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Kritik

hydrargyrum. lebendiges silber.

Der Lyrik-Debütband von Eric Giebel ist sperrig, aber nicht ohne Meriten.
Hamburg

Diese Biographie deckt einiges ab: Eric Giebel, geboren 1965, Berufsausbildung zum Schreiner, Studium der Architektur, arbeitet als Schriftsteller und Webdesigner. Wer will, kann angesichts dieser Laufbahn über eine Entwicklung "vom Konkreten ins Abstrakte", "von physisch greifbaren zu virtuellen Kräftegleichgewichten" fabulieren. Man kennt es ja: Das Greifen hauptberuflicher Textinterpreten und Moderatoren nach Strohhalmen, wenn sie mit Autoren konfrontiert sind, die in ihrem Leben noch etwas anderes als Texte gemacht haben; die Fehlannahme, einen Lebensweg deuten zu sollen, als wäre er selbst schon ein Oevre... Wer will, kann das Fabulieren auch bleiben lassen und sich Giebels Gedichten in seinem Debütband "Quecksilber in Manteltaschen" zuwenden - wird aber schnell merken, dass er um die Frage nach dem Biographischen in diesem speziellen Fall nicht ganz herumkommt. Oder sagen wir: Um die Frage nach dem Kontext.

Der erste der acht Abschnitte dieses Gedichtbands ist nämlich mit "Resonanzraum Bitterfeld" überschrieben - und was dieser Überschrift folgt, sind dann keine Fingerübungen oder intellektuellen Selbstverortungsgymnastiken in Bezug auf jene Position innerhalb der deutschen Literaturgeschichte namens "Bitterfelder Weg". Denn wenn Giebel "Bitterfeld" sagt, dann meint er etwas anderes: Den Industrie- und Bergbaustandort, an dem sich am 11. Juli 1968 eine Chemiekatastrophe mit 42 Toten und 200 Verletzten ereignet hat. Dass dieser Standort eben auch der "Greif-zur-Feder-Kumpel"-Bewegung ihren Namen gab, ist bloß (bitterironisch lesbarer) Bestandteil der Wirklichkeit, die Giebels Gedichte in jenem ersten Abschnitt behandeln. Und zwar - was zur Frage nach Kontext oder Biographie zurückführt - in einer Weise behandeln, die mich, hätte ich die Autorenvita in der Umschlagseite nicht gelesen, glauben lassen würde, ich hätte es mit den "authentisch"-bitteren Texten eines schreibenden Überlebenden jener Katastrophe zu tun, oder eines Angehörigen.

Wir nehmen also zur Kenntnis: Giebel wendet diverse Personae-Verfahren an. Das lyrische Ich ist jeweils Teil der Textinszenierung - keinesfalls souveräne Beobachtungsinstanz, sondern vielmehr Sollbruchstelle jener Wirklichkeiten. Wir nehmen aber auch zur Kenntnis: Dass das Gemachte dieser Texte seinerseits nicht ausgestellt wird. Das meint nun nicht einfach nur, dass Giebel den ironischen Gestus meidet, sondern auch, dass er im Gegensatz zu diesem den Gestus der unerbittlichen Ernsthaftigkeit durchgehend aufrechterhält. Dieser Zwiespalt - Methode Maskenspiel, aber Echtheitsgestus - erscheint mir, angesichts der Größe und Schwere der in diesen Gedichten ausgedrückten, durchdeklinierten Schmerzen und Vorwürfe, schwer erklärlich. Das gilt auch für Gedichtgruppen unter anderen Überschriften als jener ersten. Auch wenn dort die Schmerzen anderen Ursprung, andere Geschichten haben - die Konstellation bleibt die gleiche: Erstens: Personae; aber zweitens: der Gestus unerbittlichen Ausdrucks von Schmerz, Wut, Beschädigung; drittens: Detailreichtum der Schilderungen, der ins Biographische wie Dokumentarische weist, ohne sich darin annähernd zu erschöpfen.

Wie diese ungewöhnliche Kombination nun rezipieren? Konzentriere ich mich aufs Inhaltliche, aufs dargelegte Skandalon? Oder aber: Konzentriere ich mich aufs Formale, auf den Flash der Persona-Inszenierung, den Bruch zwischen wohl gesetzter Gedichtform und unwohl gesetzter Welt-im-Text? Diese Frage lässt sich noch einen Dreh weitertreiben: Sind sie bedrohlich, diese Gedichte, oder sind sie im Kant'schen Sinn erhaben (was noch nichts über Qualität aussagt, bloß über die dem Text zuzuweisende Wahrnehmungsebene)? Muss ich in sie, in die Schmerzen des Subjekts, einsteigen, sind diese das gültige Kriterium, oder darf ich sie kontemplieren? Nicht erleichtert wird mir die Entscheidung durch die Komposition des jeweiligen Materials in Strophenfolgen, die mit "natürlich" wirkender Autorität des scheinhaft Faktischen voranschreiten - zwar wiederum bloß zweite Natur, aber als solche mit Unhintergehbarkeit ausgestattet, als sei sie die erste...

Ein ganz anderer Strang theoretischer Überlegungen zu dem Band als Ganzem würde - und damit sind wir ebenfalls wieder im Reich des Kontexts statt der getreuen Lektüre - nicht ohne das Wort "Totalitarismustheorie" auskommen. Es verwundert nicht, dass ein Gedichtband, der immer wieder zu den dunklen Seiten der DDR und ihrer Industrie zurückkehrt, und der programmatisch von Schmerzen handelt, die dem Individuum von aussen zukommen, immer wieder Absätze wie den Folgenden bereithält:

" (...) / jenseits der grenzwerte. vernichtung durch arbeit /// macht frei und deutsch. jugend im jahr 1980. / todesursache: planerfüllung, quecksilbervergiftung, / (...)"

Natürlich will uns das Verketten von "Vernichtung durch Arbeit" (NS-Diktion) mit der "Freien Deutschen Jugend" an dieser Stelle eine Kontinuität zwischen NS-Regime und realexistierendem Sozialismus in der Sache suggerieren, wo schon keine in der Weltanschauung geherrscht hat (Weltanschauung: irrelevant aus der Perspektive der Endlich- und Verletzlichkeit, sagen Giebels Gedichte mit Foucault. Was zählt, ist das Macht oder Ohnmacht der Körper, über Körper). Man kann nun schlecht über geschichts- und gesellschaftsphilosophische Thesen in Gedichten argumentieren (die Sixtinische Kapelle kein Gottesbeweis, die späten Liebesgedichte Ginsburgs kein Grund, das Pädophilieverbot aufzuheben). Man kann aber darauf hinweisen, dass Giebels Sicht dieser Dinge in den Kontext einer Debatte gehört, die derzeit in Deutschland ganz reale Auswirkungen auf z.B. die Verwaltung von Gedenkstätten und das Schulcurriculum hat.

Soviel zum (überraschend weiten) Denkraum, in dem wir uns bewegen müssen, um uns über Eric Giebels Gedichtband "Quecksilber in Manteltaschen" klar zu werden. Noch nichts ist damit aber über die Frage gesagt: Können diese Texte was? Und: Was können sie?

Hier muss ich sagen: Ich bin mir im Unklaren. Ich bewundere das erwähnte strenge Voranschreiten der Komposition und die völlige Abwesenheit falscher Scham in diesen Texten. Gelegentlich jedoch macht es den Eindruck, dass einzelne Einfälle oder Vokabeln "zu groß" für ihr Umfeld im Text sind, diesem zu krass gegenüberstehen, oder schlicht zu platt sind angesichts der technischen Höhe des restlichen Bandes. Diese Vokabeln und Einfälle wirken dann im besten Fall wie uneingelöste Versprechen, im schlechtesten Fall - und wie gesagt, nur vereinzelt - wie unreflektierte Gebrauchslyrik zur Verarbeitung schlimmer Erlebnisse. Das gehört natürlich wiederum zum zu Ende gedachten Persona-Verfahren Giebels, aber es wirft mich gleichwohl aus der Lektüre.

Kurz: An den Gedichten Eric Giebels ist was dran. Er hat es zum Mindesten vermocht, mich zum wieder- und wieder- und wieder-Lesen zu bewegen. Was genau an ihnen dran ist, werden weitere Publikationen des Autors die Leser deutlicher sehen lassen als dieser.

Eric Giebel
Quecksilber in Manteltaschen
Pop Verlag
2015 · 106 Seiten · 14,50 Euro
ISBN:
978-3-86356-098-0

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