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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Kritik

Es war einmal: die Romantik ohne Handy

Es müssen nicht immer komplexe, wissenschaftlich durchstrukturierte Texte von Romanlänge sein, die mir Verwirrung stiften. Manchmal, eigentlich ziemlich oft, sind es auch einzelne Begrifflichkeiten. Das mit dem Aufkleber "Bauernglück" versehene, abgepackte Stück Putenbrust zum Beispiel, welches im für den Endverbraucher optimalen Fall eher den Aufdruck "Putenglück" tragen sollte, denn was mag "Bauernglück" bedeuten – ökonomisch optimiert produziertes Magerfleisch?

Das mit der Putenbrust war gestern, heute liegt der Gedichtband "Schiesst nicht aufs Mondkind" von Chris Hassler vor mir, verlegt beim im schweizerischen Oberegg beheimateten orte-Verlag und dort als Band 26 der Lyrikreihe fund-orte erschienen (mit schönem, geschöpftem Umschlag, der aus jedem der 550 nummerierten und vom Autor signierten Exemplare ein Unikat mit haptischem Nährwert macht). Auf das Mondkind schießen – wer sollte das tun, und warum? Und wer oder was ist überhaupt ein/das Mondkind? Das Kind vom Mann im Mond? Oder ist der Bezug bei den an der Mondscheinkrankheit leidenden Menschen zu suchen, jenen "Mondkindern", die aufgrund eines genetischen Defekts das Sonnenlicht zu meiden haben?
Möglich wäre durchaus beides.

Nun, Tatsache ist: Der Vergleich mit bzw. die Zuordnung zu den Beatniks, wie sie im Presseinfo zum Buch vorgenommen wird, ist mit ihrer sprachlichen Direktheit und Experimentierfreude nicht ganz abwegig, bei genauerem Hinsehen jedoch im Grunde überflüssig und eher in die Irre führend als hilfreich. Die Bezeichnung des Beatniks setzt unwillkürlich Assoziationen frei, Begriffe wie Cut-Up, Homosexualität und Jazz, Kif und hohe Berge. Doch Chris Hassler ist der erste Chris Hassler, nicht der zweite Burroughs oder Kerouac, und seine Gedichte sind substantiell durchaus dazu angetan und in der Lage, für sich selbst zu stehen, keine abgelaufenen Schubkästen öffnen oder neu bestücken zu müssen.

Angebrachter erscheint es jedoch, und auch diese Formulierung entstammt den Angaben zum Buch, Hasslers Gedichte als „frech, direkt und tagebuchartig“ zu bezeichnen, denn das sind sie. Sehr, nun ja, menschlich kommen seine Gedichte daher, teilweise auch recht persönlich. Zudem, und hier muss ich die herangezogene Verwandtschaft zum ebenfalls mit ihm in Verbindung gebrachten Charles Bukowski anerkennen, sprühen seine Gedichte vor Romantik. Romantik einer sehr persönlichen, nicht gewöhnlichen Art, die sich nicht an Schnittblumen und Kerzenlicht festmachen lässt, sondern sich in der Erinnerung an die guten Zeiten ausdrückt, in der ein Liebesschwur noch mit mehr Aufwand und Umfang an die Frau gebracht wurde als mit einer 160-Zeichen-SMS zwischen Sockenanziehen und Zähneputzen. Erinnerungen an die Musik der eigenen Jugend, an "Nights in White Satin", an gelbe Unterseeboote, an Manuela und die Stones. Erinnerungen eines in den 1950er-Jahren Geborenen, dem es trotz Aufgeschlossenheit und ohne Scheuklappen nicht so recht gelingen mag, sich mit der technisierten Gegenwart anzufreunden, einem Menschen, der sich offen nach früher sehnt – nach einer Zeit, als man bei Prügeleien noch aufgehört hat, wenn einer der Kontrahenten am Boden lag: Auf einem anderen Planeten / nicht hier & nicht jetzt / verkauft Lily ihre Tulpenzwiebeln / geht tapfer auf die 50 zu hütet / ihre 17-cm-Vinylschallplatten ... // Als noch keine Marionetten / im Gleichschritt nach der Pfeife / quotengeiler TV-Anstalten & herzkalter / Gymnastiktrainer über die Bühnenbretter / tanzten /... (aus: LAMENTO II / 2002).

Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass es nicht nur mir so geht, dass sich beim Lesen von Gedichten eine bestimmte Musik in den Kopf schleicht. Chris Hasslers Gedichtband ist melancholisch, ohne dabei dramatisch oder gar depressiv bzw. negativ zu sein. "Schiesst nicht aufs Mondkind" lese ich mit Musik im Ohr, mit einer Mischung aus dem Cure-Album "Disintegration" und frühen Songs von Stephan Sulke.

Chris Hassler
Schiesst nicht aufs Mondkind
orte
2006 · 80 Seiten
ISBN:
978-3-858301376

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