Kreisende Möwen
Zaman
vom möwenturm ans goldene
ufer wachsen lichtflecken aus flüsternden steinen
sie flüstern vom dichter
milli hain milli hain
vom flug nach asien und dem blattgold
auf postkarten: was die verblichenen gesichter
erzählen was die zigeuner verkaufen am stacheldraht
an der kirche am zeitgewächs
an zeilen
Die scheue Schönheit kleiner Dinge ist der Titel einer Sammlung von Gedichten von Hugo von Hofmannsthal und es wäre ein ebenfalls passender Titel für Gerrit Wustmanns Gedichtband Istanbul Bootleg. Was das lyrische Ich auf seinen Streifzügen durch die Stadt am Bosporus aufspürt, ist die schlichte Schönheit kleiner Dinge und Beobachtungen: stumme Katzenpfoten, mit roter Farbe an die Wand gesprühte Jahreszahlen, schweigende Teppiche, eine Handvoll Pistazien, sonnengebleichte Augen…
Istanbul Bootleg ist der zweite Band eines dreiteiligen Gedichtzyklus über Istanbul. Für das darin enthaltene Gedicht zaman erhielt der Autor, der u.a. auch Herausgeber persischer Lyrik im deutschsprachigen Raum ist, 2012 den postpoetry.NRW-Lyrikpreis.
Wie auch in diesem Gedicht werden die Gedichte leitmotivisch immer wieder von Möwen durchflogen. Wie die Vögel über das Meerwasser, kreist auch der Band immer wieder über zwei zentrale Themen: Stimme und Schrift. Istanbul ist eine Stadt der Rufe und Zeichen. Eine Stadt des Gesangs und der Ornamente.
Der Tag ist getaktet durch das fünfmalige Rufen der Muezzin vom Minarett, nach dem man sich die Uhr stellen kann. Auf den Märkten, in den Gassen, über die Brücken schallt das Rufen der Händler und Sesamkringelverkäufer.
Das Wort bootleg bezeichnet nicht autorisierte Tonaufnahmen und Mittschnitte. Der zweisprachige Band Istanbul Bootleg ist der Versuch die Seh- und Höreindrücke der Millionenstadt unzensiert und ungefiltert zu verschriftlichen. Die unmittelbaren Eindrücke in leichte, bildliche Verse zu überführen. Immer wieder schleichen sich daher Turzismen als Zwischenrufe in die Verse hinein, als Mitschnitte des belebten Stimmenwirrwarrs.
Passend dazu liegt dem Band ein Hörbuch bei, in dem der Autor selbst die deutschen Texte und die türkischstämmige Schriftstellerin Oya Erdoğan die türkischen Übersetzungen liest.
Neben der Vielzahl der Stimmen und Rufe, ist die Stadt auch durchzogen von lesbaren und von geheimnisvollen Zeichen.
die ornamente
im staubigen boden
lösen sich auf die gegenwart
vergeht auf nassen wänden
zeichnen sich muster ab
die schrift an der wand
wölbt sich zur nacht die schrift
ein bröckelndes gold
ein brackendes wasser und
flüsternde algen die ornamente
in den händen der betenden
zur morgenröte bricht der klang
wo das licht sich trifft
an diesem einen punkt aus
tausend fenstern unter der kuppel
die ornamente auf marmor
und staub
Es geht Gerrit Wustmann nicht um Deutungen oder Bewertungen. Das beschworene mene mene tekel uparsin, die Schrift an der Wand, die einst König Belsazar so erschreckte, sie bleibt unbedrohlich. Kündigt nicht das Ende eines Königreichs an. Die Zeichen sind günstig. Die Betenden sind fromm und gottgefällig. Zur Morgenröte kommen Licht und Klang, das Visuelle und das Auditive, um das der Band kreist, sogar endlich zusammen, in dieser scheinbar zeitlosen Stadt.
Istanbul Bootlegist ein Streifzug durch Bilder, Stimmungen, Sinneseindrücke. Die Gedichte sind leserfreundlich, leicht, zugänglich, hell und unmittelbar, zuweilen aber leider auch etwas banal. Wer sich aber immer wieder daran stößt, dass zeitgenössische Lyrik unverständlich, privatistisch oder abgehoben sei, dem dürfte dieser Band eine große Freude bereiten.
Den Gedichten vorangestellt ist ein Vorwort des türkischstämmigen Schriftstellers Doğan Akhanli. Eine ebenfalls poetische Liebeserklärung an Istanbul, die dunkle Schönheit am Bosporus, und natürlich an die Literatur.
Da schlenderte ich eine Weile an alten Gedichtbänden vorbei.
Dann fragte ich den Verkäufer, wo ich Gedichte finden kann, die noch nicht geschrieben worden sind.
Er sagte es mir
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