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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

In Wahrheit ist es ein Entpellen

Ulrike Draesners Texte präsentieren sich manchem Leser fast wie ein undurchdringliches Rauschen kryptischer Zellverbände aus Sprache. „Nicht leicht zugänglich“ wird da abgewunken, als ob der Text nicht offen daläge. Das Ganze hat zu tun mit einer speziellen Art der Bewegung durch den Raum der Weltbegegnung, die Formen aufgreift und deren Zusammenhänge anlöst. Dort gibt es Erfahrungen, wo der Kern unsrer Ichs ganz jenseits jeder Verhaftung und ohne eine Festlegung neue und aufgeweitete Gebiete durchschweben kann.
Ulrike Draesners Gedichte erzählen uns von diesen Begegnungen, als könnte man das Verstreichen der Zeit heruntertakten und dort das Faktische so einsammeln, daß es nicht mehr nur an unsere Erwartungen gebunden ist, sondern eigene Beziehungsformeln stärker zum Ausdruck bringen kann. Wie unvollkommen das Mittel der Sprache dabei ist und wie intensiv man hineinhören muß in das Weltgeschehen, um einigermaßen Wirklichkeit darzustellen – Ulrike Draesner weiß das und nimmt diese Herausforderung an. Dichtung schreiben ist ja nicht ein Herauspellen des eigenen Ichs und all seiner Statthalter, wie es die Alltagssprache im Sinne des Protzens versteht, sondern sehr genau ein wirkliches Entpellen, Schicht um Schicht runter mit den alten Antworten, die man wie Kleider um sich herum trägt.

Der Bemantelte kann natürlich keine Berührung mit solcher Nacktheit herstellen. Wer also seinen eigenen Umriss festgezurrt hat mit kleidsamen Schalen, kriegt in seinem Kokon nichts mit von dem, was vor ihm liegend geschieht. Wer allerdings je sich selbst bis an den Grund seiner eigenen Sprache verfolgt hat (und das will heißen: die Entstehung des Ichs als eine dynamische Frage-Antwort, als einen Satz der Zwiesprache und nicht der Vereinzelung erlebt hat), kann mit Ulrike Draesner die Orte berühren, von denen sie in ihrem Gedichtband schreibt.
Die Sprache entsteht in der Unmittelbarkeit, dazu muß das Reizensemble Welt für den Moment strukturiert erfahrbar sein, sonst stehen wir sprachlos in der Verwirrung. Aufmerksamkeit, Bewusstwerdung sind keine Begriffe, die man der Esoterik überlassen kann. Sie gehören heute in die moderne Lyrik, weil nur sie das Zerfransen in der Larmoyanz und dem damit verbundenen Abrufen des überwältigten Ichs, des verschlagenen und unkenntlich unter Ballast verborgenen Ichs verhindern können. Aufmerksamkeit und Bewusstwerdung sind Begriffe, die den Gedichten von Ulrike Draesner zugrunde liegen. Ihr Material ist die Begegnung vor Ort, im Ort, wo es auch Tierbeobachtungen („sniper“) gibt und die Versenkung in literarisch Überliefertes („essay“). Dazu kommen das Spiel und die Berührung, dazu kommt auch Zärtlichkeit, Scheu oder Scham, Mut und Kühnheit. Alles an seinem Platz.

echo: ellende
     (unterwegs)

helena – anderweitig versandt. ein reiten
durch wald. immerhin das vertraute körperliche
dabei, als pferd. im wald reitet das fremde zu nah
eilt: ellende, das, unpferd, als drache herbei, kommt
es (mit langem e, mit kurzem) daher: bellende hunde
die wenn zu hören in der steppe, dem urbild
dessen „was als schön“ gilt, wolfshungrig
schön dieses aufbrausende
hineilgefühl auslösen: haus

heimgefühl haus. hausen. herein. hinaus. „weil“
sagt der wald wenn er das haus erreicht „ich dir
grün“. sagt „sei helle – allein – was löcher hat
bleibt.“

Ulrike Draesner bereist Marokko, manövriert sich durch Damaskus, erlebt mit Brecht sein dänisches Exil, schildert das beispiellose Indien. Das Unterwegssein spiegelt sich in der Sprache, Erlebnisberichte daraus, neue Routen, überraschende Winkel, Gräben, Risse, Ebenen; Sprachlandschaften entwickeln sich aus den topographischen Verwerfungen des Gedichtgeschehens. Unterwegs - das ist nicht stählern gefügt, sondern wie es sich findet, ganz und gar nicht „unverständlich“ – es ist sehr lebendig, dicht geschildert, findungsreich, bunt wie die Welt. Das orientalische Bad im Hammam, Unfug treibende Kinder, die einen Hund im Meer ersäufen, der Gerber an seinen gekalkten Trögen voll Schwefel – schon im ersten, im marokkanischen Kapitel bleibt kein Zweifel: auch das sind „gelebte Gedichte“. Wer hier rein sprachliche Sensationen finden will und nur nach geiler Form schielt (beides findet man auch: wunderbar neuartige Texte!), verpennt, was der tatsächliche Grund für alle wirkliche Literatur und auch für die Gedichte in diesem Buch ist: das Leben.  

Ulrike Draesner
berührte orte
Luchterhand
2008 · 128 Seiten · 16,00 Euro
ISBN:
978-3-630872681

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