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Kritik

Maxim Biller oder die Liebe zur Familie

Sammlung von Familiengeschichten „Sieben Versuche zu lieben“ bei KiWi
Hamburg

Ein Absolvent einer Journalistenschule erhält einen Anruf seiner Mutter, die in ihren Wechseljahren sehr sensibel auf die Gedichte der „bisexuellen russischen Poetesse“ Marina Zwetajewa reagiert und schon immer eine Leidenschaft für Ossip E. Mandelstam hat. Der Anruf, den das namenlos bleibende Ich auf der Fensterbank seiner Münchner Wohnung empfängt, während er unverblümt nach dem Nachbarsmädchen von gegenüber Ausschau hält, wirft ihn zwei Jahre zurück in die Vergangenheit, als er der Einfachheit halber sein erstes großes Interview mit dem Schriftsteller Joseph Heller am Esstisch seiner Mutter führte und sich das Zusammentreffen zu einem langen Küchenabend um gefilte Fisch und Leikach auswuchs. Zwei besondere Gegebenheiten, eine kondensierte Kurzgeschichte von 23 Seiten, neu nachzulesen in der Sammlung bei Kiepenheuer & Witsch von dreizehn Familiengeschichten Maxim Billers, der nicht umsonst Meister der Kurzform genannt wird und zuletzt 2018 mit seinem Roman "Sechs Koffer" auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand.

Eine andere Stelle aus „Rosen, Astern und Chinin“ (ursprünglich veröffentlicht 1990 in dem Band „Wenn ich einmal reich und tot bin“): Die ergriffene Mutter rezitiert dem Vater, der sich bis zum Heute-Journal im Arbeitszimmer versteckt, den mitreißenden Vers Zwetajewas, der Vater verzieht sein Gesicht ebenfalls zu einem Weinen, bringt die Mutter zum Staunen, und als sie feststellt, dass der gefühlsselige Anflug nur gespielt war, kann sie befreit lachen. Auch in neueren Geschichten Billers, die heute unter dem Titel „Sieben Versuche zu lieben“ erscheinen, begegnet der/die Leser*in Figuren von Kindern, die von außen auf Gespräche ihrer Eltern blicken, die sich über die baldige Flucht von Prag unterhalten oder die Zukunft ihres Sohnes besprechen –also Teil eines fernen, geheimnisvollen Erwachsenenkosmos sind.  

In „Bernsteintage“ (ursprünglich von 2004) umkreist ein dezenter personaler Erzähler den achtjährigen David und zwei seiner Sanatoriums-Freunde in konzentrischen Kreisen, ist immer mal wieder auch bei seiner Zukunft, bei seiner älteren Schwester Jarka, die ihm ein hundertseitiges Notizheft für seine Geschichten aufdrängt, oder seinen Eltern, die den Einmarsch der russischen Panzer in Tschechien fürchten.

Persönliche und politische Ereignisse kreuzen sich immer wieder; sowohl die tagespolitische wie auch die jüdische Geschichte verdammen die Figuren zu einem stetigen Ortswechsel oder einer Sehnsucht nach einem Ortswechsel. Dieser Zustand ist wiederum unser aller Existenz in der globalisierten Gegenwart gleich, so Helge Malchow in ihrem anerkennenden Nachwort. Wir leben im inneren Mindset eines Dauer-Exils, so könnte man überspitzt formulieren; gleichzeitig ist die Wahrheit dessen, was wir erleben, immer von der jeweiligen Perspektive des/der Betrachter*in abhängig.

Biller legt David schöne Worte für die eigene unzuverlässige Erinnerung in den Mund, die auch den Titel der Erzählung „Bernsteintage“ motivieren:

„Seine tschechische Kindheit war von seinem Gedächtnis so fest umschlossen wie ein winziger Käfer von einem Bernsteinblock - er selbst war der Käfer, aber er war auch derjenige, der ihn von außen betrachtete, und das verzerrte vielleicht seinen Blick.“

Sprachlich ist, wie auch schon von Rezensent*innen bemerkt, bei Biller manches vielleicht eine Spur drüber, so wird ein wählerischer Autor im Kopf eines Protagonisten direkt zu einem „ekelhafte[n], geizige[n] Mauschelzwerg […] mit einem weibischen Zug um die Augen“ ; viel ist aber sprachliches Feuerwerk mitsamt „Tattergreisen“, „Maminkas“, „gojischen Frauen“ und „Gutsulengesichtern“. Billers Bilder sind auch ein Spiel mit dem Nicht-Erwartbaren; die Sinne der Lesenden werden oft in eine Richtung geführt und im letzten Moment in eine neue umgelenkt (so etwa im Titel der Erzählung „Rosen, Astern und Chinin“).

Letztendlich steht aber der letzte verbleibende soziale Verband der Moderne, die Familie, mit all ihren Geheimnissen, die von Großeltern über die Kinder bis in die dritte und vierte Generation weitergegeben werden, im Mittelpunkt von „Sieben Versuche zu lieben“. Es ist die emotionale Selbsterkundung der Hauptpersonen, die immer wieder mit ihren Familienmitgliedern konfrontiert werden und Liebesversuche unternehmen, die Geschichte von Kindern, die „nie wirklich von Prag Abschied genommen“ haben und schließlich bei den Menschen um sich Halt finden, die die vorliegenden Geschichten zutiefst menschlich machen. Eine Relektüre von Billers Familiengeschichten lohnt sich.

Maxim Biller
Sieben Versuche zu lieben
Kiepenheuer & Witsch
2020 · 368 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-462-05437-8

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