Vom Sammeln der Tage
Ein schönes Beispiel dafür, daß Übersetzen und Dichten in überhaupt keinem epigonalen Abhängigkeitsverhältnis stehen müssen, liefert Klaus Martens, der einige wesentliche Autoren der Moderne wie John Ashbery, Elisabeth Bishop und Wallace Stevens aus dem Englischen übertragen hat, in seiner eigenen Lyrik jedoch ganz andere Wege beschreitet. In den letzten fünf Jahren konnte Martens erstaunliche acht Bände vorlegen, er ist er das, wofür keine genau entsprechende — oder zumindest ähnlich charmant klingende — Bezeichnung im Deutschen existiert: prolific. In seinem jüngsten Band nun unternimmt er weder kühne Experimente noch gewagte Konstruktionen. Nichts ist hier aufdringlich oder trumpft mit großen Gesten auf; die kleine Beobachtung des Unauffälligen aus der nächsten Nähe führt ihn ins Weite, bringt ihn in weitem Bogen wieder zurück zu sich selbst.
Martens vertraut der Sprache; ökonomisch eingesetzte Musikalität und eingestreute Reime sind darum nicht in erster Linie Verweis auf und Verwurzelung in Traditionen, vielmehr scheint sich eine gewisse Komplizenschaft mit den Wörtern abzuzeichnen, ein ebenso bitter ernstes wie gelegentlich ironisch zwinkerndes Spiel. Es geht um die Sache selbst, um die Vermittlung eines Inhalts auf möglichst ästhetisch ansprechende Weise und in prägnant destillierter Gestalt. Martens lotet den Alltag aus, aus seiner subjektiven Warte, doch auch mit dem Vertrauen darauf, etwas allgemein Gültiges zu notieren in dem Sinne, daß sich die geschilderten Einsichten im Erfahrungshorizont anderer Menschen wiederfinden. Wenn man die Personalpronomen in der ersten Person Plural nicht kategorisch begreift, wenn sie, in Sinne von Samuel Scheffler, „keine absolut allgemeinen Behauptungen aufstellen“ und nicht implizieren, daß „buchstäblich jeder zu diesen Einstellungen neigt“, dann scheint es ein legitimes Mittel zu sein, auf den menschlichen Erfahrungsvorrat zurückzugreifen. Allerdings besteht trotzdem die Gefahr einer apodiktischen Schärfe, der auch Klaus Martens nicht immer entgeht, wie die folgenden Zeilen belegen:
Haltet euch fern von Feldzügen für Seife
und Politiker, hebt auf euer Hörvermögen
für die verhaltenen Stimmen, die Böses ansagen
und Gutes in all dem Getöse und auch das
Unerhörte und das wirkliche, ruhige Neue.
Bei aller vehementen Sympathie für den Gehalt solcher Verse kann man sich nicht recht wohlfühlen bei ihnen des moralischen, warnenden Tons Brecht’scher Färbung wegen. Solche Gedichte stellen jedoch eine Ausnahme dar, und sobald die Klage über den Zustand der Welt rückgebunden wird an dessen unmittelbare Auswirkung auf das Subjekt, lädt die pointierte Kritik zur nachvollziehenden, allemal zustimmenden Lektüre ein:
ich hab mich
lange schon entfernt.
Kann nicht mehr fühlen,
werde stumm,
wende mich zur Wand hin um —
das Gebrüll in meinen Ohren:
Alle, alle Prädatoren.
Tatsächlich kommt Martens Stärke besonders in jenen Gedichten zur Geltung, die nicht verallgemeinern, sondern direkt aus persönlicher Anschauung sprechen. In leisen, schlichten Tönen zieht Martens hier Bilanz; vergangener Stimmen wird gedacht, ihr Beitrag zum Werden der Persönlichkeit hinterfragt oder auch melancholisch betrauert; die Gegenwart wird kritisch beäugt, oft nicht ohne ein gerüttelt Maß an Ironie, und auch die Sorge um die Zukunft des Planeten nicht verhehlt. Denn das Gedicht ist ein Archiv dessen, was einer in seinem Leben für wert hält und deshalb ans Künftige vermacht sehen möchte.
Denkt das Hirn
über den Tod hinaus,
während der Körper erkaltet,
bewahrt sich eine Kaverne,
gefüllt mit alten Träumen?
Natürlich mischt sich Resignation hinein, ein gefühltes Ungenügen an der Zeit, an den Mitmenschen. Das ist aber, vielleicht glücklicherweise, nicht der vorherrschende Tenor. Wenn Martens den Alltag Revue passieren läßt, keimen aus den unscheinbarsten Beobachtungen die filigransten Verse, kristallisieren sich wunderbare, präzise Beschreibungen heraus. Es sind dabei immer wieder die Bücher, weil man sich „lesend aneignend“, „in jede Richtung tastend“ vowärtsbewegt, es sind die Wörter, deren Fragenkatalog wachhält und das Vergessen dokumentiert:
der Tag verschwindet um die Straßenlaternen
und rutscht in das unzuverlässige Gedächtnis —
dies sind seine Waffen: die Wiederholung,
die Gewohnheit, der tödliche Ablauf.
Das Gedicht ist die Gegenwehr, es sucht das Besondere im Alltag, gewinnt Einsichten aus der Gewohnheit, bekämpft die Auslöschung der Erinnerung mit Schlaglichtern. Anderswo — so will es einer der Text dieses Bandes — scheint die Sonne, anderswo ist eine lustvolle Musik, während hier nur „das beamtete Landesorchester“ dudelt. Um unser Hiersein diesem Anderswo anzunähern, schreibt Klaus Martens und zeigt, welche tönende Summe zu ziehen ist, herbstvernebelt, mit Aussicht auf heitere Klarheit. Mit ungeheurer Neugier stellt sich Martens den Betrachtungen aus der Sterblichkeit, denn „es gibt immer etwas zu erzählen, / immer ist etwas neu“, daraus schöpft er in subtilen Variationen der Form, des Tons, klug, aufmerksam, auf Teilnahme bedacht. Ein lohnendes Buch.
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