gedicht unpolitisch, sein Engagement bleibt aber doch nicht ganz folgenlos, denn ich weise nun auf einer zuvörderst der Lyrik gewidmeten Seite im Netz auf die ungemein faktenreiche, in den nordafrikanischen Anrainerstaaten des Mittelmeeres und in den subsaharischen Ausgangsländern gründlich recherchierte Untersuchung des Redakteurs beim deutschen Auslandsrundfunk Jan-Philipp Scholz, geb. 1981, hin. Vor allem wird bei der als sozusagen postpoetische Recherche betriebenen Lektüre bewusst, dass infolge eines unglaublich zynischen und korrupten Verhaltens der politischen Eliten in den Ausgangsländern Afrikas die Mehrheit der Menschen, vor allem der jungen, gut gebildeten, keinerlei Chance auf ein menschenwürdiges Leben hat. Es wären jährlich 20 Millionen neue Arbeitsplätze notwendig, denn die afrikanische Bevölkerung wird sich bis 2050 verdoppeln und dann 2 Milliarden Menschen betragen. Aber anstatt den Aufbau einheimischer Strukturen anzugehen, haben die Eliten der rohstoffreichen afrikanischen Staaten 800 bis 1000 Milliarden US $ im Ausland investiert. Jan-Philipp Scholz zeigt, dass es überwiegend gar nicht die Armen der Ausgangsländer sind, die sich auf die Flucht- und Schleuserrouten nach Norden zur Küste begeben, sondern Angehörige eines sich rudimentär herausbildenden Mittelstandes, der allerdings nicht mit den sozialen Gegebenheiten der hiesigen Angehörigen dieses Standes zu vergleichen ist. Die aus krisenhaften Lagen auswandernden Menschen gelangen mehrheitlich auf den Schleuserrouten durch die Sahara in die Hände mafiöser Organisationen, deren Umsatz 600 bis 800 Millionen US $ per Jahr beträgt. Können die Menschen die „Dienstleistung“ nicht bezahlen, gelangen sie in Zwangsarbeit und Prostitution. Die Organisationen haben ihre Krakenarme bis nach Europa ausgestreckt und kontrollieren die „Vermarktung“ der Menschen bis in unsere Regionen hinein. Jan-Philipp Scholz gibt an, dass eine junge Nigerianerin, die bei der Anwerbung in der Heimat über ihr Geschick getäuscht und in Europa in die Prostitution gezwungen wird, 55.000 € im Jahr einbringt, die Gesamteinnahmen aus der Zwangsprostitution belaufen sich auf 500 Millionen € im Jahr. Während die nach Afrika fließende Entwicklungshilfe Europas 130 Milliarden € per Jahr ausmacht, beträgt der Rückfluss von Kapital nach Europa mit Zinsen, infolge von Steuervermeidung und Rohstoffausbeutung 190 Milliarden €.4

Da von den Menschen, die trotz der unmenschlichen Bedingungen ihres Weges in Europa angekommen sind, jährlich 500 Milliarden € aus ihren Arbeitseinkommen nach Afrika zurückfließen (remittances) haben die Mächtigen der Ausgangsländer in der Regel kein Interesse, irregulär Eingewanderte wieder aufzunehmen. Jan-Philipp Scholz gelingt es darzustellen, dass es mit der brutalen Politik der Abschottung Europas, die das nasse Sterben weiter hinzunehmen bereit ist, keineswegs gelingen wird, eine Besserung der Umstände zu menschlichen und Europa angemessenen Verhältnissen zu erreichen. Er berichtet von seinen Gesprächen mit jungen Männern, die auswandern wollen:

Die Frage, die fast allen auf den Nägeln brennt: Warum heißt es, jeder Mensch habe das Recht, in Europa Schutz zu suchen? Gleichzeitig wird es aber den Menschen quasi unmöglich gemacht, von diesem Recht Gebrauch zu machen. Denn hierfür müssen sie nun einmal europäischen Boden betreten – und das gehe nur auf illegalem Weg, indem man Schleuserdienste zahle und sein Leben riskiere. In anderen Worten: Wie kann sein, dass es ein Recht gibt, das man eigentlich nicht nutzen kann?
Die ehrliche Antwort auf die Frage ist wohl: Weil wir es genauso wollen. Einerseits möchten wir das gute Gefühl haben, dass bei uns grundlegende Rechte, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1953 festgelegt wurden, für alle gelten. Andererseits suchen wir immer neue Mittel und Wege, um von den schönen Ansprüchen an uns selber nicht überfordert zu werden. […] die Menschen (sollen) lieber möglichst geräuschlos von unseren Grenzen ferngehalten werden. Das mag dem einen oder anderen heuchlerisch vorkommen, aber es scheint der einfachere Weg zu sein. Aus den Augen, aus dem Sinn – und aus der öffentlichen Debatte.

Nach der Lektüre der Untersuchung ist deutlich, dass es unzutreffend ist, von einer europäischen oder deutschen Flüchtlingskrise zu sprechen, es sind die auswandernden Menschen, die sich sowohl in ihren Ländern vor ihrem Aufbruch als auch auf ihren Wegen und dann in den Ankunftsländern in einer kaum vorstellbaren existentiellen Krise befinden.

Jan-Philipp Scholz beschreibt und belegt mit kaum zu ertragenden Fotos die unmenschlichen Gefängnisse für Migranten in Libyen, in die auch die vor dem Ertrinken vor der libyschen Küste von der lybischen Küstenwache geretteten gebracht werden. Wie aktuell sein Bericht ist, zeigt eine Zeitungsmeldung vom 4. Juni 2019:

Menschenrechtsanwälte haben die EU wegen ihres Umgangs mit der Flüchtlingskrise beim Internationalen Strafgerichtshof angezeigt. Mehr als 40.000 Menschen seien im Mittelmeer abgefangen und in Haft- und Folterlager in Libyen gebracht worden, (…). Die Missstände spielten sich unter der Migrationspolitik der EU ab, die damit für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich sei. Die EU würde wissentlich Todesfälle von Migranten auf dem Land- und Seeweg sowie Vergewaltigungen und Folter durch eine libysche Küstenwache dulden. Der Sprecher der deutschen Bundesregierung, Steffen Seibert, wies am Montag (03.06.2019) die Vorwürfe der Anwälte zurück.5

Die Nachrichtenlage6 zeigt: Die Umstände gehören zu unserer Welt, es ist auch die Welt der Lyrikerinnen. Daraus ergibt sich die poetologische Frage, wie genau diese Welt in der Lyrik vorkommt, die im Grunde die Frage nach dem Engagement der Literatur heute ist. Meine noch nicht sorgfältig abgesicherte Meinung ist, dass die angesprochenen barbarischen Zustände am Rande unserer freiheitlichen, liberalen, das Individuum schützenden und lyrisch feiernden Welt kaum im Medium der Lyrik zum Gegenstand werden. Die Barbarei tut sich in einer dunklen Zone am Rande auf und weitet sich aus. Eine dieser schleichenden Ausweitungen ist das aktuell beschlossene Gesetz zur Verschärfung der Bedingungen für sogenannte „Rückzuführende“, also Menschen, die unseres freiheitlichen, liberalen, der Humanität verpflichtenden Landes verwiesen werden, obwohl sie in der Regel nichts anderes anstreben als ein Leben, wie du und ich es hier selbstbestimmt führen können. Bald können Einzelpersonen und Familien mit Kindern in Strafanstalten in „Ausreisegewahrsam“ genommen werden. Justizvollzugsanstalten gehören faktisch zum dunklen Rand unserer Gesellschaft, sie sind eine Art exterritoriales Gebiet, das die Mehrheit der Bevölkerung niemals betritt. Auf die „Dunkelzone“ am Rande wirft das Buch von Jan-Philipp Scholz helles Licht, es ist ihm eine nachhaltigere Wirkung zu wünschen, als einem Gedicht, das nur ein stummer Schrei von 41 Wörtern aus der Eremitage ist.

 

  • 1. Die Zahl der Umgekommen war zum Zeitpunkt der Formulierung noch nicht genau bekannt.
  • 2. Am 31. Januar 2016 in dem autorencafé der Werkstatt Kassel anlässlich des 2. Poet`s Day in Kassel
  • 3. Nach Angaben der UN sind in diesem Jahr bislang 543 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Taz, 11.06.2019, S. 05
  • 4. Diese Angaben hätte der Autor zur weiterführenden Erklärung weiter aufschlüsseln und genau erklären sollen.
  • 5. Taz, Berlin, Dienstag, 4. Juni, 2019, S. 10
  • 6. Am Tag, an dem dieser Text entstand, besuchte der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche, Herr Bedford-Strohm, die jüngst vom Innenminister Italiens inkriminierte Besatzung der MS Seawatch 3 in einem sizilianischen Hafen. Der Bürgermeister von Palermo nannte bei der Gelegenheit Lybien ein „KZ unter freiem Himmel“ für die Migrantinnen. Über Erfahrungen auf der Seawatch berichtet Kevin Culina in einem doppelseitigen Artikel in der Taz, 11.06.2019, S. 04 f.
Jan-Philipp Scholz
Menschenhandel, Migrationsbusiness und moderne Sklaverei / Menschen gefangen zwischen afrikanischen Herkunftsländern und europäischen Staaten
Brandes & Apsel
2019 · 188 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
9783955582517

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