Dystopien
1516 hat Thomas Morus (1478-1535) sein Werk „Utopia“ veröffentlicht. Man könnte dieses Fabulieren „Über die beste Staatsverfassung und über die neue Insel Utopia“, als frühes Beispiel von Science-Fiction bezeichnen. Darin entwirft der englische Staatsmann und Autor die Gesellschaft auf der Insel Utopia als Gegenmodell zum England seiner Zeit, das geprägt war von sozialer Ungleichheit, dem Elend der Bauern und der Ausbeutung durch den Schafswollkapitalismus. Der Humanist Morus entwirft mit dem Idealstaat Utopia eine zwangskollektive Einheits(agrar)republik mit patriarchaler Ordnung, die Gleichheit und Toleranz, Schul- bzw. Arbeitspflicht für alle sowie gemeinschaftlichen Besitz anstrebte.
Rund 500 Jahre nach Morus legt die Lyrikerin Judith Hennemann mit ihrem zweiten Gedichtband „all die goldenen Hunde“ eine völlig andere Zukunftsvision vor.
Innen: Hirnströme, Herzschlag, Muskel-
spannung, außen: unwesentliche Bewegungsradien
im Lasernetz zwischen den Bettpfosten
Sie entwirft das Modell einer Gesellschaft, die nicht mehr Utopie genannt werden kann, sondern als Dystopie bezeichnet werden muss. Waren es bei Morus die Weltmeere, die ungeheure Weiten bedeuteten, so versprechen dies heute das Weltall und unser Streben nach Mond, Mars und fernen Galaxien, andererseits die unendlich scheinenden Möglichkeiten der Digitalisierung und virtueller Welten. Lebte man in Utopia in Großfamilien und versuchte, den sozialen Zusammenhalt fair zu organisieren, so bleibt bei Hennemann die Vereinzelung des Individuums, eines Individuums allerdings, das jeder Individualität beraubt ist. Der Mensch des 20. Jahrhunderts hat selbst seine biologische Weiterentwicklung in die Hand genommen. Der Homo sapiens des 21. Jahrhunderts verfeinert nun, angetrieben durch Digitalisierung und globale Vernetzung, die Methoden und drängt danach, die Gesetze und damit das Tempo der Evolution zu steuern – Themenfelder hierzu sind etwa Genmanipulation, Robotik oder künstliche Intelligenzen.
Wie verändern uns nun die neuen Möglichkeiten, welche Entwicklungen scheinen möglich? Heute trägt man freiwillig mobile Messgeräte am Körper oder sie sind in die Bekleidung integriert. Diese Wearables, z.B. Smartphones oder Datenbrillen, sammeln Daten, die aus der Umgebung oder vom Benutzer selbst stammen und etwa dessen Herzfrequenz aufzeichnen, verarbeiten sie digital und stellen sie für Nutzer*innen ad hoc bereit. Die weitere Richtung der Entwicklung zeigt Hennemann mit einem Zitat von Liz Dickinson, CEO des Wearable-Herstellers Mio Global:
Die heutigen Wearables sind lediglich eine Übergangs-Technologie. Das ultimative Ziel ist die vollständige Integration und Implantation in den menschlichen Körper.
Zukunftsvision dieser Industrie sind Hybridwesen, in denen lebendiger Organismus und Maschine zu einer Einheit verschmelzen. Es geht nicht um Hilfsmittel, die Beeinträchtigungen wiederherstellen, nicht um Prothesen, die Organe ersetzen oder Organfunktionen übernehmen, wie Arm- und Beinprothesen, Herzschrittmacher oder Cochlea-Implantate (Hörprothesen), sondern um Experimente mit künstlichen Bauteilen im Körper selbst, durch die dieser optimiert und zum Teil entbiologisiert wird, indem er neue, technische Fähigkeiten und Funktionen bekommt. Womit auch der Rahmen des Buchs umspannt ist, in dessen Zentrum eine Variation von Grenzüberschreitungen steht. Judith Hennemann blickt weit voraus in diese angekündigte Zukunft und fokussiert ihren Blick auf das Verschwimmen von Grenzen zwischen Mensch und Maschine. Kann diese Symbiose gelingen, welche Vorteile generiert man und welchen Preis ist man bereit, dafür zu zahlen? In immer neuen Anläufen geht sie in ihren Gedichten Fragen nach, die aus dem Transhumanismus resultieren: Wie fühlt es sich an, ein Cyborg zu sein? Fühlt ein Cyborg denn überhaupt etwas? Wie nimmt dieses Hybridwesen den eigenen Körper, dessen Begrenzungen und Funktionen wahr? Wie steht es mit der Ratio, wer denkt wie in diesem Cyborg, das menschliche Hirn oder ein Algorithmus? Wann beginnt körperloses Denken? Was davon ist bloß Traumhaftes, was Phantasie und was Wirklichkeit? Wie geht Erinnern, wie das Verstehen von Cyborg zu Cyborg?
Um es konkret zu sagen: Ich frage in meiner Sprache, wieso du mich nicht verstehst.
Dies ist keine Frage, sondern eine Feststellung, die mit einem Punkt endet. Nichts daran ist konkret, die Ankündigung, etwas „konkret“ zu sagen, bleibt hohle Phrase. Es kann gar nicht zu einem Akt wie Verstehen oder Sagen kommen, wenn man sich selbst noch nicht versteht, da die alten Worte unbrauchbar geworden, neue noch nicht etabliert sind. Denn wie drückt sich solch ein Mischwesen mit seiner „Präzision der Sprachlosigkeit“ aus, wie generiert es die eigene Ausdrucksform und wie integriert es diese dann in sich verändernde Sprachen? Hat menschliche Sprache dann überhaupt noch Bedeutung und wenn ja welche und wofür?
„Nicht jede Geschichte besteht aus Begriffen“, heißt es einmal, an anderer Stelle „Kein Datum, kein Maß, keine / Story.“ Aber wie geht erzählen dann, vielleicht so?
Ich habe die Handlung zusammengenäht, Bild für Bild.
Exakte Stiche, feine Naht, genau wie das Ticken.
Im Morgengrauen breite ich sie aus, vereinzelte Pixel
lösen sich, erlöschen. Lege sie um meine Schultern,
eine leuchtende Haut, eine lebende Decke.
Es sind wechselnde Spielarten des Ichs artifizieller Wesen, deren tastendes Suchen und von ihnen als richtig angenommenes Empfinden, die Hennemann zur Sprache bringt. Manchmal wenden sie sich an ein „Du“, selten werden sie zu einem „Wir“ voneinander deutlich separierter Ichs. Diese Ichs sind entfremdet, erinnern Splitter von Ich-Inhalten, sind mal nüchtern, analysierend, mal verunsichert grübelnd, mal verloren. Sie rufen falsch kombinierte Versatzstücke ehemaligen, nun unbrauchbaren Wissens auf und sind sich ihrer Überwachung in einer Laborsituation zum Teil bewusst. Es ist dies eine Art science in progress, der wir beiwohnen, denn der Prozess der Cyborgisierung ist nicht abgeschlossen. Was steht am Ende der Entwicklung, das Ausmerzen jeder Biologie und damit der perfekte humanoide Roboter/Androide? Hennemann weiß dies mit trockenem Humor zu kommentieren:
... Szenario zwei: Wären wir endlich digital,
würden wir nicht verwesen, sondern verrechnet werden.
Der Blick der Lyrikerin ist kritisch, ihre Haltung zu solchen Experimenten am Menschen schillert durch. Sie lässt uns Vers für Vers die Schattenseiten menschlicher Transformation und technisch ermöglichter Selbstentgrenzung spüren und eventuelle Folgen nachvollziehen. Die Notwendigkeit, angesichts solcher Dystopien ethische und juristische Grenzen zu diskutieren, spricht sie allerdings nicht an, was ob der Komplexität ihres Eingehens auf das Thema schade ist. Hennemann rundet ihre poetische Erkundung mit dem Aufrufen anderer Grenzüberschreitungen ab, etwa wenn sie im Gedicht „Sputnik 2“ an den sowjetischen Forschungssatelliten erinnert, mit dem die Hündin Laika als erstes Lebewesen in eine Umlaufbahn um die Erde gebracht und der Forschung geopfert wurde. In „Laterne mit Signalblick“ zeigt sie eine umgekehrte Grenzüberschreitung, wenn in der technischen Darstellung der Funktionsweise von Eisenbahnweichen plötzlich mit „Herzstücklücke“ und „Herzstückspitze“ biologieähnliche Begriffe verwendet werden. Hennemann spricht zudem die Fehleranfälligkeit von Experimenten an sowie die Unzuverlässlichkeit biometrischer Daten, weil diese, wie im Gedicht „Minuzien“ verhandelt, gehackt und gefälscht werden können. Und die Lyrikerin tippt das Wappnen gegen die Gefahr eines Cyberkriegs an. Doch letztgenannte Texte sind poetische Randbemerkungen in einem Buch, das angesichts exponentiell wachsender technischer Möglichkeiten nichts weniger als die Freiheit des Individuums und jene der Wissenschaft im 21. Jahrhundert zum Thema macht. Zwischen die Zeilen stellt Hennemann die Frage nach der Verantwortung. Sie tut dies alles in einer nüchternen, vielschichtigen und subtilen Sprache, die selten ins Banale abrutscht und durchsetzt ist mit technoiden Fachtermini und -verweisen. Ein ausführlicheres Glossar als jene paar, dem Inhaltsverzeichnis hinzugefügten Bemerkungen, die über Einflüsse und Ausgangspunkte mancher Texte Auskunft geben, wäre für Unkundigere wie mich allerdings hilfreich.
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