Ein Spasski-Turm aus Wurstpappe
Um es gleich vorweg zu sagen, wer zwischen Tagesschau und „Tatort“ – früher gabs da wenigstens noch Bierwerbung – mal eben ein putziges Gedicht lesen will, der greife besser nicht zu Kuhlbrodts Band „Stötzers Lied“. Was nämlich dem Anschein nach wie eine Sammlung lose miteinander verknüpfter Gedichte wirkt, erweist sich vielmehr als komplexes Langgedicht, Epos und philosophisches Traktat in einem, und es hat, wie es sich für ein Epos gehört, einen Helden, der zwar schon in der Mitte des Buches stirbt, aber als Stichwortgeber weiter anwesend bleibt. Sein Name ist Stötzer. Dieser Stötzer ist ein Eigenbrötler und Gedankenjongleur, ein Wiedergänger von Morgensterns Palmström und Brechts Herrn Keuner. So eine Tradition verspricht Kurzweil und Nachdenkenswertes, vor allem dann, wenn sie zugleich Zeitgenossenschaft herstellt, also den Finger in Wunden legt, die allenthalben empfunden, oft aber nur ungenau lokalisiert werden. Jan Kuhlbrodt, der 1966 in Karl-Marx-Stadt Geborene, ist das Wagnis eingegangen, das politische und ökonomische Provisorium, in dem er aufwuchs, an dessen Ansprüchen zu messen, und beides wiederum mit den neuen Verhältnissen zu konfrontieren. Kurzum, wir haben es mit politischer Dichtung zu tun, die in der deutschsprachigen Lyrik seit langem ein Schattendasein frönt und oft scheeläugig beargwöhnt wird.
„Politisch Lied – garstig Lied“, das hat sich fest eingenistet in den Dichterstuben des Landes. Wer sein Lied gar mit Vokabeln wie Kommunismus oder Arbeitslosigkeit, Wohnungsbauprogramm oder dem Maulsperre verursachenden Wortungetüm DDR Partei- und Staatsführung anfüttert, muß schon ziemlich gut gepanzert sein gegen die Häme der Kollegen. Außer Volker Braun wüßte ich kaum einen unter den Lebenden, der sich auf dieses Glatteis begibt, ohne jämmerlich auf die Nase zu fallen. Und doch hat Jan Kuhlbrodt, der alles andere als ein Kraftprotz ist, der sich als Herausgeber der Literaturzeitschrift „Edit“ und als Gastdozent am Deutschen Literaturinstitut mit hochartifiziellen Poetiken und ästhetischen Kontroversen gut genug auskennt, diesen Balanceakt zwischen Pamphlet und anekdotischem Erzählgedicht gewagt und damit ein beunruhigend oszillierendes Stück Literatur geschaffen.
Ein Kunstgriff, der „Stötzers Lied“ zur ebenso unterhaltsamen wie lehrreichen Lektüre macht, besteht in der doppelten Optik: die des Autors oder lyrischen Ichs und die, gelegentlich mit Fragezeichen versehenen Einlassungen Stötzers, wobei unerheblich ist, ob man ihn als alter ego des Dichters oder als eigenständige literarische Figur begreift. So erweist sich oft das Einleuchtende als doppelbödig, das Offensichtliche als Sinnestäuschung, das Spitzfindige als simpel, weil Stötzer den Gewissheiten misstraut und zugleich ein messerscharfer Denker ist.
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Aus: Stötzers Lied. Illustration: Ivonne Dippmann Verlagshaus J. Frank Berlin
Kuhlbrodt nimmt den Leser mit zu geschichtsträchtigen Orten Mitteldeutschlands: Leipzig mit dem Völkerschachtdenkmal, der Deutschen Bücherei oder dem Bildermuseum, Halle-Neustadt/Passendorfer Sümpfe oder Chemnitz/Karl-Marx-Stadt, wo dann meistens auch Stötzer auftaucht bzw. schon auf einer Parkbank sitzt, um seinen Stichwortgeber zu erwarten. Man erkennt ihn am „Meisenlachen“ oder daran, dass er „in einem Fort die Zehen bewegte“. Diese kleinen „Erkenntnishaken“ heben Stötzers Gestalt aus der reinen Fiktion heraus. Man spürt seine leibliche Anwesenheit, denkt irgendwann, den zum Freund zu haben, ist eine Herausforderung, die man gern annimmt.
Die genaue Ortskenntnis, verbunden mit dem Wissen um ihre Geschichten, macht Kuhlbrodt bzw. sein „Ich“ zum zuverlässigen Ciceronen durch verwahrloste oder auch aufpolierte Landstriche und Stadtviertel, die er manchmal allein, oft aber mit Stötzer gemeinsam, durchstreift. Der Blick schweift mal in die Weite, mal richtet er sich fokussierend aufs Detail. Dabei kommen auch Liebhaber schräger Vergleiche und Wortspiele auf ihre Kosten. Wenn etwa der sowjetische Pavillon auf dem alten Messegelände aus „Spasski-Turm aus Wurstpappe“ bezeichnet wird oder das Völkerschlachtdenkmal als „Bedeutungsklotz“. Und falls Klingers Beethovenskulptur, diese „Mischung aus Putin, Nietzsche und Jesus“, plötzlich „zum Leben erwachte, sagt Stötzer, das gäbe den schönsten Horrorstreifen.“ (S.31)
Mitunter gerät allerdings auch Kuhlbrodt ins Fahrwasser dozierender Historiker oder Weltendeuter, was immer dann passiert, wenn er die Rolle des Beobachters aufgibt und meint, den Leser habe in puncto Aufklärung Nachholbedarf. „Man implantierte also / die ostdeutschen Wohnraumideen in Junge Nationalstaaten, / als Lohn für eine prosowjetische politische Orientierung, / darauf hoffend, dass die im Entstehen begriffene Arbeiterklasse / davon Besitz ergriff.“ (S. 155) Solchen staubtrockenen Einschüben haucht man auch mit bübischem Augenzwinkern kein Leben ein. An anderer Stelle, wo es um das Duell zwischen Dimitrow und Göring im Reichstagsbrandprozess geht, wird die Geschichtslektion dadurch aufgelockert, dass die „Stimme vom Band“ den einst zur Kultstätte der Arbeiterbewegung getriebenen Schüler an den „Zauberer der Smaragdenstadt“ erinnerte. Da nimmt man die Belehrung schon eher in Kauf. So gewinnen gerade die Passagen an Farbe, wo Privates und Intimes in den Fokus geraten: Wenn der Leser Stötzer beim Nachspionieren der rätselhaften Barbara aus Halle-Neustadt zuschauen darf oder der Dichter beim Dichten von diversen Störungen heimgesucht wird. „Und meine jüngere Tochter wirft der älteren einen Legostein an den Kopf“ (S.79) – das sind für mich die stärksten Momente in Kuhlbrodts Langgedicht, mag er auch Hölderlin („mein lieber Bellarmin“), Hegel oder Sartre bemühen. So halten sich Bodenhaftung und geistiger Höhenflug bei Kuhlbrodt die Waage, wie auch bei Stötzer, der sich nicht nur für Abstraktes, wie das „Nicht-Existierende“ und das „Seiende“, interessiert, sondern ebenso für die Füchse in Plagwitz und Nutrias am Karl-Heine-Kanal.
Damit ist Kuhlbrodts Epos noch längst nicht erschöpft. Erwähnt werden sollten zumindest die sechs mit „Embolium“ überschriebenen Zwischentexte, die man als geistige Exerzitien oder Meditationen lesen kann. Nr. 6: „Auch Hitler mochte die Winterreise“, ist so ein gelungenes Kabinettstück zum Thema ‚Adler als Wappentier’.
Herausgegeben wurde das, mit expressiven Graphiken von Ivonne Dippmann illustrierte Buch im noch jungen Verlagshaus J. Frank, Berlin, das sich die Publikation von anspruchsvoller Lyrik und Kurzprosa auf die Fahnen geschrieben hat. Kann man nur wünschen: Durchhalten und weiter so!
Fixpoetry 2013
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