Leerstelle, Joker oder blinder Fleck
Es mag Zeitgenossen geben, die ein Buch mit dem Titel „Gottesgedichte“ garnicht oder nur mit spitzen Fingern anfassen würden. Da es unter Lyrik firmiert, entgeht es zwar bei den großen Buchanbietern der unsäglichen Mischung aus der Rubrik „Religion,Esoterik,Spiritualität“, aber: brauchen wir noch eine weitere Anthologie? Es gibt bereits Engel- Wolken- Mond- Weihnachts- Wald- Stern- Herz- Nebel- Schnee- Wasser- Blumen- Spiegel- Paar- Trennungs- Wein- Musik-Gedichte, abgesehen von den schon länger beliebten Liebes- oder Jahreszeitgedichten
Diese Sammlung will allerdings mit ihrer sorgfältigen Anordnung kein bloßes Sammelsurium sein und signalisiert zugleich ein ernstes Anliegen.
Zwei Theologen aus Tübingen, der schon mit eigenen Gedichtbänden hervorgetretene Helmut Zwanger und Karl-Josef Kuschel, allseits bekannt durch zahlreiche Publikationen zum Verhältnis Theologie und Literatur, haben einen Nachfolgeband zu der vergriffenen Anthologie „Gott im Gedicht“ von 2007 herausgebracht. Er ist unter Verwendung derselben Umschlagzeichnung ähnlich ausgestattet und enthält 132 Gedichte von insgesamt 120 Autoren, dazu je ein umfangreiches Vor- und Nachwort der beiden Herausgeber.
Die Reihung der Texte ist nicht, wie der Untertitel vermuten lässt, chronologisch, sondern folgt mit drei Kapiteln einem in drei Teile zerlegten Ausspruch von Martin Buber. Damit und mit den einleitenden Worten von Helmut Zwanger ist bereits eine Perspektive vorgegeben. Das erste Kapitel will die düstere Lage nach den Verheerungen der Shoah, das zweite ein vorsichtiges „Dennoch“, das dritte und umfangreichste einen positiven Neubeginn andeuten. Im Grunde stehen alle Gedichte unter der Überschrift „nach Auschwitz“ - was gewiss ehrenwert und notwendig ist, aber auch eine Einengung mit sich bringt. Neben den älteren Nachkriegs-Klassikern wie Albrecht Goes, Marie Luise Kaschnitz, Nelly Sachs, Hilde Domin, Ingeborg Bachmann, Paul Celan findet man viele bekannte Namen wie Enzensberger, Rühmkorf, Jandl, Krolow, Sölle, Becker, Krüger, Kunert, natürlich der dichtende Pfarrer Kurt Marti. Jüngere Autoren sind Ulrike Draesner, Durs Grünbein, Ursula Krechel, Ulla Hahn, Dieter M. Gräf und andere. Die Anordnung innerhalb der Kapitel ist zunächst etwas verwirrend: im ersten und dritten Teil ist sie alphabetisch (mit Ausnahme einiger bevorzugt vorangestellter Gedichte jüdischer Autoren), im zweiten nicht.
Für den Leser ergeben sich ungewohnte Stil-Nachbarschaften; bei Autoren, die mir nicht so bekannt waren, brachte erst das Nachschauen im Register die Erklärung für einen gewissen bemüht-pathetischen Ton: ach so, Jahrgang 1910... Es ist das Problem aller Anthologien, dass der inhaltliche Aspekt Vorrang vor dem künstlerischen hat, mit der Folge, dass auch gutgemeintes Mittelmaß aufgenommen oder sogar der Kitsch gestreift wird, wenn nur das Thema erkennbar ist.
Kann man wirklich solche Verse noch goutieren: „Freilich, das Feld ist zerstampft. Des grimmigen Hagels Gekörne / Schlug vor der Ernte den Halm, gab der Verwesung die Frucht.“ (Albrecht Goes) oder „Wer ist es, raunend in Verborgenheit, / Und wohnt in eines Menschenherzens Enge / Und keltert einen Tropfen Ewigkeit / Im dunklen Wirbel unsrer Untergänge?“ (Hans Egon Holthusen)
Dabei ist die Auswahl keineswegs eng auf religiöse Dichtung im eigentlichen Sinn begrenzt; das Wort „Gott“ muss nicht vorkommen (dafür kommt „Himmel“ recht häufig vor – nützlich, dass unsere Sprache dieses doppeldeutige Wort besitzt). In unserer noch immer von christlichen Elementen durchsetzten Kultur liegt es nicht fern, ein Gedicht „Psalm“ zu nennen oder die Sprechhaltung des Gebets zu wählen, und sei es zu sarkastischen Anti-Zwecken. Die sind hier durchaus nicht unerwünscht, denn besonders Karl-Josef Kuschel betont die belebende Funktion des Zweifels, der Anklage und skeptischen Sprach-Schelte in einer Zeit des von salbungsvollem Gerede bedrohten religiösen Sprechens. Es scheint aber doch eine unsichtbare Grenze gezogen zu wirklichem Zynismus oder ungeniertem Atheismus; es überwiegt eher die große Weltgeste, der weite Horizont von Gott-All-Leben-Mensch-Sprache. Schließlich gibt es auch ein Pathos des Zweifels. Und wo Gott fehlt, ist er als Leerstelle gleichwohl vorhanden und wird schmerzlich vermisst.
Vorwort und Nachwort gehen in Funktion und Umfang über das gewohnte Maß hinaus. Mit insgesamt fast 40 Seiten bilden sie einen festen Rahmen um den Textteil. Auf 18 Gedichte gehen die Herausgeber erläuternd und deutend ein, so dass der Charakter des Buches fast schon einer Monographie nahe kommt. Man gewinnt den Eindruck, der Leser solle mit den Gedichten nicht allein gelassen werden; Blickrichtung und Anliegen der Herausgeber bleiben präsent.
Denn ein solches gewissermaßen welt-seelsorgerisches Anliegen gibt es. Kuschel fragt im Nachwort: „Welche Möglichkeiten haben zeitgenössische Lyriker, dem Reden von Gott eine neue Ernsthaftigkeit, einen neuen Sinn, eine neue Kraft zu geben?“
In seinem Buch „Im Spiegel der Dichter – Mensch, Gott und Jesus in der Literatur des 20. Jahrhunderts“ (Patmos, Düsseldorf 1997) verwahrt sich Kuschel gegen den Vorwurf, eine gewisse Funktionalisierung von Texten im Sinne einer persönlichen Aneignung bedeute schon, sie zu vereinnahmen und zu missbrauchen. Ein wenig von solcher Funktionalisierung spürt man allerdings; die Leine, an der die Gedichte laufen, ist lang, aber eine Leine ist es. Kuschel traut der Dichtung erklärtermaßen mehr Anregung und Lebendigkeit zu als einer oft schalen und konventionellen Sprache der kirchlichen Verkündigung. Ähnliches äußerte einmal eine leitende Mitarbeiterin des Katholischen Bildungswerks auf meine Frage, ob im Zuge von Sparmaßnahmen demnächst die Literaturkreise gestrichen würden: man wisse aus Erfahrung, dass Besucher sich lieber indirekt anhand der Literatur für religiöse Fragen öffnen als durch Bibelarbeit und Predigt. Entsprechend beliebt sind Kuschels Bücher in kirchlichen Akademien und Seminaren.
Noch deutlicher spürt man die vorbestimmte Blickrichtung bei Helmut Zwanger, der bisweilen in einen hymnischen Predigtton verfällt. Da „wird der Mensch wahrgenommen als das Gefundene und als der zu Findende“ (dies anlässlich der Worte „fundus und findling“ in einer Zeile bei Ulrike Draesner), da „klingt das Versprechen Gottes auf“ und „Im Akt der Dichtung geschieht das lebensschöpferische Wort“. Nun, dieser Stil ist Geschmackssache. Mir erschiene etwas mehr neugierige Nüchternheit erfreulicher und vielleicht auch der Sache dienlicher.
Denn, so kenntnisreich die Verfasser auf ihrem Gebiet sind, die Textinterpretationen fallen im Einzelnen und Konkreten etwas enttäuschend aus. Es gibt nützliche Informationen über den Autor, passende Bibelstellen sind sogleich zur Hand, aber dann wird ein Gedicht doch eher paraphrasierend umkreist und seine bündige Konzentration in viele Worte aufgelöst. Ärgerlich sind auch manche Deutungs-Schnellschüsse, bei denen man rufen möchte: Halt! Langsam! So überführt Helmut Zwanger einzelne Zeilen von Nelly Sachs umstandslos in Gleichungen:
„Die Erhellten vom Erstlingsmeer“ - das sind die Worte aus der befreienden Exodustradition.
„Die Augen-Aufschlagenden“ - das sind die hellsichtig-prophetischen Wahrheitsworte.
„Die nicht mit Zungen verwundeten“ - das steht in den Psalmen und in der Weisheit (...)
In dem Gedicht „Jüdische Renaissance II“ der 1952 geborenen Esther Dischereit stehen die Zeilen
Eröffne ein Geschäft / mit dem Tafelsilber deines G'ttes
Der Deuter verfährt damit folgendermaßen:
Was bedeutet diese Metapher? Wo deckt Gott die Tafel, wo breitet er sein Tafelsilber aus? Diese Vision findet sich bei Jesaia: „Und der Herr Zebaoth wird auf dem Berge allen Völkern ein fettes Mahl machen...“ Worte, die „einer Ewigkeit gehören“(Zitat aus dem Gedicht)werden zum dichterischen Zuspruch im umstrittenen Projekt der Gegenwart.
Von der interessanten Schreibweise „G'tt“ nimmt er keine Notiz, ebensowenig von der naheliegenden volkstümlichen Assoziation, dass jemand in die Lage kommt, sein Tafelsilber verscheuern zu müssen...
Es geht recht brav und ernst zu in dieser Anthologie. Die Gedichte hat man nicht fragen können, ob sie darin versammelt werden möchten. Aber Gedichte sind frei – sie werden sich wieder auf eigene Füße machen wie kapriziöse Zicklein aus dem Pferch oder wie ein Sack Flöhe, die man vergeblich zusammenzuhalten versucht.
Fixpoetry 2012
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben