{abschweifen} (einfangen) [festhalten]
Der Gedichtband Ab hier nur Schriften von Timo Brandt beginnt mit einem mehrseitigen flanierenden Langgedicht, das ganz unvoreingenommen mit offenen Augen durch einen Tag schlendert.
Der Kartenabreißer kann sich nicht ins Kino setzen: ausverkauft.
Erzählt werden darin die kleinen Dramen des Alltags so, als handelte es sich um weltbewegende Ereignisse, ganz knapp und ohne jegliche Erklärungen. Gerade deswegen bleibt uns zum Beispiel der unvermutete Kartenabreißer, oder anderes, im Gedächtnis hängen.
Die Badewanne
gurgelt mit dem Klo.
Das Gedicht verbindet an sich Unzusammenhängendes, was sehr erheiternd ist. Auf jede Episode fällt der Blick nur kurz und schon sind wir weiter gegangen, schon wieder daran vorbei.
Eine Uhr wird auf Sommerzeit umgestellt
und geht fünfundzwanzig Tage lang falsch.
Ein Dichter zu sein bedeutet für Timo Brandt offen zu sein und ein großes Einfühlungsvermögen zu haben. So schlüpft er beispielsweise in die Perspektive von Grabsteinen auf dem schwedischen Friedhof Bjäresjö, oder imaginiert sich schreibend als Handtuch:
Ich will ein Handtuch sein und alle nassen Stellen
an einem warmen Körper trocknen. Dann
will ich im Wind hängen und all die Nässe soll
langsam, langsam trocknen.
Die Gedichte vermitteln sich mir als suchende, sehr ambitionierte Gedichte, die ungestüm in alle Richtungen ausschlagen.
ungestüm, aber kein Ungetüm bin ich, Vogel.
Freude schöner Sägespäne, Tochter macht ihr Physikum. es muss
was aus uns werden. Ich zum Beispiel will noch fliegen lernen.
Die suchende Grundstimmung findet ihr Pendant im wiederkehrenden Motiv des Windes, der durch den gesamten Gedichtband weht, oder düst.
Es düst der Wind
wie eine Mischung aus spielendem Kind
und Überschallflugzeug
durchs Laub.
Einerseits ist diese Suche nach vorne, auf noch zu Erwartendes gerichtet, andererseits begeben sich die Gedichte aber auch auf die „Suche nach der verlorenen Zeit“, erinnern sich also an Kindheit und Adoleszenz, oder anders gesagt ans „Zeitalter der Butterbrote“. Der Gedichtband schließt mit einer „Elegie auf einen kleinen weißen Hund“ mit welchem eben diese Zeit verbunden ist.
Timo Brandt ist ein Dichter der Vielstimmigkeit. Jedes einzelne Gedicht ist ein Charakter für sich, eine ganz eigene Persönlichkeit. Die Gedichte stehen für sich und treten weniger miteinander in Dialog, als vielmehr mit der Welt außerhalb des Buches, in dem sie versammelt sind. Mit der Bezugnahme auf andere Menschen, in Form von Gedichtwidmungen oder direkten Ansprachen, und auch mit dem Einbeziehen von Zitaten, wie beispielsweise von Leonard Cohen oder Joseph Brodsky, sind die Gedichte sehr verortet in der Welt, im Hier und Jetzt. Es sind durchwegs dialogische Gedichte, besonders ersichtlich wird das an einem Brief in Gedichtform bzw. einem Gedicht in Briefform. Die Gedichte gehen sehr auf ihr jeweiliges Gegenüber ein, woraus ihre Vielstimmigkeit resultiert. Als Gegenüber der Gedichte treten verschiedene Widmungsträger und -trägerinnen in Erscheinung. In einem, einem Gedicht vorweg gestellten, Zitat von Richard Brautigan heißt es: „Alle Mädchen sollten ein Gedicht haben, das nur für sie geschrieben ist, und wenn wir dazu die gottverdammte Welt auf den Kopf stellen müssen.“ Dieses Zitat nimmt Timo Brandt sich durchaus zu Herzen, viele der Gedichte sind Widmungsgedichte und Timo Brandt besingt in seinem Gedichtband nicht eine singuläre Laura, sondern viele verschiedene Frauen, sei das nun eine anonym bleibende, „Mit der ich einst Lasagne aß“, oder die 416 n. Chr. verstorbene Wissenschaftlerin und Philosophin Hypatia, von deren Werken rein gar nichts erhalten geblieben ist. Doch warum sollten nur alle Mädchen ein Gedicht für sich haben? Wäre es nicht schöner, wenn jeder Mensch zumindest ein Gedicht besitzen würde, das nur für sie oder ihn geschrieben wäre? Das hat sich wohl auch Timo Brandt gedacht und widmet seine Gedichte sowohl Frauen, als auch Männern, jeweils immer nur eins, für Cornelia, für Luca, für Christiane, für Dennis, für Frieda Paris, für M.H. für Lynn, für Carla und auch der gesamte Gedichtband ist vielen gewidmet:
für all die Leute in Wien
und anderswo, die schon wissen,
dass sie gemeint sind
Der Eindruck der Vielstimmigkeit könnte auch darauf zurück zu führen sein, dass die Gedichte möglicherweise zu unterschiedlichen Anlässen und in verschiedenen Kontexten entstanden sind. Im Buch wird diesbezüglich nichts angeführt, aber mir selbst begegnete eines der Gedichte schon in anderem Zusammenhang: das schlicht „Gedicht“ übertitelte Gedicht, welches in Ab hier nur Schriften Frieda Paris gewidmet ist, kenne ich schon aus dem Literaturboten 131/132 (Die Mayröcker-Variationen). Diese Ausgabe der Zeitschrift versammelt Gedichte und Beiträge, die sich alle auf einen bestimmten Text Friederike Mayröckers beziehen. In Ab hier nur Schriften findet sich allerdings kein Hinweis darauf, dass sich dieses Gedicht von Timo Brandt auf einen Text Friederike Mayröckers bezieht. Wenn ich das nicht weiß, lese ich das Gedicht natürlich anders und ich frage mich, ob es für andere Gedichte ebensolche spannende Zusatz- und Hintergrundinformationen gibt. Ein Gedicht muss natürlich immer auch für sich alleine stehen können und braucht keine Erklärungen. Aber trotzdem ist es ein Gewinn für mich als Leserin, wenn ich weiß, auf welchen Text von Friederike Mayröcker sich dieses Gedicht bezieht.
Einige Bezugnahmen gehen aber auch direkt aus dem jeweiligen Gedicht hervor. Zumindest noch ein weiteres Gedicht bezieht sich auf Friederike Mayröcker, wie uns hier allerdings schon der Titel verrät, der „Mayröcker mitschreiben“ lautet. Ein anderer Gedichttitel wiederum bedarf keiner Namensnennung, um klar zu entschlüsseln zu sein, denn bei „Fragmente einer Sprache des Wunders“ denkt man von ganz alleine sofort an „Fragmente einer Sprache der Liebe“ von Roland Barthes.
[…]Nachts springen wir über den Träumen ab.
Nicht mehr bloß weit verzweigt,
sondern tief verwurzelt.
[…]
Timo Brandt zeigt sich mit Referenzen wie diesen als Vielleser, so wie man ihn auch als unermüdlichen Rezensenten kennt. Die Art und Weise, wie er sich auf die Texte anderer Autoren und Autorinnen bezieht, kann wiederum als dialogisch bezeichnet werden. Durch seine Gedichte ist es ihm möglich, auch mit Autoren und Autorinnen in ein Gespräch zu treten, die er nicht mehr persönlich kennen lernen konnte, wie eben Roland Barthes oder auch Mascha Kaléko. Bei dem an Mascha Kaléko gerichteten Gedicht beschreibt die erste Strophe diese Erfahrung unheimlich sacht:
Als ob man sich, vielseitig, kennen würde
und doch ist man sich gänzlich unbekannt.
Doch nimmt die Dichtung, deine, diese Hürde,
und drückt durch das Papier kurz meine Hand.
Fixpoetry 2019
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben