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Kritik

Der ganze Flur ist voll mit Heinz

Hamburg

Dieses Jahr ist der neue Band von Sudabeh Mohafez in der Edition Azur erschienen. Er trägt den Titel Behalte den Flug im Gedächtnis. Es ist ihr insgesamt dritter bei dem Dresdner Verlag. Untertitelt Erzählungen, führt Mohafez ihre Prosaarbeiten fort und experimentiert mit der Form. Zu den meist eher kurzen Stücken gesellt sich ein deutlich längerer Text (– der möglicherweise so etwas wie das Herzstück des Bandes bildet.) Daneben finden sich ein Gedicht, das das titelgebende Behalte den Flug im Gedächtnis paraphrasiert, im Übrigen ein Vers der berühmten iranischen Dichterin Forough Farrokhzad aus Der Vogel ist sterblich. Am Schluss gibt es einen Kurzdialog zweier Berliner Dialektidiomaten über ein Plakat der Autorin mit dem eingerotwelschten Titel Moafeß. Anhand dieser klug gesetzten "Ausreißer" beziehungsweise Durchbrecher der ansonsten konsequent durchgehalten Form einer Sammlung ähnlicher Kurzprosastücke, öffnet Mohafez den Bandkorpus zur Überraschung hin.

Behalte den Flug im Gedächtnis ist in drei Abschnitte aufgeteilt: Von den Heimaten, Vom Überleben und Von der Rückkehr in die Liebe. In den typischen kurzen Prosastücken versucht sich Mohafez eher in der Evokation und dem lyrischen In-Bilder-Fassen einer Situation denn im erzählerischen Voranbringen einer Handlung im klassischen Sinne. Doch auch dieses Schema hat Lücken. So geht sie in Bauer Scheurle und die Jungfer im Kürbis oder: Was man von Hebel lernen kann den Spuren einer Märchenwaise nach, komplett in älterdeutschem Sprachtimbre und mit den "Orientalismen" der Jungfer Lilofeh, dem Dschinn der Kürbiseinsperrung und dem "bauernschlauen" Scheurle, ein clash, der mit den Worten schließt:

"Und was, bitte schön"; murmelte er verdrossen, "kann man daraus nun lernen?"

Tja eben. Die Unaufgelöstheit, das unstete Wandeln zwischen den Welten, deutsch und iranisch, und das Wandeln zwischen Beziehungen, die Möglichkeiten des Ausbrechens und das gleichzeitige Folgentragen, scheinen Mohafez Prosastücke umzutreiben. In knapper, doch sehr präziser Sprache analysiert sie Teile des Großen Ganzen. Am besten gelingt ihr das dann, wenn zum Vorschein kommt, was eben nicht gesagt wird, ihre Zeilen nur das Schürfen und Aufreißen der Situation ausmachen, es weniger auserzählen. Andersherum, die Geschichte Von wegen Türöffner, ein Gewinner eines MDR Literaturwettbewerbs vor Jahren, funktioniert recht anders, geht vom Stil her eher in Richtung klassische Kurzgeschichte, "wie erlebt" von einer Mietshausgemeinschaft, pointiert, bitter-übel und eines der Highlights von Behalte den Flug im Gedächtnis. In einem hellhörigen Altbau, in das sich Neo-Nazi Matze zurückgezogen hat, den Lautstärkeregler auf Maximum und dann abgerissen, geschieht etwas.

"Das ganze Haus spricht darüber. Matze tut, was er immer tut, zu jeder Tageszeit – außer zwischen ungefähr elf und achtzehn Uhr: Er hört laute, harte Musik mit deutschen Texten, was bedeutet, dass alle im Haus laute, harte Musik mit deutschen Texten hören, zu jeder Tageszeit – außer ungefähr von elf bis achtzehn Uhr."

Über repetitive Syntax nimmt der Text Fahrt auf, man erfährt von dem Suizid von Matzes Freundin. Ab diesem Zeitpunkt ist die Musik unterbrechungslos am Wummern und plötzlich stehen vor der erzählenden Hausbewohnerin Matzes Kumpels und erpressen das Türöffnen von ihr, denn Matze verlange nur nach ihr, "Det Medl", die einzige, die Matze entgegenzutreten gewagt hat. Über knappstes Auserzählen und mit Drive mündet die kurze Erzählung in die Überraschung. Ein toller Text.

Im Vorwort berichtet Mohafez selbst über die "hier versammelten Texte aus über zehn Jahren":

"So entstand von mir selbst gänzlich unbeabsichtigt, ein thematisch zwiefältiger Korpus aus Texten: Da gibt es jene, die aus meinem persönlichen Schreibinteresse resultieren, die um Weitergabe von Traumata, das Überleben gewalttätiger Strukturen und, vor allem, um die Rückkehr in die Liebe kreisen. Und es gibt die anderen, die auf Lebenswirklichkeiten der Mehrsprachigkeit, der Vielfalt, der Hybridität auch der Kulturwechsel fokussieren und so gut wie immer durch Anfragen von außen entstanden sind."

In der längsten und eingangs erwähnten, fast herzstückartigen Erzählung Übers Südkreuz und zurück, geht es erneut um einen clash in einer iranischen Stadt, hier mit Kindertransfer, zwischen einer deutschen Bourgeoisiefamilie und deren ehemaligen Putzhilfe , die als Kontrast dazu mit ihrer Familie in einer Höhle am Stadtrand nahe eines Slumgrabens lebt. Sie "entführt" Peter, das Kind jener so entfernten bourgeoisen Familie, und Mohafez benutzt die geschaffene, vermeintliche Außenseiterperspektive, um an dieser Stelle deutlich auszuerzählen, die Gefühls- und Gemütsregungen ihrer Protagonistin Nahid gänzlich sichtbar zu machen. Obwohl dies in starkem Unterschied steht zu der beispielsweise so verknappten Erzählart aus Von wegen Türöffner, funktioniert der Text ebenfalls sehr gut.

"Un wer is det nu?

                Wat weesn ickej. So' ne Tusse halt. Macht so Jeschichten un so.

[...]

Scheißtusse.

                Sarickdochej."

So die zwei Experten aus Moafeß. Auch wenn das Zulassen von Erzähldistanz schwankt und zwischen Ausformulieren und Weglassen sich die einzelnen Texte messen lassen, somit eine gewisse Verstreutheit des Tons (logischerweise bei zehn Jahren Entstehungszeit) sich erkennbar zeigt, so ist doch die Bandbreite von Mohafez Texten ein Leseerlebnis. Hinzu kommt die visuell ansprechende Gestaltung des Bandes, mit eher großem Format, mithin viel Text pro Seite, dennoch gut lesbar, und vor allem einem haptisch weichen, grau verfaserten Umschlagpapier mit rotgoldenen Titellettern. Eine wohldurchdachte Veröffentlichung und schöne Ergänzung zu Sudabeh Mohafez Romanen und "Kernerzählungen".

Sudabeh Mohafez
Behalte den Flug im Gedächtnis
Erzählungen
Edition Azur
2017 · 128 Seiten · 17,90 Euro
ISBN:
978-3-942375-31-3

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