Distanzierte Sachlichkeit
„Dass wir daran nicht mehr teilhaben können, dass wir an dem so fragilen Menschen und begabten Dichter Thien Tran nicht mehr teilhaben können, trifft mich, bestürzt mich schwer. Vergessen wir nicht ihn noch seine Gedichte. Nicht nur, weil sie uns erlauben, bei ihm zu sein.“
leider vergriffen Diese Worte schrieb Ron Winkler im Januar 2011, nur wenige Wochen nach Thien Trans viel zu frühem Tod in Paris im Alter von gerade einmal 31 Jahren. Gerade erst, 2009, war er mit dem Kölner Brinkmann-Stipendium ausgezeichnet worden, war sein Debüt „fieldings“ erschienen: Ein Gedicht und ein Essay, die, zusammengenommen mit seinen verstreuten Veröffentlichungen in Anthologien, mehr als bloß Neugier evozierten. Hier war ein Dichter, dessen bemerkenswerte Stimme sich schon früh deutlich abhob aus dem Grundrauschen der Lyrikszene. Einer, dessen Verse von Klarheit und Präzision ebenso zeugten wie von einem unbändigen Ideenreichtum, von einprägsamen Bildern, von der faszinierenden Vereinigung distanzierter Sachlichkeit und einer nur als echt zu bezeichnenden Emotionalität, die ihre Stärke gerade aus ihrer stets fragilen Zurückhaltung zog.
Fragil und zurückhaltend, ja distanziert – so scheint der Mensch Thien Tran gewesen zu sein, zumindest demzufolge, was mir jene erzählt haben, die ihn näher kannten. Ich begegnete ihm selbst nur ein einziges Mal, kurz, bei einer Zigarette vor einer Lesung (ich weiß nicht mehr, von wem) im Literaturklub Köln. Es muss im Sommer oder Herbst 2010 gewesen sein, also nicht lange vor seinem Tod. Doch bevor wir ins Gespräch kommen konnten, war er schon wieder verschwunden. Er blieb nicht, wartete nicht ab, bis die Lesung begann, hatte es sich vielleicht anders überlegt.
Thien Tran hat uns vor neun Jahren verlassen. Seine Gedichte sind noch hier. Bleiben hier. Ron Winkler hat sie gesammelt, hat im Archiv des Verlagshauses Berlin gesucht und gefunden, und zwar, wie er und Johannes Frank im Nachwort anmerken, „umfassend“. Manches Fragment wurde demnach nicht aufgenommen, aber insgesamt mehr als hundert Gedichte, die, teils für einen damals in Planung befindlichen Band, fertig oder fast fertig ausgearbeitet waren – wobei eine Handvoll Texte in zwei oder auch drei Versionen nachvollziehbar machen, wie sich die Arbeit an ihnen vollzog, wie Form und Formulierungen gestaltet sind.
Das Ergebnis liegt nun unter dem schlichten Titel „Gedichte“ im Elif Verlag vor. Und diese Gedichte haben nichts von ihrer Kraft eingebüßt. Es sind Verse eines jungen Dichters, der vielleicht irgendwann zu jenen gezählt werden wird, die schon früh im Leben eine so individuelle und wirkmächtige Stimme und Form gefunden haben, dass ihr Werk besteht. Aber auch eine Frage spricht unentwegt aus diesen Buchseiten: Wo wäre Thien Tran jetzt? Hätte er sich längst zurückgezogen? Oder hätte er längst die wichtigsten Lyrikpreise abgeräumt und gälte als einer der ganz Großen des Genres? Das wird ein Geheimnis bleiben.
„So ungefähr November“ lautet der Titel eines Gedichts:
Fahne auf Halbmast
die von harter Arbeit
gezeichneten
Gesichter der Nachrichtensprecher
Arbeitslosigkeit steht an
und Langeweile
die älteren Menschen unter uns
kennt man vom Ein- und Aussteigen
in den Bus
aber dann verschwinden sie wieder
von der Bildfläche
graue Zahlen für dieses Quartal
in der Bevölkerung gehen die Passfotos
in Druck. die Industriewolken
der Industrie bestätigen diese Stimmung
eine langanhaltende tiefgreifende
und nicht zu unterschätzende Normalität
macht sich breit
wobei Armut und Normalität
sich immer wechselseitig bedingen
während die Armut steigt.
Aus dieser nicht zu unterschätzenden Normalität spricht jene sachliche Distanziertheit, jener präzise Blick, der die Welt nur scheinbar auf Abstand halten will, während sie doch längst jede Pore durchdrungen hat. Es sind Gedichte, deren Inhalt oft in krassem Kontrast zur Form und zum Ton steht, und die genau daraus ihre unglaubliche Wucht ziehen, der man sich als Leser nicht ent-ziehen kann: „die Übergänge von einem Selbstbild / zum anderen. erfolgten fast geräuschlos / ohne Brüche“. Aber eben nur fast. Für die leisen Brüche im Selbst sind Thien Trans Gedichte ein Seismograph. Dass sie nun umfassend zugänglich sind, dass sie „uns erlauben, bei ihm zu sein“, ist ein Grund für Dankbarkeit.
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