Gelebte Dissidenz I
Teil I: Das wahre Potenzial der Popmusik
Der 1999 aus dem Zusammenschluss des Verlags Jens Neumann, der Zeitschrift Ventile – Texte und Bilder sowie der Zeitschriften- beziehungsweise Buchreihe testcard. Beiträge zur Popgeschichte gegründete Ventil Verlag mag sicherlich nicht die einzige, sicherlich aber eine einzigartige Bastion linken, kritischen Denkens in der deutschsprachigen Verlagslandschaft darstellen. Gesellschaftsanalyse und –Kritik beziehen sich weniger aus politischen denn vielmehr aus kulturphilosophischen Diskursen, die Gegenstände sind lebensnah: Poptheorie, -kultur und -geschichte. Reader zu Markenklamotten, vegetarisch-vegane Kochbücher oder autobiografisch angehauchte Romane von ehemaligen Dorfpunks und zeitgenössischen Großstadtproleten treffen auf analytische Monographien, die sich abseits des Mainstreams austoben. Gelebte Dissidenz, ansprechend poppig aufbereitet und leicht zu, na ja, konsumieren – ohne dabei an Haltung vermissen zu lassen.
Einer der aggressivsten, aber auch leidenschaftlichsten Denker, der den Verlag wie auch die dazugehörige Zeitschrift testcard mit seinen Artikeln, Rezensionen und nicht zuletzt Einzelpublikationen geprägt hat, war Martin Büsser. Laut Verleger und Journalist Jörg Sundermeier wollte Büsser »nie Kunst, die Parolen nachbetet, Manifeste waren seine Sache nicht. Ihm gefiel es, Widersprüche aufzudecken und notfalls auszuhalten. « Denn »um einen Dialog, nicht um Rechthaberei« ging es dem 2010 verstorbenen Journalisten. Vor diesen Aussagen klingt es zuerst ein wenig widersinnig, dass Büsser seinem erstmals 2004 in den Hamburger Sabine Groenewold Verlagen erschienenem Buch On The Wild Side den Untertitel Die wahre Geschichte der Popmusik mitgab. Ist das nicht ein wenig vermessen?
Martin Büsser (1968 – 2010) Foto: Ventil Verlag
Dass Büsser, der in den 1980er und -90er Jahren in der Punk- und Hardcoreszene unangenehm auffiel, weil er in Fanzines wie dem Zap! über ziemlich unpunkige Avantgarde-MusikerInnen berichtete, damit einen kleinen Affront anpeilte, dürfte klar sein. Ventil-Verleger Jonas Engelmann stellt in seinem Vorwort zu On The Wild Side außerdem klar: »Relevante Popkultur war für Martin Büsser vor allem solche, die nach neuen Ausdrucksformen suchte, nach Formen, über die Kritik und Unzufriedenheit formuliert werden, die sich nicht mit Normen und Erwartungen zufriedengab, sondern Grenzen sprengte: der Geschlechterbilder, der Genres…« Auf der wilden Seite der Popkultur, heißt das sinngemäß, findet sich eben das wahre Potenzial der Musik vergraben. Büssers gut 260 Seiten starkes Buch funktioniert als Schatzkarte der Subkulturen und subkulturellen Strömungen, kartografiert den Underground. Sein Augenmerk liegt auf subversiven Elementen und Subjekten, nicht aber auf Verkaufszahlen und Megastars.
Beginnend bei den Beach Boys und den Beatles arbeitet sich Büsser in ebenso leichtfüßigen wie scharfsinnigen Analysen den Weg zu den gebrochenen Beats des Anticon-Labels und dem idiosynkratrischen Dilettantismus des Antifolk – dem Büsser ein eigenes, ebenfalls im Ventil Verlag erschienenes Buch widmete – vor. Dass er dabei hier und dort einige Musikrichtungen nur kursorisch streift und andere wiederum intensiv in den Fokus nimmt, mag seinen persönlichen Interessen geschuldet sein, fällt aber kaum ins Gewicht. Büsser, der als Fan mit dem Schreiben begonnen hat, ist eben genau das geblieben. Er bewegte sich am sichersten in den Gebieten, denen er die meiste Leidenschaft entgegengebracht hat. Das garantiert auch die Kurzweiligkeit, denn trotz der extremen Verdichtungen und Verknappungen, die Büssers pophistorischen Abriss kennzeichnen, gehen ihm die (sub-)kulturellen Analysen immer noch mit der Lockerheit eines Fanzine-Schreibers von der Hand.
Und natürlich lässt der Büsser, der sich als einiger den wenigen bekannten MusikjournalistInnen wirklich traute, unbequem zu werden, über all die Passion am Gegenstand nicht die Kritik verschütt gehen. Vereinnahmung durch den Mainstream, wie sie Phänomene wie die Neue Deutsche Welle erfuhren oder die subkulturellen Ausgrenzungsdynamiken, wie sie in Form von Frauenfeindlichkeit, Homophobie und sogar Antisemitismus stellenweise im Hip Hop zu beobachten waren, legt er schonungslos offen und widmet sogar ein ganzes Kapitel dem Thema Rechtsrock. Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um die Südtiroler Band Frei.Wild ein brandaktueller Diskurs. Büsser legt in On The Wild Side das wahre Potenzial der Musik offen – und deckt auf seine unverwechselbare Art reihenweise Widersprüche auf.
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