Existenzielle Kleinigkeiten
Der zweite Gedichtband des 1983 geborenen Berliner Lyrikers Tobias Herold kommt äußerlich in ansprechender Form daher: Leicht in der Hand liegend und wunderbar gestaltet, macht bereits die Covergrafik ein Prinzip der Texte sichtbar: Die vertikalen Farbabstraktionen zwischen Hellblau und Erdbraun entpuppen sich beim genaueren Hinsehen als Landschaftsfoto eines menschenleeren Ackers: Grundstrukturen von Wirklichkeit, durch eine freundliche Betrachtungsweise zum Leuchten gebracht.
Auch die Gedichte kommen gut strukturiert daher: Sieben Kapitel mit kaum sechzig Texten birgt der Band; knappe Stücke, von denen die meisten höchstens eine halbe Seite einnehmen. Doch die Lektüre zeigt sehr bald, dass sie es in sich haben: Herold liefert uns Denkstücke, die weniger mit Formen und Silben, als vielmehr mit Ideen und existenziellen Fragen spielen. „Ausfahrt“ nennt der Dichter seinen Band, und in der Tat geht es in vielen Texten um geistige Expeditionen heraus aus dem heimischen „Häusermeer“ an die Grenzen alltäglicher Wirklichkeit. Das gelingt besonders gut im ersten Kapitel, indem Herold zu den griechischen Motiven deutscher Lyrik reist, auch wenn sein überzeugendes Leitmotiv, ein marmorner Torso, von Gedicht zu Gedicht zu ganz anderen (lakonischeren) Betrachtungen und Erkenntnissen als dem berühmten „Du musst dein Leben ändern“ einer früheren, klassisch gewordenen Torsobetrachtung führt. Die Namen griechischer Orte funktionieren hier als Chiffren kultureller Bezüge, die weit über den gegenwärtigen Augenblick hinausweisen.
Weniger überzeugend funktioniert das gleiche Prinzip im dritten Kapitel, wo japanische Ortsnamen eher zur exotischen Zierde geraten, ein geographisches name dropping ohne größeren lyrischen Mehrwert. Wenn dann im vierten Kapitel der Dichter, angeregt durch ein zweifellos originelles Textfundstück aus einem ICE gar in Blankversen ironisch gereimte Zwiesprache mit Gott hält, und zwar über ganze neun Gedichte hin, wird klar, das hier kein beherzter Lektor erwähnt hat, dass es diese Art Texte schon des Öfteren in der zweitausendjährigen Geschichte europäischer Poesie gegeben hat und eine Wiederaufnahme derselben Idee zumindest einen gewissen geistigen oder sprachlichen Zugewinn als Rechtfertigung parat halten sollte (als welche auch eine gewisse roll-over-Rilke-Attitüde leider kaum für mehr als für einen Text hinreicht).
Umso erfreulicher, dass im sechsten und siebten Kapitel dann wieder eine Reihe luzider Gedichtpassagen erscheinen, in denen Herold seinen eigenen Stil gänzlich entfaltet und mit knappen Augenblicksbetrachtungen scheinbar beiläufig Türen existenzieller Wahrnehmung aufstößt:
Rauscht im Wind
ein Baum bis ins
letzte einzelne Blatt
wie ein Radio
zwischen den Sendern.
Oder an anderer Stelle:
…
Wirklichkeit als Leck, zu
dem ein Bug fehlt, in dem
es klaffte …
Dieses Verfahren genauer zu erkunden, sei dem Leser an dieser Stelle empfohlen, denn es macht Herolds Gedichtband besonders und lesenswert. Etliche der durchgehend titellosen Texte laden in ihrer intelligenten Komprimiertheit zur philosophischen Meditation ein; andere sind eher impressionistische Notate, einige erheben sich nur wenig über das Level lyrischer Kalauer und küchenphilosopischer Binsenweisheiten. Das könnte als jugendliche Leichtigkeit, als sympathische Unbekümmertheit durchgehen, wäre da nicht immer wieder dieser existenzielle Ton der großen Substantive, der die Disparität der im Band versammelten Texte offenlegt. Dass das angefügte Nachwort mit ausführlichen Betrachtungen eines gewissen Johannes Pilz anlässlich von Herolds Gedichten zu allerlei klugen, bisweilen auch hochfahrenden Gedankengängen ausschwärmt und die literarische Verortung ohne großen Anlauf gar mit Namen wie Celan und Goethe verknüpft, wollen wir nicht dem Dichter selbst anrechnen. Herolds Texte faszinieren und überzeugen gerade da, wo sie auf jede Bedeutungshuberei verzichten.
Nicht selten findet sich der Leser am Ende eines interessanten, sprachlich flirrenden Gedankenganges übrigens (bildlich gesprochen) unvermittelt auf einem weiten, menschenleeren Acker wieder – ein bewusstes Enden im offenen Nichts, im Ungewissen. Eine angenehm uneitle Position des Dichters, die den Leser trotz aller Geschlossenheit und Kürze der Texte unruhig zurücklässt. Diese Gedichte beobachten menschliches Leben, sie befragen es mit intensivem Blick, aber sie geben keine Antwort.
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