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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Leidenschaft als würdige Erlösung aus der Sterblichkeit

Der tschechische Künstler Jiří Kolář wartet mit einem „Monatskalender der Poesie“ auf und hält nebst einer „Gebrauchsanweisung“ oder „Geschichtszwölferlei“ sprudelnde Bilderwelten bereit
Hamburg

Jiří Kolář (1914-2002) zählt zu den bekanntesten Bildenden Künstlern Tschechiens und hat als ungewöhnlich produktiver Graphiker und Maler auf sich aufmerksam gemacht.

Dabei hatte Jiří Kolář als junger Mann neben, Übersetzungen aus dem Englischen und angefertigten Collagen auch Gedichte geschrieben und 1941 mit dem Band „Taufschein“ debütiert. Bereits während der 1930er Jahre hatte ihn seine Rezeption künstlerischer Strömungen wie etwa Dada, Kubismus oder Surrealismus ganz neue Wege in Wahrnehmung und künstlerischer Verarbeitung erschlossen. Seine weiteren Textsammlungen waren zumeist der stalinistischen Zensur in seinem Land zum Opfer gefallen und lediglich in maschinengetippter Form verbreitet.

Im Gedicht „Monatskalender der Poesie“ lassen bereits die ersten Verse exemplarisch erahnen, warum seine Form des dichterischen Ausdrucks von den Machthabern so vehement abgelehnt wurden:

„Wer sich am ersten des monats auf das gedichteschreiben einläßt / darf den kopf nicht verlieren / sonst erkennt das geheimnis seine leidenschaft als würdige erlösung aus der sterblichkeit nicht an / und wird sich nur mit dem gedichtkorpus bescheiden müssen“.

Charakteristisch ist hier das Zusammengehen einer formalen Reihung von Ratschlägen mit explosionsartigen Anreicherungen von Assoziationen und Bildern. Jiří Kolářs Phantasie wird von der ihn umgebenden Wirklichkeit inspiriert und zugleich in atemberaubender Weise überhöht. Dabei entstehen ungeahnte Zugänge zu einer scheinbar prosaischen Gegenwart. Kolářs phantastische Kritik der bestehenden Verhältnisse reicht über rein politische Aspekte weit hinaus und rührt in die existentielle Grundbefindlichkeit des zeitgenössischen Menschen hinein.

Dieser „Monatskalender der Poesie“ besteht aus einunddreißig Mahnungen, welche von dem Dichter zu beherzigen sind. Aufgeteilt sind diese Ratschläge auf einunddreißig Tage eines Monats. Zum Beispiel

„am sechzehnten / sollte er wissen ein gedicht ist weder edelstein noch orchidee / den edelstein kann auch der dummkopf finden / die orchidee kann auch der henker züchten“.

Frei von hohlem Pathos und angereichert von Träumen aber auch einer unverhohlenen Alltagssprache steht im Mittelpunkt von Jiří Kolářs Schaffen die Souveränität einer Poesie, die niemandem Untertan ist. Damit gerät das souveräne Gedicht zur Konkurrenz jener weltanschaulichen Doktrin, die in der Kulturpolitik der damaligen ČSSR im „sozialistischen Realismus“ verortet war. Instinktiv hatten die beflissenen Aktivisten der Menschheitsrettung diese Herausforderung gewittert, was dazu führte, daß Jiří Kolář in den Jahren 1952 und 1953 eine neunmonatige Haft zu verbüßen hatte.

Zensur und Veröffentlichungsverbote führten schließlich dazu, daß Kolář sich im Laufe der frühen 1960er Jahre zunehmend der bildenden Kunst zuwandte. Unter dem Begriff „Medienwechsel im Schaffen Jiří Kolářs“ hat Astrid Winter diesen Wandel in Jiří Kolářs künstlerischer Ausdrucksform in ihrer umfassenden Porträtstudie „Metamorphosen des Wortes“ (2006) zusammengefasst.

In adäquater Weise zu seiner Dichtkunst waren Kolářs vielfältigen graphischen Expressionen einer belebten Welt entnommen. Figuren, Objekte oder Schmetterlinge vermengten sich mit bunten Etiketten, Knöpfen oder Werkzeugen zu randvollen Collagen. Ein Verfahren, welches auch bereits seinen Gedichten „Krankheit der Poesie“ oder „Gebrauchsanweisung“ zugrunde zu liegen scheint. In seinem Langgedicht „Klage über ein unglückliches Gedicht“ entfaltet sich der Gedanke poetischer Inspiration bis hin in kosmische Dimensionen, einschließlich einer angedeuteten neuen Schöpfung.

Durch und durch verwurzelt mit der tschechischen Sprache und Kultur war es Kolář in den bleiernen Jahren der sogenannten „Normalisierung“ immer schwerer geworden, in seiner Heimat leben und arbeiten zu können. Nach einem Studienaufenthalt in Westberlin wurde Jiří Kolář Ende der 1970er Jahre die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft aberkannt. Bis 1997 hatte er im Pariser Exil gelebt, bis er, bereits erkrankt, in seine Heimat zurückkehrte. Als Kolář im August 2002 hochbetagt in Prag verstorben war, berichtete der damalige Präsident Václav Havel von seinen frühen Jahren, an denen er Jiří Kolář kennenlernen durfte. Havel gehörte in den 1960er Jahren zu jenen Nachwuchsdichtern, die von Kolář ermutigt und unterstützt worden waren. Bereits in den 1950er Jahren war Kolářs Stammtisch im Café Slavia gegenüber dem Nationaltheater ein legendärer Geheimtipp für unangepasste Intellektuelle in Prag. Den repressiven Umständen im Lande zum Trotz hatten die Diskussionen und Gespräche im Umfeld Jiří Kolářs den Anschluß an eine freie Welt mit freiem Denken aufrechterhalten.

In überaus gelungener Weise hat der Herausgeber und Übersetzer Eduard Schreiber ein weiteres Mal der beeindruckenden Aktualität tschechischer Poesie der Moderne Ausdruck verschafft. Das deutsche Lesepublikum verdankt seinem Engagement bereits Ausgaben samt vorzüglicher Übersetzung von Autoren wie etwa Emil Juliš, František Listopad, Ludvík Kundera oder Milada Součková.

Jiří Kolář · Eduard Schreiber (Hg.)
Gebrauchsanweisung – Návod k upotřebení
AUS DEM TSCHECHISCHEN VON EDUARD SCHREIBER
Arco Verlag
2019 · 100 Seiten · 11,00 Euro
ISBN:
978-3-96587-000-0

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