Polyphone Glanznummer
Von vergeblicher, versuchter, gelingender und gelungener Orientierung sprechen viele Texte im aktuellen Heft Nr. 88 der renommierten Literatur- und Kunstzeitschrift „Ostragehege“. Damit greift sie ein Metathema von Literatur insgesamt auf, das umso mehr als dezente Klammer fungiert als auch die Bilder der Freitaler Künstlerin Antje Menzel, die im Heft vorgestellt werden, sich in diesem Kontext verstehen lassen. Dennoch hat die Leserschaft es nicht mit einem Themenheft zu tun: der Eindruck, dass es vorrangig um die vielfältigen Wege von Individuen in ihren jeweiligen Welten geht, ergibt sich eher aus den vollkommen gegensätzlichen Ansatzpunkten und poetischen Techniken der Beitragenden.
So startet das Heft eher noch etwas zögerlich mit Tom Schulz' „Siracusa – ein Tag im Leben“, welches Migrationsschicksale und Touristenignoranz, Dichtung und Historie, die schrullige Nachbarschaft und Zitate von Beatles-Songs ineinander zu weben sucht und dessen Protagonist auf dieser Folie mitunter recht gallig seine Befindlichkeiten reflektiert. Danach stellt Heinz Weissflog Antje Menzel vor, deren grafische Arbeiten den Betrachtenden einen sehr persönlichen Zugang zur Orientierung im Bildraum vermitteln, der viel mit poetischem Schaffen ganz allgemein zu tun hat:
„Das Collagieren fördert das meditative Moment. Immer wieder sucht sie für die Versatzstücke die besten Konstellationen. Komposition ist ihre große Stärke, die sie durch das probierende Legen schult, was ihr auch in der Grafik zugutekommt.“
Wovon die Leserschaft sich an insgesamt elf über das Heft verteilten Arbeiten Menzels überzeugen kann, die aus der Spannung von bizarren und spielerischen Elementen leben und gleichzeitig eine durchdachte und beeindruckende Formstrenge an den Tag legen.
Die folgenden „Kindergedichte“ von Francesco Micieli sind gelungene poetische Unternehmungen, die eine reflektierte Erwachsenensicht mit der unmittelbaren kindlichen Orientierungsfähigkeit verknüpfen, wobei die erstere nur so etwas wie einen dienenden Rahmen für die Gedichte abgibt:
„Gott ist ein Plüschtier / Heute und es starrt dich an / Gerne würdest du fragen, wie / Er die Welt in sieben Tagen, / aber der Respekt verbietet / Es dir und als deine Mutter kommt / Und dich fragt, weshalb / Du das Plüschtier so anstarrst / Willst du Gott nicht verraten. / Ich lege es mal in den Tierschrank / Sagt sie und du siehst genau / Wie Gott aus dem Tier verschwindet.“
Norbert Lange führt die Leserschaft mit seinem mehrteiligen Gedicht „Ornithophanie“ in eine Art anthropologische Reflexion über Erdenschwere und das Sich-Aufschwingen, in denen Zeit und Raum neue und unerwartete Verbindungen eingehen:
„Tagnacht, Innenaußen // Und sind wir von / Federn? So sitzen vor Feuern, / Schmuck und Birkenrinde, / treten wir aus langer Nacht / ins Zelt: die Röte unserer Lider / zeugt von einer Dosis Medizin, / als spielte jemand mit uns / seit Frühzeit Videospiele“
Nach Maarten Inghels' „Lorem Ipsum“, einem von Patrick Wilden aus dem Niederländischen übersetzten feinsinnigen Prosagedicht über Anekdoten und Aphorismen zum Thema Buch bewegt sich die Leserschaft im „Ostragehege“ nun auf den ersten reinen Prosatext zu, Katrin Teiners „Auf einem Bein ins Innere“, in welchem ein kleiner Junge aus Armenien versucht, wegen eines sprachlichen Missverständnisses mit der Berliner S-Bahn in sein kaukasisches Heimatdorf zurückzufahren – empathisch, jedoch gänzlich ohne irgendeine Form von Larmoyanz.
Das folgende Interview mit dem Autor, Verleger und Übersetzer Viktor Kalinke über den chinesischen Philosophen Zhuangzi führte Axel Helbig im Februar dieses Jahres. Nicht nur Kalinkes 2017 nach sieben Jahren editorisch anspruchsvollster Arbeit herausgegebene Neufassung der Texte dieses neben Laozi wichtigsten Vertreters des altchinesischen Daoismus ist Gegenstand des Gespräches, vielmehr wird auch einem nur wenig sinologisch vorgeprägten Lesepublikum ein kulturwissenschaftlich hochinteressanter Abriss über die wichtigsten Elemente der chinesischen Philosophie und ihrem Einfluss auf westliches Denken sowie den Klippen und Tücken des Übersetzens geboten. Bemerkenswert ist, dass Kalinke selbst eigentlich kein Sinologe ist, sondern ursprünglich von der Psychologie und der Mathematik herkommt – ein Umstand, der in diesem glücklichen Fall geeignet ist, der einschlägigen Forschung wertvolle interdisziplinäre Impulse zu verleihen.
Nach zwei Prosaminiaturen von Daniel Zahno und Jürgen Wellbrock, die über Elemente des Phantastischen miteinander korrespondieren, geht es im Kapitel „Lagebesprechung“ um Franz Dodel und die extreme Ausweitung einer poetischen Kleinform: das Endlos-Haiku „Nicht bei Trost“, welches Beat Mazenauer für das „Ostragehege“ kenntnisreich vorstellt. Eine unaufhörliche, seit sechzehn Jahren fortgeschriebene poetische Bewegung im Wechsel von fünf und sieben Silben, die inzwischen auf mehr als 35.000 Verse angewachsen ist und zahlreiche Verweise auf Geschichte, Literatur, Malerei und Musik enthält und die Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ als Dreh- und Angelpunkt ausweist. In einer „Poetologischen Notiz“ reflektiert Dodel dies mit der Bemerkung:
„hier wird ein Denken das schreibt / eingeübt ohne / zu wissen was sich daraus / ergibt...“
Ergeben haben sich daraus unter anderem bereits mehrere Bücher, alle 6000 Verse eines, und nach diesem inhaltlich wie formal erstaunlichen Beitrag folgt mit „Pro Ecclesia“ von Theodor Weissenborn, der in diesem Sommer seinen 85. Geburtstag hat, eine schon etwas ältere Erzählung. Sie passt an dieser Stelle sehr gut, denn wie bei Dodel und Proust geht es nicht zuletzt um die Orientierungstechnik des Sich-Erinnerns: Elisa, eine ehemalige Ordensfrau und Lehrerin, führt am Ende ihres Lebens einen inneren Dialog mit sich selbst. Das ist gleichermaßen spannungsreiche, atmosphärisch dichte und ansatzweise sogar experimentell zu nennende Prosa, wie sie in dieser Prägnanz nur selten zu lesen ist.
Die beiden folgenden Beiträge führen die Leserschaft nun in die Neue Welt: zunächst zu César Vallejos von Eleonora Gehrisch übersetzter kleiner Erzählung „Die zwei Soras“, eine bitterböse Schnurre aus Peru über den vermeintlichen Gegensatz von „Wilden“ und „Zivilisierten“ sowie Gedichten von Jesús Sepúlveda, in denen es um eine Immigrantenkindheit in den USA und erstaunliche Antworten auf existenzielle Grundfragen geht:
„Was sind wir? / Feine Kristalle, die gereinigt werden müssen“
Diese Texte wurden von Artur Becker aus dem Englischen übertragen und leiten über zu einem der Hauptteile dieses Heftes, der Vorstellung neuer poetischer Texte aus Bratislava, allesamt übersetzt von Andrea Reynolds. Peter Macsovszky gelingen allerlei motivische Verflechtungen, mit denen er über das eigene poetische Schaffen zwischen Kommunikation und Kommerzialisierung nachdenkt. Vollkommen nüchtern und doch von großer Eindringlichkeit sind die Gedichte von Mária Ferenčuhová, die sich mit Verletzungen, Tod, Suizid und Wertmetaphorik befassen. Nora Ružičkovás Ansatz ist noch kühler und formalistischer, etwa wenn sie eine Häkelanleitung als versteckte Trauerarbeit paraphrasiert und das Gedicht mit
„die träne umsäumen wir mit engen festen stichen“
beendet. Michal Habajs um Positionsbestimmungen und parapsychologische Phänomene kreisende Prosaminiaturen, Katarína Kucbelovás Gedichte über urbane Orientierungslosigkeit und Peter Šulejs auf experimentelle Weise historische Ereignisse mit der Gegenwart verknüpfenden Verse schließen diesen Teil des Heftes ab, der dankenswerterweise eine hierzulande (zu Unrecht) weniger gut bekannte dichterische Szene vorstellt.
Eine Eisenbahngeschichte der phantastisch-surrealen Art mit einem ausgeprägten Spielcharakter und einem überraschenden Ende hält Igor Schestkow mit „Hirngespinste“ für die Lesenden parat, aus dem Russischen übertragen von Klaus Kleinmann. Hieran schließen sich noch einmal eine Reihe von vermischten poetischen Texten von AutorInnen aus Rumänien, Armenien, Makedonien, Polen, der Schweiz und Deutschland an, unter denen die Verse von Heike Olschansky hervorstechen, die in aller Knappheit existenzielle Fässer aufmachen, über die man lange nachdenken kann:
„Gott ist witzig / Man denke nur an das / sechste Gebot / Du sollst nicht ehebrechen / Gott plaudert gern / und wartet lange auf uns“
An diesen gleichermaßen profunden wie kurzweiligen Cocktail aus Lyrik, Prosa, Grafik und Interview schließen sich nun zur weiteren Orientierung noch Texte zu Preisverleihungen und einige Rezensionen an: so benennt die mit dem Werner-Bergengruen-Preis 2017 ausgezeichnete Zsuzsanna Gahse auf Nico Bleutges Laudatio und im Rückgriff auf Bergenguens Schiffs-Novelle „Pelageja“ hin ihre Parallele zum Namensgeber des Preises: beide seien sie auf ihre Weise „Sprachseefahrende“. Der Dichter und Übersetzter Peter Gehrisch, Initiator der Zeitschrift „Ostragehege“, wurde anlässlich des UNESCO-Welttages der Poesie in Warschau mit dem höchsten polnischen Orden für Kulturschaffende ausgezeichnet. Ein Beleg dafür, dass die deutsch-polnischen Beziehungen zumindest im Bereich der schönen Künste vielleicht doch (noch) nicht so gelitten haben, wie in letzter Zeit verschiedentlich zu lesen war? Es wäre zu hoffen, und die Ausgaben der „Ostragehege“, von jeher auch um die Begegnung mit den slawischen Literaturen bemüht, hätten mit Sicherheit ihren Anteil daran.
Rezensionen zu zahlreichen Neuerscheinungen aus allen Bereichen des literarischen Schaffens runden diese Ausgabe von „Ostragehege“ ab. Ein pralles, vielstimmiges und klug komponiertes Sommerheft der Orientierungsmöglichkeiten für eine anspruchsvolle Leserschaft.
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