Beredtes Schweigen
Wollte man Rachel Cusks Roman „Outline“ in einem Satz zusammenzufassen, klänge das etwas so: „Eine Frau fliegt nach Athen und lässt sich zulabern.“ Denn die Ich-Erzählerin Faye (deren Namen nur ein einziges Mal genannt wird, und das auch erst gegen Ende des Buches) ist keine Handelnde im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr eine Zuhörende. Und so hat der Roman streng genommen auch kaum eine Handlung. Paradoxerweise ist jedoch gerade das Zusammenfassen – das in Bezug auf den Plot absurd wäre – ein zentrales Thema des Buches: Im letzten Kapitel begegnet Faye der Schriftstellerin Anne, die nach einem traumatischen Erlebnis eine Störung entwickelt hat, die sie „Zusammenfassen“ nennt: Das Schreiben, aber auch jegliches Sprechen, Denken und Agieren erscheinen ihr zunehmend überflüssig, wenn man doch jede Handlung und jeden Gedanken mit einem Wort umreißen könnte. Das geht so weit, „dass sie selbst sich zusammengefasst fühlte und sich manchmal fragte, ob es überhaupt noch sinnvoll sei, tagein, tagaus zu existieren, wenn Annes Leben es eigentlich doch auch tat.“ Dies scheint einer der Schlüsselsätze zum Verständnis der Hauptfigur zu sein, wie vieles aus Annes Rede – nicht zufällig wird Anne Fayes Nachmieterin werden, sie also quasi am Schluss des Buches „ersetzen“.
Die Ich-Erzählerin hingegen bleibt ein bloßer Umriss ihrer selbst. Wobei bereits „Erzählerin“ eigentlich das falsche Wort ist, denn tatsächlich erzählen in „Outline“ alle anderen, während Faye das Gehörte und Gesehene lediglich protokolliert.
Über Faye selbst erfährt man, dass sie Schriftstellerin ist, mit ihren zwei Söhnen in London wohnt und von deren Vater offenbar seit über drei Jahren getrennt lebt. Nun reist sie nach Athen, um dort im Rahmen einer Sommerakademie kreatives Schreiben zu unterrichten. Viel näher wird man ihr im gesamten Roman nicht kommen. Eine derart verschwiegene, rätselhafte Figur als Ich-Erzählerin zu wählen, ist in der Tat mutig und hätte grandios scheitern können – bei Cusk jedoch ist das Ergebnis überwältigend. Mit „Outline“ ist ihr ein so faszinierender wie raffiniert konstruierter Roman über das fiktionale und das autobiografische Erzählen geglückt. Und das (fast) gänzlich ohne metatheoretische Überlegungen, sondern vielmehr anhand von schlaglichtartig herausgehobenen Szenen und Bildern, die lange nachwirken.
Dem ersten Dialog-(oder vielmehr Monolog-)Partner begegnet Faye im Flugzeug von London nach Athen: einem älteren Griechen aus einer wohlhabenden Reederei-Dynastie, der mal nostalgisch, mal zynisch auf seine drei Ehen zurückblickt. An einer Stelle unterbricht Faye seinen Redefluss mit der Bemerkung, dass es der Geschichte an Objektivität mangele, und verweist so bereits im ersten Kapitel auf die Subjektivität und Selektivität sämtlicher Geschichten, die ihr im Laufe des Romans zugetragen werden. Als Faye ihren Nachbarn in Athen wiedertrifft und zu zwei Bootsausflügen begleitet, fügt er seinen Erzählungen weitere Details hinzu, die das bereits Gehörte plötzlich in einem anderen Licht, bisweilen auch ziemlich fragwürdig erscheinen lassen.
Diese flirrende Spannung zwischen dem Anschein totaler Authentizität und dem Wissen der Zuhörerin um die Konstruiertheit jeden Lebensnarrativs ist das Instrument, das Cusk über 230 Seiten lang virtuos bespielt. Es ist wohl kein Zufall, dass die meisten Menschen, denen Faye begegnet, selbst Schreibende sind, die zumindest implizit auch von der eigenen Schaffenskrise berichten. Sei es Ryan, ihr Kollege an der Sommerakademie, der nach der Veröffentlichung eines einzigen Kurzgeschichtenbandes an einer Schreibblockade leidet, oder die feministische Autorin Angeliki, der vorgeworfen wird, mit ihrem erfolgreichen Roman um eine an ihrer Hausfrauenrolle erstickenden Malerin in Wahrheit eine schlecht getarnte Autobiografie vorgelegt zu haben.
Trockene Metafiktion ist „Outline“ allerdings beileibe nicht. Eine feine Ironie liegt schon in dem Umstand, dass die meisten Figuren Faye übereifrig und ohne Zögern ihre Lebensgeschichten aufdrängen, ohne ihrerseits Fragen zu stellen – beinahe so, als sei Faye eine bezahlte Therapeutin. Ein Grund für diesen Übereifer könnte sein, dass sie sich fern ab der Lebenswelten befinden, die sie beschreiben, herausgerissen aus Freundeskreisen und familiären Zusammenhängen. Derselbe Umstand also, der uns immer wieder an ihrer Glaubwürdigkeit zweifeln lässt (die Unmöglichkeit, das Geschilderte mit der Realität ihres Umfelds abzugleichen) erklärt also möglicherweise den Drang, sich in der Fremde durch das Erzählen ihrer Vorgeschichte immer wieder der Kohärenz ihres Ichs zu versichern.
Auch wenn äußerlich kaum etwas geschieht, werden wir unweigerlich hineingesogen in die komplexe Verschachtelung der Erzählebenen, die Cusk mit relativ einfachen Mitteln entwirft. In vielen Passagen bleibt zumindest ein paar Sätze lang unklar, wer spricht. Das liegt zum einen an dem stilistisch raffinierten Ineinanderlaufen von direkter und indirekter Rede, zum anderen daran, dass die Erzählenden oft lange Geschichten wiedergeben, die nicht einmal von ihnen selbst, sondern wiederum anderen Personen handeln. Nie lässt uns Cusk vergessen, dass uns jede Geschichte immer schon durch eine (mindestens) doppelt gekrümmte Linse präsentiert wird. Hört Faye vielleicht gerade jene Details heraus, die sie mit ihrem eigenen Schicksal verbindet, das für uns jedoch weitgehend im Dunkeln bleibt?
In das fortlaufende Geplätscher fremder Lebensbeichten brechen hin und wieder kurze Hinweise auf ihr eigenes in London zurückgelassenes Leben ein, wie etwa die SMS ihres Sohnes, die in ihrer Banalität beinahe schockierend wirkt: „Wo ist mein Tennisschläger?“ Zugleich erweitern erfolglose Telefonate mit ihrem englischen Kreditinstitut den Rahmen gescheiterter Beziehungen und persönlicher Probleme um eine gesamteuropäische Komponente. Das Wort „Finanzkrise“ wird zwar nie ausgesprochen, doch allein die Bettler, die sich geräuschlos zwischen den Athener Cafétischen hindurch schieben und, manchmal minutenlang unbemerkt, wie mahnende Gespenster hinter den Besuchern stehen, kreieren ein unterschwellig bedrohliches Wabern. Die zähflüssige Luft, die in den Hochsommernächten im labyrinthischen Zentrum Athens zwischen „gallegelben Laternen“ steht, die Hunde, die „wie zusammengebrochen auf dem Gehweg“ liegen – mit wenigen Sätzen erschafft Cusk eine derart dichte Atmosphäre, dass die Handlungsarmut kaum noch eine Rolle spielt.
Die eigentliche Action spielt sich freilich innerhalb des Kolportierten ab. Oft sind es bizarr-surreal anmutenden Szenen, bei denen man ausrufen möchte: Das ist so absurd, das kann man sich gar nicht ausdenken! Wie zum Beispiel die Story um einen Hund, der die Familienharmonie zerrüttet wie eine schleichende Krankheit, oder ein paar Katzen mit einer ausgeprägten Abneigung gegen Habermas, die eine halbe Bibliothek in einen „Schneesturm aus Papier“ verwandeln.
Tatsächlich erweist sich Cusk als eine Meisterin des „Zusammenfassens“ – Figuren und Lebenssituationen, von denen wir nur wenige Absätze lang lesen, erscheinen uns auf beinahe unheimliche Weise so plastisch, lebendig und glaubwürdig, dass wir meinen, sie schon ewig zu kennen, alle übrigen Details ihres Daseins aus eben jenen Skizzen ableiten zu können. Doch so humorvoll-leichtfüßig „Outline“ bisweilen auch daherkommt, so verstörend ist das Ungesagte, das sich zwischen den Zeilen herumdrückt. Denn letztendlich könnten all diese Geschichten, so flüssig und plausibel sie auch erzählt werden, ebenso rasch in sich zusammenfallen, um eine ganz andere Wahrheit, oder auch einfach nur eine schreckliche Leere zu enthüllen. Im Zentrum dieses Horror Vacui steht natürlich das Geheimnis um die Erzählerin selbst. Einiges deutet darauf hin, dass sie sich ihrem Trauma zuhörend statt sprechend zu nähern versucht, „als wäre das Leben der anderen ein Kommentar zu meinem eigenen“.
Doch das Einreißen der Trennwände zwischen Innen und Außen, selbst Erlebtem und Kolportiertem birgt auch Gefahren. So spricht eine Kursteilnehmerin von ihrer Furcht, im Hintergrundrauschen der Bedürfnisse anderer langsam aber sicher zu verschwinden. Ein typisch weibliches Problem?
Auch Faye scheint nicht mehr in der Lage zu sein, ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse wahrzunehmen, geschweige denn formulieren zu können. Auf die Frage, ob sie etwas für ihren Nachbarn aus dem Flugzeug empfinde, antwortet sie vage und ausweichend: „Ich sei es nicht mehr gewohnt, darüber nachzudenken, ob mir etwas gefalle oder nicht, so dass ich ihre Frage nicht beantworten könne.“
Bei Faye jedoch scheint die Ursache weniger eine übersteigerte Empathiefähigkeit als eine merkwürdige Gedämpftheit der Gefühle zu sein, die sich seit dem Zerbrechen ihrer Ehe wie ein Grauschleier über ihr Leben gelegt hat. Den Schlüssel hierzu liefert wiederum Anne, die nach ihrem eigenen traumatischen Erlebnis feststellen muss, „dass ihr das fehlte, was man ein Vokabular nennen könnte, eine Muttersprache des Selbst“.
Unwillkürlich fragt man sich, ob eine derartige Exaktheit der Beschreibungen anderer Menschen und Umgebungen, wie sie uns die abwesende und fast bis zum Schluss namenlose bleibende Erzählerin Seite um Seite liefert, nur zum Preis des Verlusts der eigenen Innenschau möglich ist.
Allerdings wohnt ihrer Unsichtbarkeit auch eine nicht zu leugnende Stärke innen. Während sich ihre Mitmenschen um Kopf und Kragen reden und dabei unweigerlich an die von ihnen selbst entworfene Vergangenheit ketten – in gewissem Sinne also zu „Zusammenfassungen“ ihrer selbst gerinnen –bleibt Faye frei und offen, ein locker skizzierter, aber noch ungefüllter Umriss.
„Outline“ ist angekündigt als Auftakt einer Trilogie. Mit diesem erstaunlichen, fein komponierten Roman und seinen Folgewerken wird diese originelle literarische Stimme hoffentlich auch hierzulande eine größere Bekanntheit erlangen.
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