Wir verzichten auf das gelobte Land
Allein über den Titel könnte ich lange Assoziations- und Überlegungsketten schreiben. Denn nichts an diesem Titel „Wir verzichten auf das gelobte Land“ ist klar und eindeutig. Da klingt der Abbruch an, aber ist der Verzicht eine freiwillige bewusste Entscheidung? Oder die Folge dessen, dass „das gelobte Land“, als konkreter Ort, als Heimat, eine Gegend ist, die den Einzelnen verschlingt, abstößt, oder zumindest zum Stolpern bringt? All das klingt in den Gedichten Slata Roschals an.
Vielleicht aber entsteht das gelobte Land genau dort, wo eine bereit ist, darauf zu verzichten. Das wäre dann das Land, das Roschal ihre Leser betreten lässt.
Und so wie dieser Titel ist das gesamte Debüt von Slata Roschal, geboren 1992 in St. Petersburg und seit 1997 in Deutschland lebend, Gewinnerin sowohl des Jury- als auch des Publikumspreises 2018 des Landes Mecklenburg-Vorpommern, die gerade an ihrer Dissertation über Dostojewski schreibt.
In ihren Texten geht es um den Morgen, das Umziehen, um einen Aufbruch. Sie sind durch elegante Übergänge verbunden, Übergänge auch von sehr realen Situationen zu surrealen Szenarien. Und doch haben alle Texte eine ganz eigentümliche, leicht unheimliche Schwerelosigkeit, „die Schwerelosigkeit namenlos blasser Embryonen“, wie es in einem Gedicht Roschals heißt.
Und mit ebendieser Schwerelosigkeit und einer gewissen Grandezza verzichten Roschals Gedichte ebenso auf das gelobte Land, wie sie betreten:
„Wir ziehen ins gelobte Land
Mgnolia und Sekt und oberkörperfrei
Sind alle hier nicht Zeugen eines Wundersamen
Das Mädchen sagt Bei meiner Ehre
Zurückbleiben ruft ein Kind dem anderen zu
An schmalen Schultern tragen wir
Vier ähnlich große Taschen aus
An Wollresten verfärbten Nagelfeilen
Versteckten und gefundenen Tableaus
Hier ist Nicht einsteigen S-Bahn endet hier
Hier ist Ein feuchtgewischtes Treppenhaus
Wir stehen hier wie Prädikate zweiter Ordnung“
Wie Roschal mit feststehenden Dingen und daraus ableitbaren Bedeutungen spielt ist bemerkenswert.
Greifswald
Eine Auswahl an Wegen verdirbt das Gemüt
Also haben wir hier einen Weg eine Straße für alles zwei Ampeln
Ein Geschäft mit fünf Röcken und Blusen zur Auswahl
In verschwiegenen ähnlichen Farben
Gehen wir die Straße zum Haus hoch die Straße zurück
Jeder Weg führt zum Grau oder Grau
Dieser Ort ist ein Nichtsein er ernährt sich vom Regen
Vom ruhigen zitternden Atem
Von Ostern bis Neujahr tragen wir feste Kapuzen
Von Neujahr bis Ostern überwintern wir auf dem Sofa
Essen aufgebackenen Strudel und denken
An unsere Rolle im Lehrbuch
Für Geschichte und Politische Bildung
Denken ist menschlich asthmatisch erschöpfend
Überwintern heißt liegen und schlafen
Also schlafen wir liegend also liegen wir schlafend
Auf der Straße Möwenversammlung und Regen
Was für ein trostlos hoffnungsloses Bild von Menschen, die nicht ausziehen können aus ihrem gelobten Land, die beim Denken immer wieder auf ihre Position als „Prädikate zweiter Ordnung“ zurückfallen.
Und wenn sie vielleicht doch einmal versuchen wegzugehen, werden sie feststellen, wie ihr Körper die andere Stadt nicht annimmt. Wie es in einem Text ohne Titel, aber mit der Unterschrift 1.10.16 Leipzig-Greifswald heißt. Die Metaphern, die Roschal findet sind ebenso überraschend wie überzeugend.
Das gelobte Land wäre vielleicht ein Ort, an dem eine bleiben kann, der verbindlich ist und mit dem man sich verbunden fühlt. Der einem etwas abnimmt von der Überforderung selbst Heimat zu sein.
Und dann zum Schluss, mit dem letzten Gedicht, gibt Slata Roschal ihren Lesern einen Schlüssel. Plötzlich erkennt man, dass in allen Gedichten in diesem Band, die Beobachtung mitschwingt, dass nicht nur so etwas wie Tannenzapfenduft „eine relative Angelegenheit“ ist, sondern auch „das gelobte Land“, und am Ende auch so ein großer Begriff wie „Verzicht“.
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