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Kritik

Notizen an einen unbekannten Adressaten

Simone Scharberts Debütband ist Philosophie in Poesieform
Hamburg

Das Prosagedicht ist keine Gattung, die in Deutschland ungewöhnlich beliebt oder verbreitet wäre, deshalb erstaunt — und erfreut — es umso mehr, daß Simone Scharbert gleich mit einem ganzen Band Prosagedichte debütiert. Bereits sein Aufbau erinnert an eine Versuchsanordnung: in drei Abteilungen werden „Körper“, „Raum“ und „Materie“ analysiert, wobei die letzte Abteilung so etwas wie eine Synthese des Verhältnisses der beiden anderen Kategorien darstellt. Das Labor ist karg: die weiße Seite, die meist nur im unteren Drittel beschriftet ist; das Instrumentarium nüchtern: interpunktionslose Blöcke in durchgehender Kleinschreibung. Jeden dieser Abschnitte beendet ein Zeilen-Gedicht, das in Kooperation entstanden ist, verschiedene Schrifttypen kennzeichnen die jeweiligen Anteile. Doch von der Kälte steriler Kacheln in einem Laboratorium ist nichts zu spüren: es geht ums Leibhaftige, um Atem, Blut, warmen Körper.

Daß Texte „mittels Sprache“ etwas erkunden, wie der Klappentext attestiert, ist eine Selbstverständlichkeit, die wohl für alle geschriebenen Bücher gelten dürfte, auch führt die Sprache hier kein geheimes Eigenleben mit unerhörten Bedeutungen. Höchst bewußt und gezielt eingesetzt wird sie jedoch allemal; außerdem thematisiert Scharbert expressis verbis das Zur-Sprache-Kommen, den Übergang vom Geistigen in einen körperlich-materiellen Zustand, den Atem, der als Klang in den Raum dringt. Reflektion und Darstellung, bzw. ‚Zeigen’ und ‚Gezeigtes’, gehen dabei wunderbar fließend ineinander über, und nur an sehr wenigen Stellen ist das Raum-Wort-Gefüge dermaßen verdichtet, daß ein Wort dem anderen beinahe Atem und Licht zu nehmen droht.

Was ist ein Raum? was ein Körper? was ist ein Körper im Raum, auf welche Weise definiert ihn der Raum bzw. wie definiert der Körper den Raum? wie entsteht aus Materie Geist und aus dem Geist die Rede, das Wort? wie geht der Atem in den Raum hinaus und aus diesem wieder in den Körper hinein? Mit solchen Fragen setzen sich Scharberts Gedichte auseinander, fragend, staunend, verwundert. Zitate und Anspielungen auf die amerikanische Photographin Francesca Woodman, die mit 23 Jahren Suizid beging — es lohnt sich übrigens, vor oder während der Lektüre einen Blick auf Woodmans Arbeiten zu werfen, denn hier wird im bildnerischen Medium vorgeführt, was Scharbert mittels Sprache darstellt —, auf Alice James, die Schwester von William und Henry, auf Virginia Woolf und auf die Photopionierin Anna Atkins lassen die Grenzen zwischen der Ich-Erkundung und der Du-Erkundung verschwimmen, machen sie permeabel und porös. Nicht immer ist eindeutig, ob es sich um die Anrede eines Ich an ein Du oder die Selbstanrede eines Ich als Du handelt. Jedenfalls besteht die berechtigte Hoffnung, daß am Ende „zwischen uns“ mehr bleibt als „das teilen von jetzt und morgen in mundgerechte stücke“.

Der Körper ist ein „Körper“ mit Innen- und Außenseite, an seiner Oberfläche interagiert er mit dem Raum, in dem er sich befindet, und mit anderen Körpern, die unter denselben Bedingungen anwesend sind („dein körper letztlich auch wieder nur ein raum ein zimmer eine begrenzung die du nicht los wirst“). Mit der Metapher des Kleids, das übergeworfen und geöffnet und geschlossen werden kann, verweist Scharbert auf die Verwundbarkeit des Körpers, der selbst nach einem Einschnitt „durch deine bauchdecke“ wieder verheilt; möglicherweise steht dieses Bild in Zusammenhang mit der Gebärmutter, „ein ort der ausdehnung in dir also ein gefäß an deinem eigenen nichtort“. Umgekehrt bedeutet schon etwas so Winziges wie ein Wespenstich das alarmierende Eindringen eines Körpers in einen anderen, die Übertretung einer Grenze, die verschiedene Vorgänge auslöst und zuletzt die Sprache verletzlich und sogar disfunktional macht.

Körper erkunden sich selbst und den um sie befindlichen Raum. Mittels sinnlichem Sensorium und mittels Sprache, die sinnlich wahrnehmbar ist von einem Du, nämlich als Atem, der Geräusche mit Bedeutungen produziert. Mit immer neuen Bildern und Anordnungen verortet Scharbert den Körper im Raum, der seinerseits als Zimmer mit einem Interieur und entsprechenden Wänden ausgestattet ist. Die sich daraus ableitenden philosophische Fragestellungen sind auf poetischste Weise vorgeführt, und wenn es ein Paradox wie verkopfte Sinnlichkeit gibt, dann unbedingt in diesen Gedichten („einmal die zeit über haut streifen und sich fragen wie man aus haut nähe machen und ob das überhaupt funktionieren kann“).

Scharberts Debütband ist von starker Geschlossenheit; die drei Gedichte in Kollaboration erreichen diese zwar nicht vollends, sind aber Einlösungen des verzahnten Atems zweier getrennter Körper, die auf je eigene Art zu einem harmonischen Ganzen finden —: „die gegenwart tauschen mit jemandem der sagt erzähl mir vom atmen“. Insgesamt überzeugt das Buch auf ganzer Strecke, es ist durchdacht, tiefgründig, erliegt aber nicht der Versuchung manchen Erstlings, durch falsche Originalität zu blenden. Solche Lyrik ist ein Herz- wie Hirnschmaus und somit auch als Lektüre für alle geeignet, die vor einem zeitgenössischen Gedicht zurückschrecken, weil sie fürchten, es könne unverständlich sein. Das Gegenteil ist hier der Fall; und für den Lyrikkenner verästelt es sich zudem durch die Zitate und Anspielungen in interessanteste Nebengebiete. Kurzum: Ein Debütband, an dem man nicht vorbeigehen, in dessen Wortraum man vielmehr eintreten sollte, denn

die leichtigkeit von staub berührt dich immer wieder aufs neue eine richtung scheint es ja nicht zu geben alles scheint möglich hier im schier unerschöpflichen kosmos des feinst partikularen

Simone Scharbert
Erzähl mir vom Atmen
Verlag Lesezeichen
2017 · 88 Seiten · 10,00 Euro
ISBN:
978-3000580925

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