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Kritik

Zwischen Geborgenheit und Scham, Zuneigung und Unverständnis

Zu Marie Luise Lehners Debütroman - eine Vater-Tochter-Geschichte
Hamburg

In der Schule fragt mich jemand, was mein Vater arbeitet. Ich sage, er ist Überlebenskünstler.

Eltern sind Menschen, die man sich nicht ausgesucht hat und zu denen man sich doch sein ganzes Leben verhalten muss. Es sind Menschen, mit denen wir viel Zeit verbringen, die uns prägen und von denen wir uns, um unserer eigenen Entwicklung willen, irgendwann distanzieren müssen, in Kleinigkeiten wie auch in generellen Ansichten. Menschen, die uns eine Zeit ganz nah sind und von denen wir uns dann entfernen. Und eine Distanz zu finden versuchen, die weder schmerzt, noch entfremdet. Eine Distanz, die man noch Verbindung nennen kann (oder eben: nicht mehr).

Die meisten Menschen tragen eine eigene, komplexe Geschichte dieser Beziehung und ihrer Entwicklung mit sich herum. In Marie Luise Lehners Debütroman „Fliegenpilze aus Kork“ wird eine  solche Geschichte erzählt; auf eine Art und Weise, von der ich behaupten würde, dass sie besonders gelungen ist.

Die Eltern der namenlosen Ich-Erzählerin trennen sich als das Kind zwei Jahre alt ist. Ihr Leben lang (die geschilderten Ereignisse erstrecken sich von der Geburt bis ins zwanzigste Lebensjahr) ist der Vater somit eine eigene Seite ihrer Wirklichkeit, ein bestimmter Raum, größtenteils getrennt von ihren anderen Lebensräumen. Von diesem Raum wird erzählt – in kurzen Absätzen, Beobachtungen, Szenen, Geschichten, die manchmal größere Bögen schlagen, manchmal ganz kleine.

Den Großteil der Zeit ist der Vater arbeitslos, er erledigt viele Gelegenheitsarbeiten, ist viel mit seinen eigenen Vorstellungen vom Leben beschäftigt, hat eigenwillige Ideen in Bezug auf die Freizeitgestaltung und die Kindererziehung. Aber was heißt das schon: eigenwillig? Durch die Geschichten und den Umgang zwischen Vater und Tochter wird schnell das vielschichtige, in seinen Dimensionen nie ganz abgeschlossene Individuum deutlich, dessen Methoden der Lebensbewältigung – sowohl innerhalb als auch abgesehen von seiner Vaterschaft – ebenso imponierend wie fahrlässig wirken, wunderlich und pragmatisch zugleich. Es ist verblüffend wie schnell sich ein Bild des Charakters zusammensetzt, wie schnell es sich verfestigt  und doch immer wieder hier und da abgeschlagen, geschleift, ergänzt werden muss.

Überhaupt ist beeindruckend, wie einen der Sog der Erzählung packt und wie Marie Luise Lehner es schafft, in ihrer neutralen, fast dokumentarischen Sprache, dennoch allerhand Gefühlsnoten, Zwischentöne und subtile Auslotungen unterzubringen.

Das Kind wächst. Die Lebenswirklichkeiten des Vaters und die des Kindes, am Anfang eng verknüpft, haben immer klarere, festgelegte Berührungspunkte. Das Narrativ schwankt, wechselt gekonnt zwischen Dingen, die im Gewand der Beobachtung daherkommen – bei der man fast vergessen könnte, wer sie macht, wer mit anwesend ist, sodass die Erzählerin kurz in der Darstellung verschwinden – und den Momenten, wo die Erzählerin als Figur, als Tochter, wieder hervortritt aus dem Narrativ, nicht nur beobachtendes Element ist, sondern agierendes, reagierendes, thematisiertes.  

Wenn wir in der Früh zu seinen Baustellen fahren, nimmt er Tassen mit Kaffee mit ins Auto. Er lenkt mit den Knien und manchmal fließt ein Schwall Kaffee über seinen Oberschenkel.

Er schmiedet neue Pläne für mich. Er sagt, ich solle eine Friseurinnenlehre machen. Damit er nicht so lange Alimente zahlen muss. Ich bin ihm auf Dauer zu teuer.

Es ist eine der großartigen Leistungen dieses Buch, dass es aus der Dynamik dieser wechselnden Einstellungen seine erzählerische Kraft schöpft. Die Figur des Vaters ist für den Lesenden fast greifbar, aber eben doch nicht ganz, ebenso wenig wie er für die Tochter gänzlich greifbar wird; sie versucht auch nie ein Fazit zu ziehen. Alles, was sie uns erzählt, sind Beobachtungen, Empfindungen, Verhaltensweisen – keine Urteile, keine abschließenden Wertungen. Das gibt dem Buch etwas sehr Menschliches, eine authentische Zerrissenheit, die im Unverständnis noch Faszination findet, in der Wut Sorge, in der Geborgenheit Scham, in der Zuneigung Irritation. Ja, der Vater ist ein Sonderling und es gibt genug an ihm, was vor den Kopf stößt. Aber er bleibt der Vater. Und ist natürlich auch einfach ein Mensch, mit Narben wie jeder andere, ebenso in seinen Überzeugungen beheimatet, wie darin gefangen.

Im Schatten der Geschichte des Vaters ist die Geschichte der Tochter fast zu wenig präsent, wenn sie auch der Maßstab ist und nichts, was über das hinausgeht, was die Tochter wissen kann, erzählt wird. Das Buch kreist um den Vater, jede dargestellte Entwicklung im Leben der Tochter wird, manchmal dünn, manchmal stärker, mit dem Vater verknüpft, läuft in der Schilderung auf den Berührungspunkt mit dem Vater hinaus, selbst wenn sie anfangs eigenständig wirkt.

Aber es ist ja auch seine Geschichte. Und sie wird zur Geschichte der Tochter in der Frage, wie man sich zu seinen Eltern verhalten soll, wie der Umgang mit ihnen ein Kind, eine Heranwachsende prägen und umtreiben kann. Sind Eltern nicht die Menschen, bei denen wir am ehesten erfahren können, was es bedeutet ein Mensch zu sein? Sie sind selbst einmal Kinder gewesen, nun schon länger erwachsen, haben ein Platz in der Welt gefunden (oder eben nicht) und haben sich positioniert zu diesem und jenem. So viele Geschichten, Diskrepanzen, Sicherheiten und Unsicherheiten wie jene, die uns mit unseren Eltern verbinden, die zwischen uns und unseren Eltern liegen, gibt es selten in unserem Leben in der Beziehung zu einem anderen Menschen.

Es sind wohl fast immer überladene Beziehungen und die ganze Last, aber auch die ganze Fülle einer solchen gemeinsamen Geschichte ist in Marie Luise Lehners Buch aufgebahrt, gesammelt, kann durchwandert werden. Dieses Buch klagt nicht, sortiert nicht, psychologisiert nicht. Es erzählt. Und man kann anhand seiner Bewegung, seiner Dynamik, wieder einmal sehen, was für eine vielgestaltige Kraft im Erzählen liegen kann.

In der Schule fragt mich jemand, was mein Vater arbeitet. Ich sage, er ist Waldorflehrer, er arbeitet nur im Augenblick nicht, weil ihn die Kinder wegen seiner krummen Nase gehänselt haben.

 

Marie Luise Lehner
Fliegenpilze aus Kork
kremayr & scherikau
2017 · 192 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-218-01067-2

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