Die Liebe in den Zeiten der modernen Astrophysik
Es könnte eine Geschichte sein wie tausend andere: Eine nicht mehr ganz junge, von beruflichem Ehrgeiz angetriebene Frau, die sich längst in der mittelmäßigen Beziehung zu ihrem Lebenspartner eingerichtet hat, trifft – wie der Zufall es will – auf ihre unerfüllte Jugendliebe, und das Gefüge ihres bisherigen Lebens gerät ins Wanken.
Dass ein auf den ersten Blick so konventioneller Stoff unter der Feder einer klugen Autorin wie Ulrike Draesner kaum zum Kitsch verkommen kann, dürfen wir getrost voraussetzen. Gleichwohl ist dieses erzählerische Unternehmen, das in seiner subtilen Figurenkonstellation offenkundig anknüpft an Goethes „Wahlverwandtschaften“ (und darüber hinaus eine Fülle weiterer literarischer Bezugnahmen aufweist), ein ästhetisches Wagnis: Wenn dieses Wagnis auf der ganzen Linie gelingt, so verdankt sich dies vor allem der Art und Weise, wie Ulrike Draesner mit diesem Stoff umgeht und wie sie ihn auf eindrucksvolle Weise fruchtbar macht für unsere Zeit.
Harriet, die Protagonistin in Ulrike Draesners Roman „Vorliebe“, ist Astrophysikerin und zu Hause im Reich der Zahlen. Sie hat sich eingerichtet in der Welt der Wissenschaften, und für ihren Traum, ins Weltall fliegen zu dürfen, nimmt sie einiges an Strapazen in Kauf. Als ihr Partner Ashley eines Tages an einer Straßenecke Maria, die Frau ihrer unerfüllten Jugendliebe, mit seinem Auto anfährt, gerät ihr Leben durcheinander: Unversehens steht sie plötzlich im Krankenhaus dem einst angehimmelten, inzwischen aber fast vergessenen Peter – einem evangelischen Pfarrer – gegenüber, und fortan ist nichts mehr, wie es vorher war.
Dass die Wiederbegegnung zwischen Harriet und Peter ausgerechnet auf einem Krankenhausflur stattfindet, ist – wie so vieles andere in diesem großen Roman – ein feiner Kunstgriff, erscheint doch die Liebe in Zeiten der modernen Astrophysik, wie die weitere Handlung vorführt, als in einen Raum des Pathologischen verdrängt. Als Ashley später die Sache mit Peter mehr und mehr mitbekommt, wird er sagen, Harriet habe „ein Loslassproblem“. Dann, so gibt die Protagonistin daraufhin zu bedenken, „hätten aber alle Elemente ein Loslassproblem! Die gesamte Materie war ein einziges Loslassproblem, wenn man sie nur recht betrachtete.“ Doch auch, wenn die wahlverwandten Harriet und Peter fortan gedanklich kaum mehr voneinander lassen können, ist ihrer Liebe letztlich keine Erfüllung beschieden. Zwei Tage und Nächte in Brüssel bleiben den beiden vor dem unweigerlich traurigen Ende.
Die Geschichte, die sich vor diesem Ende entfaltet, verschachtelt kunstvoll Stand und Entwicklung der Beziehungen der vier Protagonisten mit Reminiszenzen an die erste Begegnung zwischen Harriet und Peter und mit Reflexionen über die berufliche Wirklichkeit der Astrophysikerin. Dass letztere von Peter mit dem Namen „Harriet“, von Ashley aber mit „Jet“ angesprochen wird, ist mehr als eine symbolträchtige Spielerei, es verweist vielmehr auf die unterschiedlichen Identitäten zwischen Beruf, Familie, Partner- und Liebschaft, denen die zeitgenössischen Individuen dieser Gesellschaft viel mehr und viel unausweichlicher ausgeliefert zu sein scheinen als noch zur Zeit der Romantik, aus der das Novalis-Motto des Romans stammt: „Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft“. Und weil dem so sind, sind auch die Welt der Astrophysik (wie sie Harriet zu verkörpern scheint) und die der Religion (die Peter, wenn auch gebrochen, repräsentiert) nur scheinbar Gegensätze: „Wir erzählen euch die Geschichten vom Anfang der Welt“, so umschreibt Harriet einmal ihre berufliche Tätigkeit gegenüber dem Geliebten.
Mit den Mitteln einer außerordentlich zeitgemäßen Sprache erzählt der Roman eindrucksvoll vom Archaischen der Liebe. Dabei haben die Schauplätze und die Realien, die Ulrike Draesner mit Bedacht und Umsicht gewählt hat, einen hohen Wiedererkennungswert. Es gibt eine Fülle von Anspielungen, nicht nur aus dem Bereich der Literatur, der Kunst, der Philosophie und der Naturwissenschaften, sondern ebenso aus den Sphären von Alltags- und Populärkultur. Die Souveränität, mit der Ulrike Draesner diese unterschiedlichen, disparaten Wirklichkeitsmomente zu einem erzählerischen Ganzen verdichtet, macht den Roman zu einem reinen Lesevergnügen. Dazu trägt in besonderer Weise Ulrike Draesners poetische Sprache bei, die in ihrer feinsinnigen Differenziertheit in Ton, Rhythmus, Wortwahl, Satzbau und Duktus jederzeit auch an die herausragende Lyrikerin denken lässt.
Seine höchste Qualität hat der Roman jedoch dadurch, dass er auf bemerkenswerte und gleichwohl unaufdringliche Weise ein Bild unserer Zeit liefert. Eindringlich zeichnet Ulrike Draesner in diesem Roman die Lebensbedingungen in einer Welt, die vom Primat der Rationalität und des naturwissenschaftlichen Denkens, und mehr noch von Leistungsorientierung und Rankings bestimmt ist. Harriets beiläufige Bemerkung, die Astrophysiker seien „die Romanciers unter den Naturwissenschaftlern“, weist dieses Primat mit den Mitteln der Poesie subtil in seine Schranken. Selten ist in der jüngeren Vergangenheit die Kunst und die Kraft des Erzählens poetisch so eindrucksvoll ins Recht gesetzt worden wie mit diesem Roman.
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