200 Arten, der Welt Miete zu zahlen
Bereits im Herbst 2017 ist ein beeindruckender Bild- und Fragenband im Elisabeth Sandmann Verlag erschienen, in dem die Herausgeber Ruth Hobday und Geoff Blackwell 200 Frauen mit sehr unterschiedlichen Geschichten zu Wort kommen. Weder als Opfer, noch als Klägerinnen, sondern als selbstbewusste Menschen, die darüber reflektieren, was sie bewegt, und was sie selbst in dieser Welt bewegen möchten. Es sind Frauen mit sehr unterschiedlichen Geschichten, und doch ist in ihren Aussagen ein roter Faden zu erkennen.
Grundlage dieses sensiblen und unaufgeregten Bandes ist die Idee, den Frauen fünf identische Fragen zu stellen und sie vor einem gleichartigen Hintergrund, einem einfachen Baumwolllaken, das die Fragesteller gemeinsam mit dem Fotografen Kieran E. Scott in den unterschiedlichsten Winkeln der Welt aufspannten, zu fotografieren, während sie versuchten, die abstrakt bis persönlichen Fragen zu beantworten.
Dabei reicht die Liste der Interviewpartnerinnen von Prominenten wie Margaret Atwood und Isabell Allende bis zu Frauen, auf die die Interviewer erst während ihrer Interviewreisen aufmerksam wurden.
„Unter ihnen waren Künstlerinnen, Aktivistinnen, Unternehmerinnen und sogar eine Astronautin neben Führungskräften aus der Wirtschaft, einer Ziegenhirtin einer Krankenschwester sowie einer Nepalesin, die die meiste Zeit ihres Lebens auf den Straßen von Kathmandu Zigaretten verkauft hat - jeweils nur eine – um ihre Familie zu ernähren.“
Insofern ist dieses Buch auch eine Reise um die Welt und ein Querschnitt von Begünstigten und strukturell Benachteiligten. Es irritiert ein wenig, dass Prominente wie Allende oder Atwood Doppelseiten zugestanden bekommen, während sich Frauen mit nicht weniger bewegenden Geschichten und Einsichten zu zweit eine Seite teilen. Aber vielleicht ist auch das ein Ausschnitt der Welt, in der wir leben. Darüber hinaus, und das ist vielleicht am wichtigsten, ist dieses Projekt, die Aufforderung hinzusehen und zuzuhören. Ein Buch gegen Gleichgültigkeit und eine Werbung für bewegende Begegnungen.
Kierian E. Scotts Portraits beeindrucken. Ihm gelingt es, die Frauen so abzulichten, dass bei aller Inszenierung doch am Ende das Gefühl von größtmöglicher Authentizität bleibt. Bei vielen der Fotos hatte ich das Gefühl, das Wort, das die Frauen als Selbstbeschreibung für sich gewählt haben, verkörpert zu sehen.
Die fünf Fragen, die die Aussagen der Frauen leiten und initiieren sollen, scheinen zunächst beliebig. (Was ist Ihnen wirklich wichtig? Was macht Sie glücklich? Was empfinden Sie als tiefstes Leid? Was würden Sie in der Welt verändern, wenn Sie könnten? Wählen Sie ein Wort, das Sie beschreibt.) Tatsächlich aber sind sie, das zeigen die abgedruckten Zeilen bei jeder einzelnen Frau, Türöffner, mit denen die Frauen die Interviewer einen Teil ihres Lebens betreten lassen. Und nicht selten tiefe Wahrheiten zu Tage fördern.
„In Wirklichkeit kommen wir auf die Welt, um alles zu verlieren.“ (Isabell Allende).
Bei vielen Frauen schwingt auf die eine oder andere Weise die Überzeugung mit, die Sharon Brous am prägnantesten formuliert hat:
„Unsere Aufgabe ist es nicht nur, Leid zu lindern, sondern auch Menschen dabei zu helfen zu erkennen, dass sie wichtig sind.“
Ganz besonders beeindruckend sind die Geschichten, in denen die Frauen aus erfahrenem Leid, Mut und Kraft entwickelt haben, sei es aus dem Tod der Tochter, einer Genitalverstümmelung, Unterdrückung, Gewalt oder Armut, die Frauen bemitleiden sich nicht, sie klagen nicht an. Vielmehr haben sie sich dazu entschieden, ihrem Leid eine beeindruckende Lebenskraft entgegen zu setzen. Ihnen scheint es gelungen zu sein, den Schmerz in eine positiv wirkende Kraft zu verwandeln.
Entscheidend, und sowohl Mut machend, als auch inspirierend, ist, dass diese Frauen sich aktiv für ihre Werte einsetzen, dass jede von ihnen der Ohnmacht, die die Gesellschaft für sie vorgesehen hatte, ihre eigene kreative Energie entgegen setzen.
Es gibt bei keiner einzigen der Frauen schwarz-weiß Denken. Jede Frau sieht sowohl ihre eigene Lage, als auch die Lage der Menschheit, sehr differenziert.
Nicht zuletzt ist dieses Buch ein Indiz für die Vielfalt von individuellem Engagement, von Menschen, die nicht nur Missstände beklagen, sondern sich aktiv dafür einsetzen, etwas zu verändern. Die Visionen haben. Und diese allein schon hoffnungsvolle Tatsache wird dadurch, dass diese Visionen an so vielen Stellen verwirklicht werden, zu einer Quelle von Ermutigung. Somit ist dieses Buch ein wichtiger Gegenpol zu all den entmutigenden Nachrichten über Menschen, die scheinbar keine Skrupel haben, die Welt auf den Abgrund hin zu regieren.
Immer wiederkehrend und immens wichtig, ist der Appell dieser bemerkenswerten Frauen, selbst Verantwortung zu übernehmen und zu handeln. Oder, wie Jane Goodall es ausdrückt:
„Wir müssen wirklich immer daran denken, dass jeder einzelne Mensch wichtig ist und seine Rolle zu spielen hat - und dass wir jeden einzelnen Tag die Wahl haben, was genau wir bewirken möchten.“
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