Aufbegehren, gebrochene Zeile
Als in den 90er-Jahren das Zeitalter der Spaßgesellschaft ausgerufen, der Egoismus wie eine wertvolle Pflanze gehegt und gepflegt wurde, als viele gerade jüngere Menschen aufgrund der vermeintlich verschwundenen Bedrohung durch einen sich zersetzenden Ostblock die Freiheit in Sicherheit förmlich zu riechen und zu schmecken meinten - da drohte die Zeit des politischen Interesses und Engagements bei Jugendlichen endgültig abgelaufen zu sein. Nur ein kleiner Schritt von der Antifa in die Sushi-Bar, und viele taten ihn. Auch heutzutage haben jüngere Zeitgenossen oftmals ein gestörtes Verhältnis zu Politik und Gesellschaft, resignieren aufgrund medienbeherrschend geführter Diskussionen über Renten, Arbeitsmarkt und Korruption und ziehen sich vollends in ein Schneckenhaus aus Desinteresse zurück. Aber sind die heutigen Mittzwanziger wirklich beseelt vom Rausch der Kundgebung in Form einer nicht enden wollenden Liebesparade? Hat die Globalisierung dazu geführt, mit einem Billigflieger nach Genua und Kyoto zu fliegen, um dort gegen Luftverschmutzung, Energieverschwendung, den Kapitalismus und die Folgen der freien Marktwirtschaft zu demonstrieren?
Mitnichten! Auch heute gibt es noch politisch engagiertes Jungvolk, politisch engagierte Autoren, die nicht gewillt sind, Missstände unterschiedlichster Art stillschweigend hinzunehmen. Einer von ihnen ist der 1980 geborene und aus der ostdeutschen Provinz nach Hannover übergesiedelte Jan Egge Sedelies, der mit dem Aktionskreis Offenes Mikrofon das Running Mic (die Literaturprotestparade durch die hannoversche City) organisiert, gemeinsam mit Henning Chadde in der niedersächsischen Landeshauptstadt den Poetry Slam „Macht Worte“ moderiert und ansonsten vor allem durch zahlreiche und gut besuchte Lesungen im gesamten Bundesgebiet von sich reden machte. Nach Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien liegt nun im Verlag zeter&mordio in bereits 2. Auflage der Gedichtband "Niemals so ganz" vor, in dem sich Sedelies der Themen annimmt, die durch ein Kopfschütteln nur unzureichend kommentiert würden: Widerstand gegen Obrigkeiten und gegen um sich greifende Verdummung, den/die Fehler im System, Carlos Marighellas Handbuch der Stadtguerilla, das schon der ersten RAF-Generation als Vorbild für Aufbau und Unterhaltung ihrer Logistik diente. Im Stile Erich Frieds, mit dem er nicht nur durch die Hannoversche Allgemeine Zeitung und das Intro verglichen wird (und dem er auch eines der Gedichte widmet), seziert er in einzelnen Gedichten Zeitungsmeldungen, wandelt die verharmlosende Journalistensprache in deutliche Worte, bspw. in "linienflug LH 558", das den Prozess gegen drei Beamte des Bundesgrenzschutzes kommentiert, durch deren gemeinsame Gewaltanwendung ein ausgewiesener Sudanese den Tod fand: ... // drücken einen oberkörper auf oberschenkel / fünf minuten vergehen / sechs rippen brechen / ein mensch erstickt // die BGS-beamten sagen später vor einem richter / sie hätten nur eine woche unterricht gehabt / das sei zu wenig gewesen / sie hätten das thema / sachgerechte rückführung / nur angerissen // ...
Ihre stärksten Momente haben die Texte von Jan Egge Sedelies, wenn er die Position des Beobachters und Kommentators verlässt und seine eigene Biografie und alltägliche Szenen und Gespräche mit dem Weltenlauf verknüpft, wenn er die Selbstgerechtigkeit und Selbstzufriedenheit seiner Zeitgenossen aufdeckt: ... // jeden tag die haare gerichtet, aber nicht die gesellschaftlichen zustände / jeden tag die zeitung gelesen und hoffnungen begraben / jeden tag kaffee, um einmal am tag fair zu handeln // ... (aus "jeden tag"). Sympathischerweise macht er auch vor sich selbst nicht halt und versteht es, sich trotz linker Theorien und hoher Individualität als Teil der Masse zu sehen und die Unmöglichkeit der vollständigen Konsumverweigerung realistisch einzuschätzen und zu akzeptieren (trockenfutter für meerschweinchen, das sich in bakunins bart verfängt, die verstaubten ausgaben von marx und sartre im regal, während er sich auf den weg zur arbeit macht – wie es dann so ist).
"Niemals so ganz", ein lohnendes, feines, mit einem thematisch trefflichen Vorwort von Tanja Dückers versehenes Stück Literatur, zu dem man Autor und Verlag nur gratulieren kann.
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