12 g Sentimentalität
Sehen wir von dem Promo-Zettel zu Jo Franks "Snacks" ab und orientieren uns nur daran, was uns das kleinformatige Büchlein über sich selbst verrät, dann werden wir beim ersten Aufschlagen annehmen, dass wir uns einer Erzählung über das Behaustsein in der Sprache gegenübersehen, und zwar: in der eigenen Sprache, zwischen den Sprachsystemen des Englischen und des Deutschen; um das Zuhausesein genau in der Spannung zwischen der biographischen Aufladung der Vokabeln "home" und "Zuhause". Wir glauben nämlich, eine formal gegebenenfalls etwas anspruchsvollere Kindheitserzählung mit einer gewitzten Rahmenkonstruktion zu lesen. Dieser Rahmen geht so: Auf der Innentitelseite unten stehen zwei leicht zu übersehende Sätze –
"Ausschließlich Sprache", sagte er. "Mehr gibt es nicht".1
– und das ganze restliche Buch müssen wir uns dann als die Fußnote denken, auf welche diese hochgestellte 1 verweist. Wir lesen also, denken wir, eine sehr elaborierte Meditation darüber, dass die Sprache, die es im Sinne jener zwei Sätze "ausschließlich" "gibt", immer jemandes Sprache ist – parole und nicht langue – eine Meditation also über ein bestimmtes zweisprachiges, zwischensprachliches Großwerden. Die "Fußnote" beginnt dann auf der nächsten Seite so:
Und sage ich sprache, meine ich meine sprache. meine ich eine sprache, die nach cadbury's chocolate schmeckt. sage ich sprache, meine ich cricket-bälle and a model tardisI on my desk, linger at the word desk, when i say language, meine ich eine sprache, die is bigger on the inside.
Und wenn es das wäre, also: Wenn "Snacks" im Wesentlichen so weiterginge, wäre das so plausibel wie, naja, unoriginell (Cadbury's, Cricket und die TARDIS aus "Doctor Who" sind als hooks einer Kindheit in England nicht eben überraschend). Aber die römische "I" über dem Wort "tardis" bereitet uns schon drauf vor: Wir sind bloß auf dem ersten "Untergeschoß" jenes Fußnotenmyzels, das dieses Buch ist. Diese erste Ebene kreist, wenn wir sie für sich lesen – was schnell geht, so viel Text ist das nicht – immer wieder um zwei Wiederholungen –
when i say language
und
meine ich meine sprache
– und elaboriert sie langsam in Richtung einer verkörperten Sprache, einer Sprache in Körpern. Dieser Haupttext – wenn wir ihn so lesen wollen – macht Andeutungen, Sprachspiele usw. im Sinne der etwas elaborierteren zeitgenössischen Literatur, und ist, wie gesagt, dabei nicht rasend originell. Die Fußnoten in ihm dagegen … sagen wir so: Die eigentliche parole, in der Franks Textsubjekt zuhause scheint, ist nicht die deutsche oder englische – es ist vielmehr die parole der geisteswissenschaftlichen Zitierweise. Das macht "Snacks" interessant.
Man kann, was auf den verschiedenen Ebenen des Buchs geschieht, als einen Kurzroman lesen oder als explizit autobiographische Auffaltungen dessen, was unter der Oberfläche der diversen Stilmittel eines "literarischen Texts" (wie gesagt: Untergeschoß 1) geschieht; so oder so geht es auf allen Ebenen um Fragen von Verständigung, davon, was je "eigentlich gemeint" sei …
… und man kann die Art, wie uns dieser Kurzroman serviert wird – auf ca. sieben ineinander gestapelten Fußnoten-Ebenen mit verschiedenen Funktionen fürs Gesamtgebilde – als Versuch einer Abbildung der Hierarchien von Bewusstsein und Unterbewusstsein verstehen; als Serviervorschlag zu der Frage: Inwiefern steckt in einigen wenigen Sätzen einer reichlich abstrakten Formulierung, die ich vorderhand mache, meine ganze Biographie? Welche multipel voneinander abhängigen Funktionen von Gedächtnis und Zeug-Verarbeitung in meinem "Geist" führen zu gerade jener Formulierung, gerade jenem Gedanken?
Dazu gehört dann auch der Umstand, dass das vorliegende Gebilde nicht mehr ohne weiteres linear lesbar ist. Wenn ich es linear lesen will – mich jeder Fußnote sofort widme, wo sie auftaucht, als wäre ich Super Mario im Computerspiel und die Fußnoten wären Kanäle in Bonus-Kammern – verliere ich rasch den Überblick. Allerhand stark aufgeladene Handlung zwischen Betrügen-und-geschieden-Werden, Todesängsten, Kindheiten … poppen zwischen dem zweiten und fünften Untergeschoß von "Snacks" auf; stets zu wissen, auf welcher Ebene ich gerade in welcher Handlung bin und mich in Bezug auf welches Theoriefragment verhalte, überfordert einigermaßen. Die andere Option ist, Schicht für Schicht sozusagen abtragend zu lesen: Erst den "Oberflächentext" mit "meine ich meine Sprache"; dann die Ebene mit der Bisexualität des Sprechers, seinen Zwangsstörungen und seiner ehelichen Untreue; dann vermischte andere Stories und Anspielungsschubladen … Keine der beiden Lektüreweisen ist völlig befriedigend, was uns auf unbefriedigende Standards der Organisation von Denken, Wissen, "schöner Literatur" verweisen will. Bleibt die Frage: Wie sehr ist dieser Eindruck das Ergebnis einer bloßen Setzung von Seiten des Autors, die auch anders – leserfreundlicher – machbar gewesen wäre, und wie sehr liegt da das genuine Ergebnis eines literarischen Experiments mit Sprach- und Bewusstseinsebenen vor?
"Snacks" ist, zusammengefasst, kurzweilig, knapp und nicht ganz anspruchslos; die Handlung und sonstige inhaltliche Innenausstattung dieses vielgeschossigen Bunkersystems mögen ein wenig einfallslos sein, aber um sie geht es uns auch nicht, wenn wir das Ganze für Konstruktion und Statik würdigen.
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