Martin Pollack stellt bohrende Fragen in seiner Topografie der Erinnerung
In der Parallelwelt des Internets leben sie noch, die von den Nationalsozialisten ermordeten Polen, Zigeuner und vor allem Juden. Privat fotografiert von Wehrmachtsangehörigen. Die auf Böden oder in Nachlässen gefundenen Fotos werden jetzt zu zehn bis 40 Euro auf entsprechenden Internetseiten angeboten. Die Preise zeigen, es gibt einen Markt dafür. Auch für Abbildungen von Toten, untertitelt mit „Polen oder Partisanen“. Martin Pollack, der vielfach ausgezeichnete Publizist, hat einige der Fotos gekauft und näher betrachtet und weist in seinen Essays unter anderem auf diese Parallelwelt hin: „Ein polnischer Heckenschütze“ heißt einer der Essays in dem Kapitel „Bilder und Bildpolitiken“. Ein toter Mann wird gezeigt, die Beschreibung des Internethändlers lautete: Ein polnischer Heckenschütze. Ein typisches Beispiel, wie der Händler unreflektiert die Beschreibung des fotografierenden Soldaten übernahm, der dieses Foto einst verschickte. Und der mit dieser Fotografie den Überfall auf Polen und diesen auf dem Foto festgehaltenen Mord zu legitimieren versuchte: Heckenschütze = Partisan = Hinterhalt. Indes ist keine Waffe auf dem Foto zu sehen. Pollack vermutet, dass es sich um einen Zivilisten handelt. Eine schwierige Beweisführung, doch Pollack ist jemand, dem Leute zuhören, den Leute lesen. Er bekam neben vielen Anerkennungen für sein Aufklärungswerk 2011 den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung. Das gleiche Foto wurde drei Jahre später vom gleichen Händler mit der Bildunterschrift „Ermordeter Volksdeutscher“ angeboten und kostete zehn Euro mehr. Pollack schließt daraus:
Ein ermordeter Volksdeutscher wird offenbar höher bewertet als ein erschossener polnischer Heckenschütze.
Martin Pollacks Engagement und Aufklärungswille kommen nicht von ungefähr. In diesem Essayband des Residenz Verlages Wien „Topografie der Erinnerung“ kann man in verschiedenen Texten seinen Werdegang von früher Kindheit an verfolgen. Was Pollack umtreibt, ist seine Herkunft. Sein Vater, den er nicht kennengelernt hat, war ein Täter. Ein überzeugter Nazi, der beim Warschauer Aufstand 1944 als Leiter eines Sonderkommandos polnische Gefangene hat erschießen lassen. Seine Großeltern, die er sehr liebte, und die in einem Essay über Pollacks frühe Kindheit präsent sind, waren auch nach dem Krieg überzeugte Nazis. Das führte bei Pollack, als es um sein Studium ging, zu einer Trotzreaktion, er studierte Slawistik – und zwar in Warschau. Auch sein Name scheint Programm zu sein: Pollack heißt phonetisch Pole. (Polnisch: polak, so nennen sich die Polen nach wie vor, nur im Deutschen ist zum Schimpfwort geworden.) Und er hat mit dieser Entscheidung seine Bestimmung gefunden. Das deutsch-polnische Verhältnis ist sein Thema, vor allem in Hinblick auf die gemeinsame Geschichte. Insofern ist er der Prototyp des Nachgeborenen (Jahrgang 1944), den die Geschichte, die Mitverantwortung seiner Familie umtreibt, bis es manchem über wird. Negativ gesehen – eine Selbstkasteiung, die einigen Zeitgenossen auf die Nerven geht. Positiv – er legt den Finger in die Wunde, in seinem Fall ganz speziell in die der Mitverantwortung seiner Familie. Dazu betrachtet er z.B. ein Foto aus dem Familienalbum, das auch das Motiv des Covers ist: drei Kinder, ein vielleicht fünfjähriger Junge hebt den rechten Arm zum Hitlergruß. Auf einem zweiten Foto heben auch die beiden ein wenig älteren Mädchen den Arm. Entstanden sind die Fotos 1932 in Österreich, dort wurde ein Jahr später die nationalsozialistische Bewegung verboten. Pollack kann die Kinder nicht zuordnen, es scheinen entferntere Tanten oder Onkels zu sein. Er vermutet, das Foto sei aufgehoben worden, weil das Motiv gefiel. Und das Foto regt den Autor zu vielen Fragen an. Ob die Kinder den Verwandten einen Gefallen tun wollten, was aus ihnen wurde, ob sie auch zu Tätern geworden sind. Dieser Aufsatz ist eine von zwei Erstveröffentlichungen in dem Band, alle anderen Texte sind zu Gedenktagen als Vortrag oder in Zeitschriften erschienen. Aber an diesem Text scheint der Pollack'sche Ansatz übermotiviert. Natürlich sind alle seine Fragen berechtigt. Auch seine Vermutung, wie viele ähnliche Aufnahmen
in Schachteln und Alben gehortet werden.
Aber diese drängenden Fragen und möglicherweise forcierten Vermutungen ermüden auch. Und dies ist Gift für Pollacks eigentliches Anliegen: hinschauen, nicht vergessen. Martin Pollack hat verdienterweise hohe Anerkennung für seine Aufklärungs- und Erinnerungswerke erhalten. Aber die Überinterpretation, auch die Wahl dieses Fotos für das Cover, schadet seinem berechtigten Anliegen. Auch die Wahl des Titels wirkt überambitioniert: „Topografie der Erinnerung“ ruft ungefragt als Analogie die „Topografie des Terrors“ auf, das Dokumentationszentrum in Berlin in der ehemaligen Gestapozentrale. Natürlich lässt sich dagegen eigentlich nichts sagen, aber es schwingt ein hoher Anspruch mit, eine hohe Moralität, gegen die mancher doch allergisch ist.
Natürlich, und das muss nach diesem Einwand unbedingt gesagt werden, sind Pollacks Essays wichtig und hochspannend. In der zweiten Erstveröffentlichung in diesem Buch – („Die Lehrer unserer Väter“) – wird beispielsweise explizit der Frage nachgegangen, wer Hitlers Lehrer waren.
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