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Kritik

Geistlich umnachtet

Hamburg

Weil er nach eigener Aussage „frauenmäßig etwas über die Stränge geschlagen“ hat, beschließt der einäugige Ernest Herz, die Damenwelt ein für alle Mal hinter sich zu lassen – und damit auch seinen beachtlichen Zettelkatalog, in dem die Namen und Parfums seiner Verflossenen archiviert hat. Seine andere große Leidenschaft gilt den Büchern, und so scheint es nur folgerichtig, dass Herz einen Posten in der „zweitgrößten Klosterbibliothek des Abendlandes“ antritt, um sich dort als erster weltlicher Bibliothekarsleiter fortan ganz den Büchern zu widmen.

So ganz will man Herz die Sehnsucht nach einem beschaulichen Klosterleben jedoch nicht abnehmen, denn Ablenkungen sind ihm nur allzu willkommen. Selbst wenn sie durchaus verstörend sind: Sein Vorgänger Mrozek hatte den Freitod gewählt, soviel war bekannt. Als Herz aber von den mysteriösen Todesumständen erfährt, beschließt er, der Sache auf den Grund zu gehen. Eine erste Spur führt ihm zum jungen, schönen Raphael, der in der Dorf-Kneipe Lamm kellnert.

Damit nicht genug, fällt dem Stiftsbibliothekar eines Tages der Dialogus miraculorum in die Hände, ein wertvolles mittelalterliches Manuskript. Wie kam sein Vorgänger an diesen Schatz, und was bedeuten die Worte, die er in seiner polnischen Muttersprache hineingeschrieben hat? Als Herz dann auch noch bemerkt, dass sein Radiogerät nur noch einen einzigen Sender empfängt, und die Stimmen von „Radio Gabriel“ sogar bei seinen Telefonaten dazwischenfunken, beginnen die Grenzen der Realität zu verschwimmen. Will die Kirche ihn „so in den Wahnsinn treiben?“, fragt er sich. „Bin ich Opfer eines Experiments? Vielleicht sollte ich einfach mehr an die frische Luft …“

Was nach sich überschlagenden Ereignissen und nach angezogenem Tempo klingt, ist eine im Grunde sehr gemütlich erzählte Geschichte. Gaponenko nimmt sich Zeit für das Worldbuilding, um einen Begriff aus dem Fantasy-Genre zu verwenden. Ihre Charaktere sind Unikate, um nicht zu sagen Exzentriker; die Klosterwelt ist, scheint’s, ein Paralleluniversum mit eigenen Gesetzen. Vor allem ist es das Gesetz der Schwerkraft, dem die Geistlichen und ihre eher weltlich gesinnten Kollegen immer wieder erliegen. Die Wege der Männer führen nicht nach Rom, sondern abwärts ins Dorf; sei es zur Kneipe, sei es zum Bordell. Und auch Mrozeks Sturz aus dem Fenster suggeriert, dass die Luft da oben zwischen all den heiligen Schriften womöglich zu dünn ist, als dass man dort gut leben könnte.

Der vierte Roman der gebürtigen Ukrainerin Gaponenko ist randvoll mit skurrilen Einfällen, atmosphärisch dicht, kunstfertig im besten Sinne des Wortes. Wenn sich die Autorin in ein Thema reinhängt, dann richtig: So lässt sie ihre Leser an skurrilem Insiderwissen über „Tintenfraß“ (gehört „zu den körperlichen Gebrechen eines Manuskripts“) oder Tonsuren (da gibt es den Paulus- und den Petrus-Style) teilhaben. Weniger amüsant, dafür umso beeindruckender ist ihr detailliertes Wissen über Handschriften, Klöster und die Kirche im Allgemeinen. Da überrascht es kaum, in der Danksagung zu lesen, dass sie selbst im Rahmen der Arbeit am Roman für kurze Zeit eine Wohnung in einem Stift bezogen hat.

Das Kloster ist mit seiner Bibliothek aber letztlich nur eine geschickt inszenierte Prachtkulisse. Dreh- und Angelpunkt des Romans ist Ernest Herz, der auch in seinem neuen Leben – eine reine Männerwelt, wohlgemerkt – nicht von der Liebe lassen kann. Und der einen jungen, schlagfertigen Studenten als Ersatzsohn engagiert, um sich nicht um seine dementen Eltern kümmern zu müssen. Ausgerechnet an dessen Schauspielkünsten und Heuchelei stört sich sein Auftraggeber: „Sich anzubiedern, wo es sich nicht lohnt, verdirbt den Charakter.“ Eine „Pfeife“ nennt er ihn, und einen „Scheißgermanisten“. Nein, Herz ist beileibe kein Sympath. Aber er verfügt über ein gehöriges Maß an Selbstironie, die auch seiner geistigen Mutter nicht abgeht. Immerhin war Gaponenko selbst einmal Germanistikstudentin.

Heute zieht sie in ihren Werken sowohl auf linguistischer als auch auf literarischer Ebene alle Register. In Der Dorfgescheite trifft das Salbadern von Kirchenmännern auf die saloppe Redeweise der Mundartsprecher; obwohl der Leser nicht erfährt, wo genau im Raum Süddeutschland-Österreich die Handlung nun eigentlich spielt. Die Autorin   schwelgt geradezu in der deutschen Sprache, baut ihre Sätze zusammen mit einer Liebe zum Sprachreichtum, zum abgründigen Witz. Und auch mit einer etwas übertriebenen Liebe zum Adjektiv, zur sprachlichen Verkomplizierung einfacher Sachverhalte.

Der mehrfachen Literaturpreisträgerin geht es auch in ihrem neuen Roman nicht so sehr um die Handlung, als um Charaktere, Stimmungen, Bilder, Ideen; und damit weiß sie als Dichterin natürlich souverän umzugehen. Dann schlägt sich ihr unverkennbarer, hintergründiger Witz in Sätzen wie diesem nieder: Weit bauschte sich die Soutane des Geistlichen, der einer Kannenwärmerpuppe auf dem Samowar nicht unähnlich sah.

Aber das reicht nicht, um den Leser bei der Stange zu halten, zumal ihm ja gleich zu Beginn eine Art Krimi versprochen wird, von dem am Ende wenig übrigbleibt. Auch Ernest Herz‘ Eigentümlichkeiten verlieren irgendwann ihren Reiz, seinem manipulativen Verhalten fehlt der Drive, und letztlich stellt sich der Leserin die Frage, was die langen Passagen in lateinischer Sprache - trotz deutscher Übersetzung in den Fußnoten - eigentlich sollen.

Zugespitzt formuliert: Man könnte das ganze Romankonzept als literarische Nabelschau abtun, und überhaupt die Sprech- und Handlungsweise der Hauptfiguren aufgesetzt finden. Wäre da nicht dieser eine Satz, den die Autorin einer ihrer Figuren in den Mund legt: „Allerdings,“ so sagt der Prälat an einer Stelle, „ist in einem Roman ja alles aufgesetzt.“ Vielleicht ist Der Dorfgescheite eher Schelmenroman als Bibliothekarsroman. Fragt sich nur, wer hier der Schelm ist: der Protagonist oder seine Erfinderin.

Marjana Gaponenko
Der Dorfgescheite: Ein Bibliothekarsroman
C.H. Beck
2018 · 287 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-406-72627-9

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