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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

„Wir leben wie die Schweine, aber wir leben!"

"Aber was uns von den Schweinen unterscheidet, wir haben ein Gedächtnis!"
Hamburg

Fünfundzwanzig Jahre nach dem Massaker fällt der Schrei der Getöteten und bis heute Verfolgten, in China nicht nur auf taube, sondern auf verwunderte Ohren

1989 war ein politisch sehr weitreichendes Jahr. Scheinbar plötzlich und mit einer unerwarteten Leichtigkeit, brachen Diktaturen zusammen, der kalte Krieg schien mit einem Mal vorbei zu sein.

Am selben Tag als in Polen die ersten freien Wahlen sattfanden, wurde die Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens in China brutal und blutig niedergeschlagen. Dieser humanistische Tiefpunkt wird in Asien rückblickend als der Beginn des wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas angesehen.

Als dieses Jahr die deutsche Taschenbuchausgabe von Liao Yiwus „Die Kugel und das Opium“ erschien, blockierte die chinesische Regierung wieder Begriffe, die mit dem 4. Juni zusammenhängen. Sie geht dabei so weit auch Worte wie „trauern“ zu indizieren. Noch erschreckender als dieses Vorgehen ist aber die Wirkung. Viele gebildete junge Chinesen wissen tatsächlich nicht mehr, was 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens geschehen ist.

Die Interviews, die Liao Yiwu über viele Jahre mit Beteiligten geführt hat, erklären wie es zu diesem kollektiven Vergessen kommen konnte. Sie erzählen von der Überwachung von Menschen, die kaum entlassen, unter fadenscheinigen Gründen erneut für Jahre in Gefängnissen und Umerziehungslagern verschwinden, davon wie die Angst vor Repressalien Familien auseinander reißt und aus Freunden Verräter macht.

Bis heute ist es in China verboten, öffentlich um die Opfer des 4. Juni zu trauern, geschweige denn in irgendeiner Wiese den Jahrestag des Massakers zu begehen. Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass die chinesische Regierung mehr Geld für die innere Sicherheit aufwendet als zur Verteidigung des Landes. Immer noch werden Juni für Juni Aberdutzende von Menschen unter Arrest gestellt.

Es war also alles andere als einfach, mit Betroffenen zu reden. Auch zwanzig Jahre nach dem Ereignis haben die Menschen Angst über ihre Erlebnisse und Erfahrungen zu reden, außerdem waren Yiwus Manuskripte und Tonbänder ständig von einer Konfiszierung durch die chinesischen Sicherheitskräfte bedroht. Dennoch hat Liao Yiwu bereits 2012 über 14 Interviews sowie die von den Müttern des Tiananmen bereitgestellte Liste von 202 Todesopfern veröffentlichen können.

Yiwu schreibt: „Und ich mit meiner „Erinnerungsarbeit“ habe erst nach sieben Jahren oft unterbrochener Bemühungen diese Interviews zusammenbekommen – „alte, historische Spuren und Wunden“, die von dem Ineinandergreifen von Geld und Macht verwischt werden, obwohl die Interviewten in ihrer Mutlosigkeit ihr eigenes Schicksal nicht so wichtig nehmen und obwohl ich auch selbst meine Zweifel habe, ob „diese Zeugnisse für morgen gemacht sind.“

Nahezu alle Interviewten berichten, dass sie eine vollkommen geänderte Gesellschaft vorgefunden haben, nachdem sie aus der Haft entlassen wurden. Eine vollständige Umerziehung hatte stattgefunden. An die Stelle von Idealen war jetzt das Geld getreten. Nur wer Geld hatte, war etwas wert. Die politischen Gefangenen verkauften sich, um wieder Teil der Gesellschaft zu werden, und ihre Familien und Frauen nicht zu verlieren.

Beklemmend lesen sich die wiederholten Berichte von fehlendem Rückhalt und Anschuldigungen seitens der Familien. Die aus der Haft entlassenen wurden eher als Täter denn als Opfer behandelt. Die Umerziehung durch Angst war lückenlos gelungen.

Liu Yi, Streikpostenleiter der Stadtbevölkerung, vormals ein wohlhabender Mann, der die gesamte Familie finanziell unterstützte, und nun von der Hand in den Mund lebt, sagt, nachdem sich nach seiner Leidenszeit in Gefängnissen und Umerziehungslagern die gesamte Familie, außer der Mutter, von ihm abgewandt haben: „Der 4. Juni, das ist der ehrbarste Teil meines Lebens, der geht über alles, über das „hastige Essen im Stehen“, über „das Reichwerden“, nein, das bereue ich nicht. Auch wenn ich schon Anfang fünfzig bin, aber die Einzelteile meines Körpers sind noch komplett. Ich glaube fest daran, dass ich die Rehabilitierung des 4. Juni noch erleben werde, zum Trost der unschuldig verurteilten Seelen, den Tag werde ich noch erleben.“

In jedem der Interviews kommen die absolut menschenunwürdigen Bedingungen in den Gefängnissen zur Sprache, die unvorstellbare Überbelegung der Zellen, grauenhafte hygienische Zustände, Folter, Zwangsarbeit und Hunger.

Selbst Kinder wurden inhaftiert und offenbar nicht besser behandelt als die erwachsenen Gefangenen.

Verfahren gab es kaum, die Rechtssprechung erfolgte in den meisten Fällen absolut willkürlich. Dennoch legte fast keiner der Verurteilten Berufung ein, aus Angst, das Strafmaß dadurch nur zu verschärfen.

Insbesondere in den „Umerziehungslagern“ wurden die Häftlinge dazu missbraucht, möglichst viel Geld zu erwirtschaften. Li Hongqi berichtet: „Ich bin besonders geschickt mit Händen und Füßen. Das Malochen bringt mich nicht um. Aber bei vielen haben sich die Hände verformt, die sind für immer verunstaltet. Zwei von meinen Knastbrüdern, die zu langsam waren, haben es nicht mehr ausgehalten, sie haben ein Fieberthermometer zerschlagen und das Quecksilber getrunken. Das Ende vom Lied, man hat ihnen im Krankenhaus den Magen ausgepumpt, sie mussten weiterleben.“

Trotz all dem erfahrenen Leid, der Erniedrigung und fortgesetzten Verfolgung, bereut keiner der Befragten seine Beteiligung am 4. Juni.

Die Mütter des Tiananmen haben in skrupulöser und oft jahrzehntelanger Arbeit, eine Liste der am 04. Juni ermordeten Opfer erstellt, das jüngste der so erfassten Opfer war gerade erst neun Jahre alt. Die 202 Namen und Geschichten erfassen nur einen kleinen Bruchteil des ganzen Massakers. Die Mütter machen ebenso unerschrocken weiter mit Listen, die die Erinnerung aufrechterhalten sollen, wie die chinesische Regierung mit ihrer politisch verordneten Amnesie.

Liao Yiwu
Die Kugel und das Opium
Leben und Tod am Platz des Himmlischen Friedens
Aus dem Chinesischen von Hans Peter Hoffmann
S. Fischer
2014 · 10,99 Euro
ISBN:
978-3-596-19500-8

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