Anzeige
Komm! Ins Offene haus für poesie
x
Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Der dritte Aufguss

Julia Kissinas Anthologie russischer Gegenwartsliteratur
Hamburg

Große, kantige Buchstaben in Schwarz und Weiß, die auf einem leuchtend roten Hintergrund eine schwarze Revolution ankündigen, eine „neue Welle“ gar. Reißerisch und catchy ist der Schutzumschlag der von Julia Kissina herausgegebenen Anthologie mit russischen Autorinnen und Autoren, die „zum antirealistischen Unterstrom“ der Gegenwartsliteratur ihres Landes gehören. Unter der Schutzfolie riecht es ein wenig nach Baader-Meinhof-Komplex; nach einer Literatur, die, hundert Jahre nach der Revolution, endlich einmal wieder mit der Faust auf den Tisch haut. Hinterm Schutzumschlag findet sich aber vor allem sehr viel Prätention, Ekel- und Gewaltpornografie. Texte, die in ihrer undergroundigen Attitüde oft schocken (nicht schockieren) wollen, vor allem aber den Anschein von „Gemachtheit“ hinterlassen. Das liegt mitunter daran, dass die von Kissina in ihrem schmalen Nachwort als „Dritte Avantgarde“ bezeichneten Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ihren Texten eher den dritten Aufguss der Post- bzw. fantastischen Moderne servieren.

„Warum Dritte Avantgarde?

Die Erste russische Avantgarde, zu deren bedeutendsten Vertretern Majakowski, Rodtschenko, Eisenstein und andere zählen, entstand vor dem Hintergrund der Oktoberrevolution von 1917. Sie initiierte eine Umwälzung der Kultur, eine fundamentale Veränderung der künstlerischen Tätigkeit in allen Bereichen.

Die Zweite Avantgarde verbindet man herkömmlicherweise mit der Tauwetter-Periode unter Chruschtschow, die 1956 begann.

Auch die Dritte Avantgarde entsteht vor dem Hintergrund politischer Ereignisse – des Zerfalls der Sowjetunion, in dessen Folge sich die Landkarte Europas gründlich veränderte. Diese Dritte Avantgarde setzt sich fort bis auf den heutigen Tag: Sie ist dunkel, komisch, karikaturistisch, feinsinnig und komplex.“

Überspannt und hysterisch, mit Knalleffekten aufgeladen und somit langweilig, trifft es eher. Warum diese harte Wortwahl? Weil Kissina, die sich „Goodbye Dostojewski“ auf die Revolutionsfahnen geschrieben hat, mit dieser Anthologie zwei kulturelle Paradigmen überwunden wissen will: den Sozialismus und Dostojewski.

„Erster evoziert Langeweile, Letzteres [sic] Hysterie und Psychiatrie. Hoffen wir, dass die Texte dieser Sammlung beidem aus dem Weg gehen.“

Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber sie stirbt. Und nicht einmal der mittlerweile auch in Deutschland – sehr zurecht – erfolgreiche Vladimir Sorokin kann daran etwas ändern. Sorokin, der mit den wahnsinnig intensiven Bücher Der Schneesturm und Telluria auf ganzer Linie überzeugen konnte, hat für diese Anthologie sicher nicht seinen besten Text gegeben. Mit Asche liefert er vielmehr den eingangs angesprochenen Gewaltporno, der nicht schockt, sondern nur ekelt und über den Exzess zweier massiger „Schwärkämpfer“ [sic] seine Story komplett aus den Augen verliert. Ein Text, über den man sich ärgern kann, der zudem aber auch ein schales Licht auf das Selbstverständnis der Anthologie wirft.

 

Die Dritte Avantgarde sei wie die ersten beiden aus politischen Umständen entstanden. Das Buch, das diese repräsentiert, zeige aber ein „Russland ohne Putin und seine Helden“, heißt es im Nachwort weiter. Wenn Sorokin in seinem Text aber große nationale Sportwettkämpfe von einem größenwahnsinnigen Präsidenten in bester Populisten-, Nationalisten-, Chauvinistenmanier eröffnen lässt, fällt es schwer zu glauben, dass sich darin nicht ein „karikaturistischer“ Seitenhieb des Kreml-Kritikers Sorokin verbirgt.

Abgesehen davon hat Kissina mit ihrem Nachwort Recht. Das Buch hat nichts zu tun „mit der Vorstellung von einer 'russischen Seele'“. Vom Russland der Gegenwart erfährt man in diesen Texten auch folglich nichts. Sinnbildlich für das ganze Buch steht ein Satz aus Alexej Parschtschikows Das Pferd:

„Anatomisches Theater! Wer solch einen Haufen von unzusammenhängenden Körperteilen erblickt, wird auf der Stelle beginnen an Gott zu glauben.“

Doch! Das orthodoxe Christentum (und damit allerhand Beschreiben, Nachdenken, Inszenieren von Tod) bricht in den Geschichten immer wieder durch. In Artur Aristakisjans Ein flüchtiger Mensch etwa, in Andrej Monastyrskis Der atheistische Spion oder auch in Juri Mamlejews Sprung in den Sarg. Letztere ist im Übrigen eine der wenigen interessanten Stories der Sammlung, da hier nicht nur ein kleinhäuslerisches Milieu atmosphärisch dicht erzählt wird, sondern die Figuren, die bei  Mamlejews Kolleginnen und Kollegen zumeist Typen, um nicht zu sagen Schablonen bleiben, echte Menschen werden. So kann man als Leser hier ausnahmsweise einmal empathisch an emotionalen, wenn auch absurden Personengefügen teilhaben.

Das größte Ärgernis dieses Bandes ist jedoch Walerie Nugatows Das Leben Franz Kafkas. Ein Text, so schal wie das darin beschriebene Leben eines in die Jahre gekommenen Nationalhelden der Literatur. Auch nach zweimaligem Lesen finden sich keine Anzeichen dafür, dass die Langeweile des Erzählens als Verfahren den Inhalt des Textes spiegeln oder sonst irgendwie unterstützen soll. Man erfährt in dieser Geschichte nichts, als dass es 1938 Frühling in Prag wurde und Franz Kafka, der von seiner Frau Frühstück bekommt, Tabak aber selbst kaufen geht und von seinem Sohn besucht wird, zu spät zu einer Lesung kommt. SPOILER ALERT! Dann hetzt er zum Veranstaltungssaal und sieht dort sich selbst bzw. seinen Doppelgänger die Lesung absolvieren. Ende eines sprachlich spröden, inhaltlich übergriffigen Textchens, das ausschließlich dazu dient, eine biedermeierliche Witzfigur aus Kafka zu machen. Das ist keine Majestätsbeleidigung. Das kann man machen. Nur – wozu?

Alles in allem ist man froh, dass sich neben Mamlejew noch ein bis zwei weitere gute Texte in dieser Anthologie finden lassen. Die Reise des Lukas von Wassili Kondratjew etwa, die Geschichte einer Zugreise, die zur Sinnesreise wird, in der Zeit und Raum sich verschieben. Auch Pawel Pepperstein Das Menschenfresser-Flugzeug hat trotz seines überaus reißerischen Titels einigen Reiz im Erzählen überblendeter Zeit- und Handlungsebenen.

Und Schluss. Mit diesem Buch. Nicht aber mit der russischen Gegenwartsliteratur. Man muss sich weigern zu glauben, dass diese so blass, selbstverliebt und nichtssagend ist wie die Texte in Revolution Noir. Bis man sich vom Gegenteil überzeugt, bleibt der Eindruck, dass die Dritte Avantgarde einhundert Jahre nach der Revolution keiner Welle, sondern einer geschminkten Mumie hinter Glas gleicht.

 

Fakten zur Anthologie russischer Gegenwartsliteratur:
1 Herausgeberin
15 Autoren (11 männlich, 4 weiblich)
5 Autoren leider bereits verstorben
Anzahl der nach 1966 geborenen Autor*innen: 3

Julia Kissina
Revolution Noir - Autoren der russischen »neuen Welle«
Suhrkamp
2017 · 299 Seiten · 24,00 Euro
ISBN:
978-3-518-42766-8

Fixpoetry 2017
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge