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Kritik

Vom Denkwandeln und Foucaults Haifischlächeln.

Ulrich Raulff erinnert sich an die Lese- und Theoriezeiten der Siebziger
Hamburg

Odo Marquard „der Wilhelm Busch der Nachkriegsphilosophie“? Ja, manchmal kann Ulrich Raulff, der Direktor des Deutschen Literaturarchivs, wohl des renommiertesten Archivs Deutschlands, auch launig sein. So auch, wenn er über Roland Barthes meint, der habe „die 'Theorie der Mode' geschrieben, auf die Dior, Chanel und Saint Laurent vermutlich lange gewartet hatten, um zu begreifen, was sie eigentlich taten.“

Aber meist bleibt er doch ernst und sachlich, wenn er sein „Wiedersehen mit den Siebzigern“ beschreibt. Es ist eine persönlich gefärbte Zeitreise, und man muss aufpassen, sich beim Untertitel nicht zu verlesen: „Die wilden Jahre des Lesens“. Nicht: „des Lebens“. Das Leben kommt weniger vor – dabei waren gerade die Siebziger für viele aus Raulffs Generation die Jahre des freien Sex: noch kein Aids, aber schon die Pille … Sex spielt in Raulffs Buch eine andere Rolle: Wenn er darüber nachdenkt, wie er den Begriff „le sexe“ aus dem Französischen übersetzen soll. Auch die Politik kommt in seinen Erinnerungen nur sehr selten vor, gerade dass er die Begriffe „Deutscher Herbst“ und „Tunix“-Kongress fallen lässt und einige Male eine Frau traf, die er später auf den Fahndungsfotos wiedersah. Er erwähnt am Rande die studentischen Splittergruppen und den Einfluss des Marxismus auf die Studenten und (sogar) Professoren.

Die Siebziger waren auch für Leser eine aufregende Zeit, in der sich vieles veränderte. Für Raulff, Jahrgang 1950, begann das Lesen sehr früh. Als Kind lernte er es wie viele andere auch, indem er ein Buch, das er auswendig konnte, so lange anschaute, bis die schwarzen Zeichen plötzlich einen Sinn ergaben, und er sie auch auf anderes übertragen konnte, nicht nur auf Bücher, sondern auch auf „Gebrauchsanweisungen, Waschmittelcartons und die kostbaren Päckchen der Orientzigaretten“. Später entdeckte er eine Kiste mit Büchern, an denen er scheiterte – bis heute weiß er nicht, in welcher Schrift diese Bücher geschrieben waren.

Nach Abitur und Bundeswehrzeit studierte Raulff in Marburg, ging später nach Paris, Frankfurt, Berlin, London und München. Er traf viele berühmte Männer (interessanterweise erzählt er von keiner Lehrerin, die ihn irgendwie beeindruckt hätte), die ihn beeinflussten, am meisten die neuen französischen Philosophen wie Roland Barthes oder Michel Foucault, der ihnen für ein Stipendium bescheinigte, er sei ihr Betreuer – und diese Bescheinigung öffnete ihm und seinem Freund alle Türen des intellektuellen Paris.

In lebendigen Worten gelingt es Raulff, die Theorien vorzustellen und auch seine Lehrer zu charakterisieren, Foucaults „Haifischlächeln“ und sein Blick, der gebannt auf einer geschälten Orange ruhte, die Raulffs Freund Lothar in der Hand hielt, „und auf den langen Wimpern des schönen Jungen, der die Orange, ohne es selbst zu bemerken, wie eine kostbare Gabe, aus einem Märchenland, auf der flachen Hand balancierte“. Oder Klaus Heinrich, der „nach griechischer Sitte streng peripatetisch“ lehrte: „Er denkwandelte“. Oder Jacob Taubes, ein „Meister der Phrasierung. Wie er nachlässig einsetzte und seine Themen anspielte, wie er Läufe anlegte, Pausen, Brüche und Wiederholungen, das war Jazz.“ Seine Sätze, „mochte sich über endlose Minuten hinweg entwickeln, am Ende erreichten sie doch, über enorme Ketten von Nebensätzen, Einschüben, Schikanen und Verzweiflung, unfehlbar den Zielpunkt des passenden Verbs.“

In solchen Augenblicken erweist sich Raulff als glänzender Stilist, während manch andere seiner Formulierungen an schlechtem Journalismus kranken wie das unsägliche „wir schreiben das Jahr“ Soundso oder der „Quantensprung“. Aber er entschädigt mit vielen poetisch und elegisch geschriebenen Passagen, mit den schönen Metaphern des Schlüssels und der Schwelle und theoretischen Streifzügen und Quereinschüben, die einem diese intellektuelle Zeit vom Marxismus zum Strukturalismus und Poststrukturalismus, der Kritischen Theorie und dem Anfang der Postmoderne noch einmal sehr greifbar vorstellt. Die verschiedenen damaligen Ansätze aufzeigt, die 68-er-Zeit weiterzuführen, sei es im „Freibeuter“ von Klaus Wagenbach oder Raulffs „Tumult“, sei es durch die neuen Bildwissenschaften, die sich verändernde oder sich beendende „Suhrkamp-Kultur“ oder den Merve-Verlag, der Derrida und alle anderen fleißig übersetzte und damit eine neue Theorie in Deutschland einführte.

Schön ist an diesem oft sehr sinnlichen Buch auch, dass Raulff durch die Zeiten und Themen mäandert, statt chronologisch zu bleiben. Dass er kurze Ausblicke in die folgenden Jahrzehnte gibt, dass er auch selbstkritisch genug ist und mit einer leichten, kaum spürbaren Selbstironie manche Ausschnitte seines intellektuellen Lebens überdenkt.

Ulrich Raulff
Wiedersehen mit den Siebzigern
Die wilden Jahre des Lesens
Klett - Cotta
2014 · 170 Seiten · 17,95 Euro
ISBN:
978-3-608-94893-6

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