Hinab zu den Urbildern
Zu den Müttern gehen, hinab zu den Urbildern, ist schwer und gelingt nur Wenigen. Nur die äußerste Not des Ganzen, nur die äußerste Not eines Einzelnen zwingt die Kraft herbei, hindurchzudringen durch den Traditionsschutt der Jahrhunderte ins Jenseits alles Gewussten: hin zum Chaosgrund der reinen Energie, zu den noch namenlosen Quellen. Nach den Vorgängern Hölderlin und Nietzsche, die in diesem Wagnis fruchtbar gescheitert sind, hat Gräser, herabgestiegen aus bürgerlicher Selbstsicherung, ins härene Gewand des Propheten gehüllt, die reißenden Wasser unzerstört durchquert. Im Außen zwar alles verlierend, im Innern sieghaft und unbeschadet, ja, in lachendem Triumph.
Den Zeitgenossen musste er fremd und unverständlich bleiben. Nur wenige sind ihm ahnend nahegekommen. Denker und Dichter wie Hermann Hesse, Gerhart Hauptmann, Ernst Bloch, Martin Heidegger. Hesse, der kurzzeitig mit ihm zusammengelebt hat, sah in ihm seinen "Freund und Führer". In den Meistergestalten seiner Romane hat er ihn gleichnishaft zu porträtieren gesucht. Hauptmann, rätselnd, bildet ihn mal als "Narren in Christo", mal als heidnischen Heiland. Der junge Bloch erlebt auf Monte Verità die Konkretion der Utopie, kann aber das Gräsersche "Amulett der Reinheit" nicht annehmen.
Die "Eigentlichkeit" Martin Heideggers, sein "Selbstsein" und "Da-sein" wie sein "Ereignis" - sie haben ihren Vorgang oder Gleichgang in der Dichtung Gusto Gräsers.
Der Monte Verità bei Ascona, von Gräser mitbegründet und in einzigartiger Reinheit verkörpert, wurde zu Beginn des Jahrhunderts ein geistiges Zentrum, das schöpferische Kräfte aus ganz Europa an sich zog. Jahrzehntelang hat der "Stromer", der "Vagabund", der "lachende Siebenbürger" in deutschsprachigen Großstädten "öffentliche Gespräche" abgehalten, hat auf Spruchkarten und Flugblättern, vor allem aber im Gespräch seine Mitmenschen aufzurütteln versucht. Seine Gedichte wollten nicht "Kunst" sein, sind immer Ansprache, Mahnung, Herausruf: "Ein Freund ist da - mach auf!"
Seine menschliche und mündliche Gegenwärtigkeit, unterirdisch, im Dunkeln bleibend, war eines der verborgenen Wirkkräfte des vergangenen Jahrhunderts.Unter dem schützenden Mantel der Missachtung und des Verschweigens hat ein Bewusstseinswandel sich vollzogen, dessen Wurzeln heute erkennbar sind. Sie führen oft genug zum Monte Verità, dem "Berg der Wahrheit". Im Rückblick wird er sichtbar als "Wiege der Alternativkultur".
Vorschnelle Mythisierungen sind jedoch fehl am Platze. Was Gräser gesagt und getan hat, es ist zwar nur in liebender Hingabe zu erfassen, aber gleichwohl in heller Vernunft zu prüfen. Sein Lebenswerk ist ungedruckt geblieben. Seine Zeitgenossen kannten nur Bruchstücke, Vorläufiges, Zufälliges. Heute erst, mit dieser Auswahl, hat der Leser die Möglichkeit, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Besser aber: teilzuhaben an einem Vermögen, teilzunehmen an einer Befreiung.
Es handelt sich um eine Auswahl, eine Zusammenstellung von Gedichten und Sprüchen, wie sie der Dichter selber nie gegeben hat und wohl nie gegeben hätte. Gräser hat seine Goldkörner zwischen Sand und Kiesgeröll vergraben. Sie auszusieben und blankzureiben wäre ihm als Verzerrung der Wirklichkeit erschienen, der Wirklichkeit, die immer auch banal, unrein, gemischt und schlicht alltäglich ist. Sollte also hier der Eindruck des Kultischen und Feierlichen entstehen, so geht dies allein auf das Konto des Herausgebers, der keine andere Möglichkeit sieht, in Kürze das Wesentliche von Gräsers Botschaft weiterzugeben.
Man stelle sich den Mann vor, wie er im härenen Gewand, Sandalen an den Füßen, Strick um den Leib, Netz über der Schulter, langhaarig und bärtig an unsere Tür klopft. Wer jetzt, nach einem ersten, verständlichen Erschrecken, nicht den Mut hat, dem Mann ins Auge zu blicken und im Vertrauen auf die Reinheit und Wärme dieses Blicks den Fremdling einzuladen und einzulassen - der wird auch an der Sprachkost, die ihm der Wanderer bietet, keinen Gefallen finden.
Gräser kommt nicht zu den Satten, er kommt zu den Hungrigen. Sie aufzusuchen und aufzurichten zog er durchs Land. Zu solchen, die einen Freund brauchten, einen Menschen - nicht einen Fachmann, nicht einen Gelehrten, nicht einmal einen Dichter.
Er wollte Freund sein, nicht Meister, nicht Führer. Und er wollte Freunde um sich sammeln, die gleich ihm durch das Land ziehen, um redend, singend und tanzend die Menschen herauszureißen aus ihrer Alltagsverdrossenheit, sie hineinzureißen in den Wirbel des Wirweltreigens, der nach seiner Erfahrung der Rhythmus des Lebens ist.
Gleich wie durch Adern strömt das frohrote Leben
walln unsre Wandrer auf der Pfade Gewirk ...bringen und tragen der Freundschaft köstliche Früchte -
Boten der Freude, rennen sie durch das Land.
In den Tanzspielen auf Monte Verità, im Zug der Neuen Schar durch Thüringen, der als "Kreuzzug der Liebe" Legende wurde, in den Wanderzügen der deutschen "Gandhi-Bewegung" und dann wieder in den Bergfesten der alternativen "Blumenkinder" wurde dieses Lebensgefühl, wenigstens ansatzweise, auch für andere zum Ereignis.
Gleichwohl weigerte er sich, ein Prophet oder Guru für andere zu sein:
Bin kein Prophet und dies kein Zukunftkünden,
denn nimmer glücket uns Vorhergewusst -
dies ist ein innigtief Imnotgrundgründen,
Zurzukunftwachsen, mit ihr Brust an Brust -
Soweit dies taugt, ist es ein Zukunftzünden!
Allen Anhängern und Nachahmern, die ihn gern als Vorbild vereinnahmt hätten, erteilte er eine Absage:
Hüt Dich vor mir -
Du -
komm zu Dir!
Mehr noch als nach Menschen suchte er nach Wahrheit, nach Erkenntnis. Und blieb mit solchem Suchen letztlich allein, im Zwiegespräch mit dem All. Was hier aus seinem Lebenswerk, hauptsächlich der späteren Jahre, zusammengetragen und zusammengefügt worden ist, meint zwar immer noch den Mitmenschen, ist aber versunken in die Anschauung der Urbilder: des Welt- und Lebensbaums, der Großen Mutter, der Heiligen Hochzeit, des Heilmahls der Allvermählung, der Alleinheit der Wirklichkeit überhaupt. Hier ist religiöses Urwort, aus eigener Erfahrung erwachsen, in dichterische Gewandung gemildert: kein Nachbeten von Traditionen, kein Wiederkäuen des tausendmal Gekauten.
Mit wunderlicher Fremdheit und Vertrautheit zugleich schauen uns diese Texte an, lassen uns zurückschaudern vor so viel brausender Bejahungskraft. Pathos und himmelblaue Positivität - dergleichen ist uns verdächtig. Wahn? Fanatismus? Naivität? Maßlose Selbstüberschätzung? Wie kann einer, der dieses Jahrhundert der Grausamkeiten durchlebt hat, auf der untersten Stufe des Leidens durchlitten hat, der, von allen gemieden und verlassen, einem langsamen Hungertod entgegengeht, wie kann ein solcher von "Wunderwelt" faseln, von "Siegen" reden, von "Blütezeit" schwärmen? Kompensiert hier ein ganz und gar Ohnmächtiger seine Hilflosigkeit in Allmachtsphantasien? Oder spricht vielleicht gerade sein unerschütterliches Durchhalten, sein fast unglaubliches Überleben, sein kraftstrotzendes Gesund- und Produktivbleiben dafür, dass hier einer an Energiequellen angeschlossen war, die uns anderen verborgen oder unzugänglich sind?
Gräser beruft sich auf keine göttliche Autorität, er brüstet sich weder mit Offenbarung noch mit Erleuchtung. Und lässt doch erkennen und spricht es gelegentlich in aller Kürze als ein eher Erleidender, im Feuer des Leidens Gehärteter aus, dass aus ihm nicht mehr ein "Ich" spreche sondern die Wirklichkeit selbst.
Er tritt freilich nicht mit diesem Anspruch auf; es handelt sich um Selbstbekenntnisse, die unter größtem Druck aus ihm hervorbrechen. Auch haben wir uns nicht um sein Meinen und Empfinden zu kümmern. Hier steht sein Wort, und der Mensch, der es sprach, ist ausgelöscht. Er hat keine Spur, keine Spur als diese, hinterlassen: sein Gedicht. (der Aufsatz erschien als Nachwort in „Erdsternzeit“)
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