Arbeit an der Erinnerung
Die Zahl derer, die aus eigener Erfahrung von der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges in Deutschland berichten können, wird naturgemäß kleiner. Autobiografien aus der Feder von Autoren, die in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren geboren wurden, sind in letzter Zeit bereits zahlreich erschienen. Da wurden Zwiebeln gehäutet (GG) und verborgene NS-Mitgliedschaften offenbart – ob freiwillig, erzwungen oder automatisiert sei dahingestellt, zumal der Moralismus der Nachgeborenen auch fast immer wohlfeil schmeckt –, es wurde nüchtern von „damals“ erzählt (RB) und früher gedanklicher Widerstand angedeutet (JF). Besonders bewegend waren freilich die Schilderungen der Verfolgten, die im Versteck (oder in Gefangenschaft) die Nazidiktatur unter großen Leiden und Entbehrungen nur mit sehr viel Glück überlebt haben (MRR). In der frühen Bundesrepublik trafen sie dann nicht selten wieder aufeinander, die Täter, Mitläufer und auch die Opfer, etwa bei der Präsentation von Joachim Fests Hitler-Biographie 1973, zu der der damalige FAZ-Herausgeber Fest geschmackvollerweise nicht nur seinen Literaturchef Reich-Ranicki geladen hatte, sondern als besonderen Ehrengast auch Albert Speer, den früheren Großreicharchitekten und NS-Rüstungsminister, der zu dieser Zeit schon wieder als salonfähig galt.
Für eine andere, literarischere Herangehensweise an die eigenen Erfahrungen in Nazi-Deutschland und unmittelbar danach hat sich der Germanist und Literaturkritiker Karl Heinz Bohrer (Jahrgang 1932) entschieden; mit „Granatsplitter“ hat er die „Erzählung einer Jugend“ zwischen 1939 und 1953 vorgelegt (den Hinweis des Autors, es handle sich lediglich um die „Phantasie einer Jugend“, darf man getrost ignorieren). Der Junge, um den es geht – und dessen Name, entgegen den Ausführungen einiger Feuilletons, sehr wohl bekannt ist: der Namenstag fällt, nach Karl dem Großen, auf den 28. Januar – erlebt den Krieg im von Luftangriffen schwer getroffenen Köln sowie in einem Internat im ruhigen Schwarzwald, bevor es ihn Anfang der 1950er zur Apfelernte mit Landeserkundung nach England zieht, wo er, wie kann es anders sein, ausführlich in London Station macht. Dort findet er zwar nicht das so dringend ersehnte Liebesabenteuer, dafür aber ein liberales Lebensgefühl und Weltoffenheit, kurzum: das Gegenteil vom einstigen großdeutschen Traum. Außerdem lernt er die indische Küche kennen und beginnt zu begreifen – früher als die meisten seiner Zeitgenossen zuhause –, dass die Welt sehr viel größer ist als nur Deutschland und das eben erst entdeckte England.
Damit ist der Rahmen der Handlung auch schon gesetzt. Ausblicke auf die weitere Entwicklung des jungen Germanistikstudenten werden allenfalls angedeutet.
Das besondere an Bohrers Kindheits- und Jugendgeschichte ist, dass sie sich nicht so recht einordnen lässt; sie ist weder klassische Erzählung noch rein autobiografischer Bericht. Stattdessen fließen Erinnerungen und das Ergebnis lebenslangen Nachdenkens über das früh Erlebte fortlaufend ineinander, sind eng verwoben und formen den Kern des Erzählten. Dass dem Jungen dabei bisweilen Gedanken in den Mund gelegt werden, die den Autor erst viele Jahre später beschäftigt haben dürften, ist Teil des Prinzips. Gerade diese Vielschichtigkeit ist es aber, die das Buch abhebt von herkömmlichen Memoiren und anderen autobiografisch geprägten Romanen oder Erzählungen. Denn im Zentrum steht für Bohrer weniger, wie es gewesen ist, als die Verwunderungen darüber, wie es dazu kommen konnte und vor allem, wie es im Anschluss, nach Kriegsende, weitergehen konnte, fast so, als sei nichts geschehen. Dabei wusste doch schon der Junge in seinem Schwarzwald-Internat von der Existenz der Konzentrationslager – ein Mitschüler hatte ihn darüber informiert – und hatte zumindest eine vage Vorstellung davon, was denen bevorstand, die dorthin kamen. Und als nach 1945 die Praktiken der SS zum Gegenstand publizistischer Erörterungen wurden, waren die Eltern des Jungen nicht sonderlich überrascht von dem, was da zutage kam, ganz im Gegensatz zum Schwiegersohn des Vermieters, der, obwohl selbst bei der Waffen-SS, von alledem nichts gewusst haben wollte. Stattdessen beschwerte man sich auf den Straßen und an den Ladentheken – in England waren die Lebensmittel länger rationiert als in Deutschland! – schon wieder lautstark darüber, dass einige Männer noch immer nicht aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt seien und die britischen Besatzer Gräuelmärchen über deutsche Untaten verbreiteten. Ausgerechnet die Briten, die mit ihren Bombern über deutschen Städten mindestens ebenso gewütet hätten, wenn nicht sogar noch schlimmer, von den Unmenschlichkeiten in den Kolonien ganz zu schweigen. Kurzum, Grund für einseitige Schuldzuweisungen konnte man nicht erkennen. Warum auch? Und das Leben ging schließlich weiter.
Doch gab es eben auch Menschen wie den Vater, der alles tat, um die Einflüsse der „neuen Zeit“ von dem Jungen fernzuhalten. Das fing bei der Kleidung an; statt Uniform gab es die verhassten Knickerbocker, mit denen sich der Junge dem Gespött seiner Mitschüler aussetzte. Trotz aller Klagen: Über die Kleiderordnung ließ der Vater nicht mit sich reden. Geredet hat es allerdings mit dem Direktor des Internats im Schwarzwald, bevor er den Sohn dorthin schickte; denn er wollte sichergehen, dass man es dort mit den „Lehren“ des Regimes nicht allzu genau nahm, und stattdessen auch weiterhin auf das bewährte Wissen der Alten setzte: Latein und Griechisch statt volkdeutsche Geschichte!
Der Plan ging auf. Und bereits zu Schulzeiten fasste der Junge den Entschluss, „über Literatur und ihre Geschichte“ schreiben zu wollen. Das hat Bohrer dann auch ein Leben lang getan. Mit „Granatsplitter“ hat er nun spät noch einmal die Perspektive gewechselt und die Geschichte seiner Jugend in Literatur verpackt vorgelegt.
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