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Kritik

Als würde die Treppe immer länger...

Richard und Billy Chizmars Novelle „Widow's Point“
Hamburg

Ein alter Leuchtturm an der Küste von Nova Scotia, den seit über zehn Jahren niemand mehr betreten hat. Gruselige Geschichten über Menschen, die dort unter höchst seltsamen Umständen starben. Und ein Autor von Gruselbüchern, der sich für ein langes Wochenende in diesen Leuchtturm einschließen lässt, ohne Kontakt zur Außenwelt, nur mit einem Aufnahmegerät und einer Digitalkamera bewaffnet, um dem Spuk auf den Grund zu gehen...

Das klingt nach den klassischen Haunted-House-Zutaten, nach einer Geschichte, die seit Edgar Allan Poe, seit H.P. Lovecraft, seit Stephen Kings „Shining“ schon so oft erzählt worden ist, dass es uns nichts mehr angehen kann. Glauben wir. Und ist es nicht vermessen, sich dem Thema nach Shirley Jacksons Meisterwerk „Spuk in Hill House“ überhaupt noch nähern zu wollen?

Richard Chizmar hat es getan. Chizmar, Jahrgang 1965, ist hierzulande noch nahezu unbekannt, doch das ändert sich langsam, seit er 2017 gemeinsam mit Stephen King die Novelle „Gwendys Wunschkasten“ vorgelegt hat. Unlängst erschien in den USA mit „Gwendy's Magic Feather“ eine nur von Chizmar verfasste Fortsetzung. Dort ist er längst kein Geheimtipp mehr. Als Verleger und Herausgeber unzähliger Anthologien hat er in den letzten dreißig Jahren eine vielschichtige Landkarte der modernen amerikanischen Schauerliteratur entworfen, seine eigenen wenigen Bücher werden nicht nur von der Kritik, sondern auch von den Kollegen gefeiert. Ob King, Stewart O'Nan, Peter Straub, Robert McCammon, Robert Bloch, Richard Matheson – alle verneigen oder verneigten sich vor Chizmar und seinen lakonischen und nicht zuletzt wahnsinnig spannenden Texten.

In Deutschland ist das schwieriger, weil hierzulande nicht zwischen guter und schlechter, sondern zwischen U- und E-Literatur unterschieden wird, und die Kritik bescheißt sich selbst, wenn sie einen Poe als E einordnet, würde sie ihn doch, wenn er erst heute publizierte, unter U einordnen und naserümpfend ignorieren. Man sieht es an King, der erst seit dem National Book Award ernstgenommen wird. Das Feuilleton vertraut Preisen, aber nicht der eigenen Nase. Mächtig großer Fehler!

Zurück zum Leuchtturm: „Widow's Point“ heißt er, weil an diesen Klippen einstmals so viele Schiffe zerschellten, so viele Seeleute in den Fluten starben. „Widow's Point“ ist auch der Titel der Novelle, auch sie eine Kollaboration – Chizmar schrieb sie gemeinsam mit seinem Sohn Billy. Das Buch liegt auf Deutsch vor (übersetzt von Christian Jentzsch), als limitierte und von beiden Autoren signierte Ausgabe, ohne ISBN, man kann sie nur über den Buchheim Verlag beziehen.

Das Konzept orientiert sich an der Tradition der Found-Footage-Filme wie „Blair Witch Project“ - oder, wenn man so will, an Tagebuch- oder Berichtromanen wie Poes „Arthur Gordon Pym“, der Text besteht in erster Linie aus Transkriptionen der Audioaufnahmen des Protagonisten (die Kamera gibt in der Sekunde den Geist auf, da er den Widow's Point Leuchtturm betritt). Er ist ein selbstverliebter Draufgänger, der sich selbst gerne reden hört. Er erzählt zunehmend nüchtern von den historischen Grauen, die sich im Turm ereignet haben, und während er das tut wird ihm zunehmend unwohl. Mehrmals muss er die 268 Stufen hinab und wieder hinauf, um seine Vorräte in den Wohnbereich zu schleppen, und jedes Mal kommt es ihm vor, als seien es mehr und mehr Stufen. Er hört Geräusche. Er findet ein altes Tagebuch von einem Mädchen dessen komplette Familie hier ermordet wurde.

Ja, es sind die klassischen Zutaten. Und genau das ist eine der Stärken dieser Novelle. Chizmar und Sohn versuchen gar nicht erst, das Motiv neu zu erfinden, sie bedienen sich stattdessen bei allen Elementen klassischer Schauerliteratur, die schon immer gut funktioniert haben. Und das machen sie brillant. Obwohl man all das, was passiert, erwartet, schleicht sich von der ersten Seite an ein unterschwelliger Grusel ein, der gar nicht so sehr durch das Geschehen getragen wird, sondern durch die Stimme des Protagonisten, der von Seite zu Seite nervöser wird, seine Selbstsicherheit Stück für Stück verliert, der an sich und seiner Wahrnehmung zweifelt und der doch irgendwann erkennen muss, dass der Stacheldrahtzaun, der zehn Jahre zuvor um Widow's Point gezogen wurde, seine Berechtigung hat. Das Buch ist ein kleines Juwel – und zwar eines, das in wenigen Jahrzehnten als moderner Klassiker des Genres gelten wird. Kein Zweifel.

Wer nun geneigt ist, Chizmar in eine Schublade zu stecken, begeht den nächsten mächtig großen Fehler. Er ist ein vielfältiger und wandelbarer Autor. Seine Novelle „The Girl on the Porch“ (Subterranean Press 2019) schlägt ganz andere, dabei nicht minder verstörende Töne an. Eine junge Frau klingelt tief in der Nacht verzweifelt an zwei Haustüren, eine Überwachungskamera zeichnet sie auf, dann verschwindet sie spurlos. Als die Polizei ermittelt geht das Video viral, und natürlich beginnt sofort die moderne Legendenbildung. Für die Nachbarschaft, in der jeder jeden kennt, ist das allerdings weniger lustig. Denn binnen weniger Tage breitet sich das große Misstrauen aus. Nachbarn, Freunde, Ehepartner beäugen einander, gehen auf Abstand, Gerüchte machen die Runde, Anschuldigungen, während zugleich alle irgendwie versuchen, die Fassade zu wahren. Was natürlich kaum gelingt.

Man kann „The Girl on the Porch“ als klassisches whodunit lesen, doch das greift zu kurz. Denn im Grunde interessiert sich Chizmar gar nicht für diese Frage – sondern dafür, was so ein Ereignis mit Menschen macht und wie gut wir eigentlich wirklich unsere Nachbarn kennen. Unsere Freunde. Unsere Partner. Es ist ein zutiefst verstörendes Buch, das in den Alltag hineinwirkt, das Gewissheiten über den Haufen wirft.

Die ganze erzählerische Vielfalt eröffnet sich allerdings erst in Chizmars umfangreichen Kurzgeschichtensammlungen „A Long December“ und „The Long Way Home“, die seine Arbeiten der letzten dreißig Jahre bündeln und das Portrait eines Autors zeigen, der in jedem Genre zu Hause ist, und der das Kunststück beherrscht, mit klaren und knappen Sätzen eine enorm dichte Atmosphäre zu erzeugen und Figuren so klar zu zeichnen, dass man sie zu kennen glaubt. Wie Stephen King sagte: „Seine größte Stärke ist es, dass er die Menschen von nebenan versteht – und ihre dunkelsten Geheimnisse. Der Typ ist Gold!“

Und das stimmt.

 

Richard Chizmar · Billy Chizmar
Widow's Point
übersetzt von Christian Jentzsch
Buchheim Verlag
2019 · 128 Seiten · 36,99 Euro

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