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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Kritik

Von Fäden und Löchern im Netz

Hamburg

Annegret Soltau, Source: Annegret Soltau.de

"Je beschissener die Kindheit, desto besser die Kunst,“ lautet eine der sehr direkten und schlagwortartigen Aussagen Marina Abramovic. Schenkt man dieser Sichtweise Glauben, hatte Annegret Soltau von Anfang an sehr gute Voraussetzungen Künstlerin zu werden. Den Weg, auf dem sie tatsächlich zu einer der bedeutendsten Gegenwartskünstlerinnen geworden ist, erzählt Baldur Greiner in den biografischen Aufzeichnungen Annegret Soltaus „Ich war total suchend.“

Annegret Soltaus Lebensweg beginnt mit einer Lücke, sie soll, trotz intensiver Bemühungen, niemals erfahren, wer ihr Vater gewesen ist, lediglich der Name und ein Foto bleiben ihr von ihm. So wächst Annegret als uneheliches Kind eines Soldaten, nicht nur vaterlos, sondern auch sehr früh ohne Mutter auf, die das gerade neun Monate alte Baby ihrer Mutter übergibt, weil sie selbst Arbeit und Kind nicht vereinbaren kann. Auch später, als die Mutter einen anderen Mann heiratet und mit ihm nach Hamburg zieht, bekennt sie sich nicht zu ihrer Tochter. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter ist durch Distanz und Ablehnung geprägt.

Das Leben bei der Großmutter ist von Entbehrungen und Arbeit geprägt. Es gibt wenig Worte und noch weniger Verständnis, dafür viele Pflichten. Der einige Jahre nach dem Krieg zurückkehrende Onkel und die Freundin Monika, ebenfalls ein uneheliches Kind, machen die Situation für Annegret ein wenig erträglicher.

Von Bildung hält man in diesem Umfeld nicht viel, und so ist es Annegrets Volkschullehrer zu verdanken, dass Annegret weiter die Schule besuchen darf, er ist es auch, der Annegret schon früh das Gefühl vermittelt, dass ihre Zeichnungen etwas Besonderes sind.

Nach dem Besuch der Höheren Handelsschule beschafft sich Annegret selbstständig und ohne jegliche Hilfe einen Ausbildungsplatz bei der Dresdner Bank in Hamburg. Während sie recht schnell feststellt, dass die Arbeit mit Zahlen ihr nicht entspricht, ist Hamburg die richtige Stadt, um Annegrets ausgehungerten Geist mit Nahrung zu versorgen. An erster Stelle steht naturgemäß die Malerei: wo es ihr möglich ist, beobachtet Annegret Maler und macht sich mit den unterschiedlichen Kunstrichtungen vertraut. Aber auch der botanische Garten und Vorlesungen an der Hamburger Universität, sowie Theater und Literatur, entdeckt Annegret in Hamburg. 

Während eines schwierigen Au Pair Aufenthaltes in England, entschließt sich Annegret, Kunst zu studieren. Zurück in Hamburg, wird sie Opfer einer Vergewaltigung, auch in dieser Situation ist ihre Mutter nicht fähig, ihr Beistand zu leisten.

Annegret Soltaus Lebensweg verläuft zwischen der Notwendigkeit großer Selbstständigkeit, sie muss schwierige Lebenssituationen allein bewältigen, erkämpft sich den Studienplatz und die Möglichkeit zu studieren selbstständig, und unerwarteter Hilfe, von Seiten des Volksschullehrers, oder des Professors, der ihr nach einem harten ersten Studienjahr, ein Stipendium verschafft, das wenigstens die Mietkosten deckt.

Die politischen Unruhen der 1968er Jahre verändern auch den Studienalltag, aber auch davon lässt sich Annegret nicht von ihrem Studium abzuhalten. Sie wechselt häufig die Professoren und Arbeitsrichtungen. Orientierungslos ist sie nicht, aber den eigenen Worten nach „total suchend“.

Als sie 1986 ein einjähriges Aufenthaltsstipendium der Villa Massimo erhält, hat sich der Faden, an dem entlang Annegret Soltaus Suche verläuft, bereits herausgeschält. Da sie bereits in der Schwangerschaft, Kunst und Kinder als Einheit erlebt hatte, ist es keine Frage für sie, Sohn und Tochter mit nach Rom zu nehmen. 

„Kunst und Kinder waren in Annegrets Werk zu einer Einheit geworden. Schon während ihrer Schwangerschaften 1977/78 und 1980 setze sie sich intensiv mit diesem Thema auseinander. In vielen ihrer Bilder manifestieren sich die existentielle Angst, der Schmerz und die Freuden der Mutterschaft. Die Bilder galten in der Öffentlichkeit aufgrund ihrer direkten Körperlichkeit als umstritten. Das Thema Schwangerschaft war und ist immer noch ein Tabu in der bildenden Kunst.“

Auf ihrer Website liest man als erstes folgendes Statement: „Mein zentrales Anliegen ist, körperliche Prozesse in meine Arbeit einzubeziehen und mich selbst zum Modell zu nehmen, weil ich mit mir am weitesten gehen kann.“ Die Seite, bzw. der dazugehörige Blog existieren erst seit 2011, aber ich bin sicher, dass dieses Verständnis viel länger schon als Leitfaden bei ihrer künstlerischen Suche wirksam ist. Schon bei den Experimenten mit Spinnenweben, von denen aus der Faden eine Rolle zu spielen beginnt, mit dem sie während öffentlicher Kunstaktionen das Publikum einzuspinnen begann. Für die Fotoüber- und vernähungen, aus denen auch das Titelbild für „Ich war total suchend“ stammt, benutzt Annegret Soltau stets ihr eigenes Gesicht.

Ihre Absicht ist nicht, zu provozieren, aber ebenso wenig ist ihre Absicht, „schöne“ Kunst zu machen, die „zu den Wohnzimmermöbeln passt“ (Abramovic). So führt der Faden an dem entlang sich Annegret Soltaus Kunst entwickelt, immer wieder durch Tabus. Zuletzt wurden die Bilder ihrer Serie „Generativ“ 2011 bei einer Ausstellung in Frankfurt tagelang mit schwarzen Tüchern verhüllt. Zum Glück lässt sich Annegret Soltau dadurch nicht beirren. Statt eines feststehenden Ziels hat sie den Faden gefunden, an dem entlang ihre Suche verläuft. Dass das nicht immer einfach ist, ist sie von frühester Kindheit gewohnt, wie man nach der Lektüre von Baldur Greiners Buch weiß.

Baldur Greiner erzählt liebevoll den Werdegang Annegret Soltaus zur Künstlerin und versammelt neben persönlichen Fotos auch repräsentative Werke, anhand derer die künstlerische Entwicklung (und dieses Wort ist bei Annegret Soltau besonders wörtlich zu nehmen) nachvollzogen werden kann. Sichtbar werden also einige der, ganz persönlichen und doch teilweise repräsentativen, Zusammenhänge, aus deren Gewalt es Annegret Soltau mit ihrer Kunst gelungen ist, sich zu befreien. Insofern ist dieses Buch nicht nur Biografie einer bedeutenden Künstlerin, sondern auch ein Stück Zeitgeschichte.

Baldur Greiner · Isolde Nees (Hg.)
Annegret Soltau:
Ich war total suchend
Weststadt
2013 · 116 Seiten · 19,80 Euro
ISBN:
978-3-940179-17-3

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