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Kritik

Russlands Wirbelsäule, oder: Schein und Sein im Ural

Hamburg

Russlands Vergangenheit sei schwer vorhersehbar, behauptet ein bekanntes Bonmot. Wenn dies stimmt, so mag es mit ein Grund dafür sein, dass sich viele russische Schriftstellerinnen und Schriftsteller heutzutage in ihrem Schaffen lieber der Zukunft zuwenden. Ob sich allerdings das Kommende deutlicher abzuzeichnen vermag als das Gewesene, ist freilich äußerst fraglich. Doch es bleibt eine Tatsache: Vladimir Sorokin, Dmitry Glukhovsky, Tatjana Tolstaja und viele andere haben in den letzten Jahren den literarischen Versuch unternommen, das künftige Russland, seine Politik und Gesellschaft, zu skizzieren. Dass dabei in aller Regel Dystopien resultieren, dürfte kein Zufall sein. Noch ein weiteres Element verbindet diese Art von Literatur: Sie lässt sich, ob sie dies nun beabsichtigt oder nicht, immer auch als eine Diagnose der Gegenwart lesen.

Nach wie vor ist nicht absehbar, wie Russland im kommenden Herbst den 100. Jahrestag der Oktoberrevolution von 1917 begehen wird. Allzu heikel erscheint der Anlass für das Gedenken: Einfach ignorieren kann man das Jubiläum nicht – zu sehr haben sich die gegenwärtigen Machthaber darauf verlegt, große Teile des sowjetischen Erbes in die Gegenwart einzuschreiben. Andererseits lässt allein das Wort „Revolution“ die Kremlmauern erzittern: Ängstlich blickt man von dort in Richtung Ukraine, Georgien oder Kirgisien und fürchtet nur das eine: dass auch in Moskau ein Maidan die herrschenden Verhältnisse umstürzen könnte.

Olga Slawnikowa (*1957) hat bereits 2006 einen Blick ins laufende Jahr gewagt: Damals hat die im deutschsprachigen Raum bis anhin unbekannte Autorin einen dystopischen Roman mit dem Titel „2017“ veröffentlicht und noch im selben Jahr dafür den renommierten Russischen Booker-Preis erhalten. Erst seit ein paar Monaten liegt der Roman nun auch auf Deutsch vor. Natürlich lässt er sich im aktuellen Gedenkjahr besonders gut vermarkten. Dies ist aber bei weitem nicht der interessanteste Aspekt an diesem Buch. Viel relevanter wäre etwa die Frage, inwiefern sich Slawnikowas damalige Vision vom heutigen Russland bewahrheitet hat. Eine Lektüre ihres Romans im derzeitigen Jubiläumsjahr gibt auch hierauf eine Antwort. Doch es wäre verkürzt und ungerecht, „2017“ lediglich daran messen zu wollen, welche von Slawnikowas Prophezeiungen inzwischen Realität geworden sind.

Olga Slawnikowa führt uns in den Ural, nach Jekaterinburg im Jahr 2017. Die Stadt selbst wird zwar nicht namentlich genannt, kann aber dank verschiedener Realia als solche eindeutig identifiziert werden. Der Roman spielt auf drei Ebenen, die wie drei konzentrische Kreise den Aktionsradius der Hauptfigur abstecken. Diese tritt uns nämlich als Privatperson, als Liebender, entgegen, aber auch als Arbeitnehmer in einem komplexen Umfeld und schließlich als Zeitzeuge und Bürger seines Landes.

Der Roman beginnt zunächst als eine Liebesgeschichte: Ein Mann und eine Frau – er stellt sich als Iwan, sie als Tanja vor – lernen sich kennen. Sie tauschen keine Kontaktdaten aus, sondern legen immer nur Ort und Zeit des nächsten Treffens fest. Das ist Teil eines spontanen und aufregenden Spiels. Beide wissen, dass sie damit das Schicksal herausfordern. Über Tanja erfahren wir nicht viel: Wir können immer nur gemeinsam mit Iwan Krylow Mutmaßungen über sie anstellen, denn aus seiner Perspektive wird in diesem Roman vorwiegend wahrgenommen und erzählt. Tanja bleibt als Figur geheimnisvoll, fast feenhaft, und eine Atmosphäre des Irrationalen und Ungewissen charakterisiert die Passagen über die Liebenden. Eines Tages stellt sich heraus, dass die beiden überwacht werden. Das bietet Anlass zu Spekulationen, Sein und Schein vermischen sich – und die Liebesgeschichte geht allmählich in einen Kriminalroman über.

Krylow, dessen richtiger Vorname eigentlich Weniamin lautet, ist Historiker und Dozent. Doch nunmehr arbeitet er vorwiegend als Edelsteinschleifer. Für seine wertvollen Steine ist der Ural seit Jahrhunderten berühmt. Krylows Begegnung mit Tanja entfaltet sich auf dem Hintergrund der „Chitniki“-Szene. Das sind Leute, die illegal nach Edelsteinen schürfen und diese dann unter der Hand vertreiben. Krylow selbst ist nach und nach in diese Kreise hineingeraten: Beim Verkauf von Rubinen kann man einiges mehr verdienen als bei ihrer bloßen Verarbeitung. Slawnikowa beschreibt anhand des Edelsteinbusiness Korruption und Hyperkapitalismus in Russland. Hier werden gewaltige Summen umgesetzt, und die Mächtigen in Wirtschaft und Politik verfolgen dabei alle ihre je eigenen Interessen.

Den dritten Kreis der Handlung bildet der große zeitgeschichtliche Horizont: Russland bereitet sich auf den 100. Jahrestag der Oktoberrevolution vor. Man rüstet sich für ein großes Fest: Als Historienspiel soll der Bürgerkrieg in Originaluniformen nachgespielt werden. Doch dann gerät das Ganze aus dem Ruder: Aus der Maskerade wird plötzlich Ernst, die Geschichte scheint sich als Parodie auf sich selbst zu wiederholen. Slawnikowas Roman lässt sich deshalb auch als geschichtsphilosophischer Text lesen. Im nachfolgenden Chaos verliert Krylow Tanja aus den Augen. Jekaterinburg und Russland stehen am Abgrund.

Es ließe sich darüber streiten, ob Olga Slawnikowas Buch als ganzes eine „beißende Satire“ ist, wie der Verlag im Klappentext behauptet. Gewiss, die Autorin stellt die Mechanismen des russischen Wirtschaftens bloß; sie weiß um die unauflösliche Verstrickung von Business und Politik. Aber wo es um Korruption geht, ist Slawnikowas Diagnose eindeutig und sehr ernst gemeint: Für Humor ist da kein Platz mehr. Freilich kann im Buch sehr wohl satirische Stellen finden – etwa wenn die Autorin eine Fernsehshow karikiert, in der Krylows Exfrau auftritt, um für ihr Unternehmen zu werben: Sie führt nämlich ein Bestattungsinstitut namens „Granit“, das sich um die Hinterbliebenen kümmert, indem es ihnen eine Art emotionales Wellnessprogramm für die Trauerzeit anbietet.

Liebesgeschichte, Kriminalroman, Geschichtsphilosophie, Zeitdiagnose: Es gelingt Olga Slawnikowa, diese verschiedenen Stoffe auf eine Art und Weise miteinander zu verbinden, die durchaus funktioniert: Kein Element gewinnt die Überhand; sie halten einander in Schach und beleuchten sich doch wechselseitig – keines ist ohne das andere denkbar, jedes ringt dem anderen zusätzliche Nuancen ab. Was die Literaturkritik bisher allerdings übersehen hat: Slawnikowa schreibt sich mit ihrem Buch auch in die regionale Folklore und in die literarische Tradition des Urals ein. Wenn die Edelsteinschürfer durch die Berge streifen, begegnen sie manchmal Legenden- und Fabelwesen. Slawnikowa schöpft hier zweifellos aus den Sagen und Märchen Pawel Baschows (1879-1950), der in gewisser Hinsicht die Folklore der Uralregion „erfunden“ hat. Auch Anklänge an Dmitri Mamin-Sibirjak (1852-1912) sind nicht zu übersehen: In seinem Roman „Die Priwalowschen Millionen“ (1883) hat dieser bereits eine uralische Spielart des Hyperkapitalismus analysiert, wobei es auch bei ihm unter anderem um das einträgliche Geschäft mit den Edelsteinen ging.

An der gegenwärtigen russischen Literatur fällt eine gewisse Tendenz zur Regionalisierung auf – Schauplatz der Literatur sind nicht mehr allein die „beiden Hauptstädte“ Moskau und Sankt Petersburg. Vom Ural und den angrenzenden Gebieten handeln auch manche Bücher von Alexei Iwanow (*1969), der in Russland gerade intensiv publiziert und gelesen wird. Für ihn ist der Ural „Russlands Wirbelsäule“. Mit dem Ural steht und fällt das ganze Land – oder anders gesagt: Im Ural verdichten sich die Probleme und Herausforderungen Russlands. Slawnikowa wiederum bezeichnet den Ural in ihrem Roman als „das Riphäische Gebirge“ – nach einem Begriff aus der antiken Geographie für einen Gebirgszug zwischen Europa und Asien. In Anlehnung daran könnte man sagen: Wir sind möglicherweise gerade Zeugen davon, wie sich in Russland eine „riphäische Literatur“ herausbildet.

Olga Slawnikowa
2017
Übersetzung: Christiane Körner, Olga Radetzkaja
Matthes & Seitz
2016 · 460 Seiten · 25,00 Euro
ISBN:
978-3-95757-322-3

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