Nur Tito durfte Whisky trinken
Abschiedsessay nennt Miljenko Jergović seine Ausführungen und so beginnt das Buch mit dem Tod des Vaters. Eines Vaters, dem der Autor angeblich nicht nahe stand, dessen Verlust ihm aber Anlass war, diesen tiefgründigen Essay zu schreiben. Darin erzählt er nicht nur die Lebensgeschichte seines Vaters und die der ganzen Familie, sondern berichtet auch von der verworrenen, oft blutigen Geschichte seiner Heimat Bosnien-Herzegowina. Denn wie ein Sarajewo-Puzzle für Kleinkinder hängen für Miljenko Jergović die privaten Lebensgeschichten mit der allgemeinen Geschichte zusammen.
Beginnen wir mit dem Vater. Weil die Eltern sich kurz nach Miljenkos Geburt trennten, war der Vater für das Kind nur zeitweise anwesend. Der erwachsene Sohn gibt sich rückblickend alle Mühe, dem Vater kritisch zu begegnen, nennt ihn schwach und einen Opportunisten, notiert im Verlauf seiner Abhandlung allerdings so viele positive Seiten des Vaters, dass man ihm seine Behauptung, er und sein Vater hätten sich nicht geliebt, nicht abnimmt. Hat sich der Vater doch letztlich vom Auf und Ab der politischen Verhältnisse nicht vereinnahmen lassen. Dennoch spiegelt sein Lebenslauf diese wider. Seine Familie hat es ihm nicht leicht gemacht. Die Mutter und drei seiner Tanten waren fanatische Katholiken, gehörten zu der faschistischen Ustascha, weswegen sie nach dem Krieg ins Gefängnis mussten. Miljenko Jergović‘ Vater hingegen war Atheist, kämpfte bei den Partisanen und trat in die Kommunistische Partei ein. Als Arzt
glaubte er, die Menschen wären so, wie sie die Kommissare der Kommunistischen Internationale schilderten. Alle gleich, Unterschiede nur bei Blutgruppe und Rhesusfaktor.
Obwohl er als Facharzt für Leukämie am Koševo-Klinikum arbeitete, ließ er es sich nicht nehmen, mehrmals in der Woche zwanzig Kilometer östlich von Sarajewo in die sogenannte Romanija zu fahren, die hauptsächlich von Muslimen und vor allem von Serben bewohnt war (das Gebiet gehört heute zu der Republik Srpska), um für die Menschen dort als Hausarzt tätig zu sein. In diesem Zusammenhang ermahnte ihn seine Schwiegermutter, Miljenko bei den Serben nichts essen zu lassen, weil diese so schmutzig wären, woraufhin er seinen Sohn ausdrücklich zum Gegenteil aufforderte. Dieser Vorfall, so schreibt der Autor, habe sich ihm als wichtiges, aber nach Jahren immer noch kenntliches Identitätsmerkmal eingeprägt.
Als es in den Neunziger Jahren auch in Bosnien-Herzegowina zum Krieg kam und die drei Nationalitäten, Serben, Kroaten, Bosniaken, gegeneinander kämpften, geriet auch der Vater in die Schusslinie.
Granaten, Mörsergeschosse und Raketen sollten aus den Orten fliegen, in die er dienstags, donnerstags und oft auch am Wochenende als Arzt gefahren war. Schmerzlich häufig wurden sie von seinen Patienten, deren Kindern und Enkelkindern gezündet.
Auch der Sprengkörper, der in seinem Wohnzimmer explodierte, könnte von einem seiner Patienten sein.
Um sowohl Vater und Sohn zu schaden, wurde irgendwann das Gerücht verbreitet, dass der Arzt Serbe sei. An dieser Stelle macht Miljenko Jergović deutlich, in welches Dilemma ein Mensch gerät, der sich auf dieses nationalistische Denken einlässt. Er stellt die Frage, warum man darauf bestehen sollte, kein Serbe zu sein.
Mal abgesehen davon, dass man ihm dann hätte unterstellen können, er hätte etwas gegen Serben und sei im Krieg nationalistisch geworden, er hätte einen Teil seiner echten Identität verloren. Ein Mann ist Kroate nur insofern, er es nicht beweisen muss – und schon gar nicht deshalb, damit er nicht als Serbe gilt -, denn jeder, von dem ein solcher Beweis verlangt wird, ist im Grunde ein Jude. Nur dass die anderen Juden nichts damit zu tun haben und nichts von seinem Judentum wissen.
Der Vater unternimmt nichts, um zu beweisen, dass er Kroate ist und der Sohn schreibt, dass er stolz auf seinen Vater sei.
Die Lebensgeschichte des Vaters ist der Ariadnefaden, der den Leser durch das Buch führt. Aber dieser Faden liegt mitten in der komplizierten Geschichte des Landes, mit all ihren zum Teil (traurig-) berühmten Akteuren, vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg, hin zu der Zeit, als Bosnien-Herzegowina zu Jugoslawien gehörte, bis zu den verschiedenen Kriegen dieses Landstriches zwischen 1991 und 1995.
Jeder unserer Kriege in den letzten fünfhundert Jahren war ein Bruderkrieg. Der Brudermord ist ganz allgemein der tragische Aspekt der Kriegsführung. Ohne ihn hätten unsere Kriege – in der Sprache der Astrologen ausgedrückt – ausschließlich günstige Aspekte. Aus ihnen ginge man nur als Opfer und Leidtragender hervor, nicht als Brudermörder.
Alle Beteiligte, so führt er aus, haben in diesem Zusammenhang Schuld auf sich geladen und müssen sich der Verantwortung stellen. Um in Zukunft friedlich miteinander zu leben, dürfe man nicht dabei stehen bleiben, sich gegenseitig Völkermord vorzuwerfen.
Denn wenn Serbien für den Genozid in Vukovar, Ost- und Westslowenien, der dalmatischen Zagora, der Lika, Škabrnja und Drniš verurteilt würde, dann sind Jasenovac, Jadovno und Kozara und auch die aus Zagreb deportierten Serben und Juden kein Thema mehr, dann darf man ungeniert Ustascha-Lieder singen und Ante Pavelić preisen
In seinem dichten Essay schont Miljenko keine Seite, nennt Personen und Geschehnisse beim Namen. Will der Leser alle Orte und Protagonisten richtig einschätzen, wird er wie ich mehrere Namen nachschlagen müssen. Aber das lohnt sich, denn Miljenko führt die Ereignisse nicht nur auf, sondern vertieft sie aus vielfältiger Perspektive. Schließlich ist das durch die Geschichte seiner Heimat geprägte Verhalten der Menschen nicht nur in Sarajewo zu finden. Dass Nachbarn plötzlich zu Feinden werden, die man denunziert und verfolgt, davon können auch deutsche Leser sprechen und sicherlich gerade in diesen Tagen auch Menschen in der Ukraine. Miljenko pocht darauf, Literatur müsse von der Vergangenheit erzählen, müsse wie Indiana Jones in die Vergangenheit zurückkehren, um doch noch etwas zu ändern, das bereits geschah. Dies sei die einzige Möglichkeit, dass die Vergangenheit nicht gefälscht wird und aus dieser Verfälschung neue, noch schlimmere Metastasen erwachsen. Und damit sind wir dann doch in der Gegenwart.
Trotz der Ernsthaftigkeit des Themas sind in dem Buch einige Passagen recht ironisch geschrieben. Beispielsweise, wenn Jergović vom himmlischen Zentralkomitee seiner katholischen Großmutter erzählt oder davon, welchen Alkohol die dankbaren Patienten seinem Vater schenkten. Selbstgebrannten Schnaps, Liköre, vornehmlich Stock, keinesfalls Whisky, denn den tranken nur die Bösen in amerikanischen Western. Aber keine Regel ohne Ausnahme:
Denn wie Nektar das Getränk der Götter ist, so war Whisky das Getränk des Genossen Tito.
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