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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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Kritik

Cary Grant in Jugoslawien?

Das italienische Autorenkollektiv Wu Ming entwirft verrückte und aufregende Romanwelten – „54“ ist nun auf Deutsch erschienen
Hamburg

Die Linke hat im 20. Jahrhundert eine lange Liste von Niederlagen zu bewältigen, auch im unruhigen Italien, das wohl eines der aufsässigsten Länder der Nachkriegszeit ist. Nach den Revolutionen um 1917/18 folgte die faschistische Machtergreifung oder der stalinistische kalte Putsch. Der neue Aufbruch nach dem Krieg endete in der Restauration, die 68er begannen ihren Marsch durch die Institutionen und bis in die Ökoläden der achtziger Jahre, das Jahr 1989 wurde als Ende der Geschichte gefeiert, der Zusammenprall der Zivilisationen endete aber im Terror islamistischer Fundamentalisten und die neuen sozialen Bewegungen verebben eine nach der anderen.

In einem solchen Umfeld ist eine mehr oder wenige linke Identität schwierig geworden, sind politische Entwürfe, in denen Alternativen zum untrennbaren Junktim von liberalen Gesellschaften und kapitalistischem System entworfen werden, sehr vage und vor allem wenig erfolgsträchtig. Solange der Kapitalismus seine Leute besser nährt als ein sozialistisches Modell, wird der Sozialismus es eben schwer haben.

Und dennoch: Das Gefühl darum, dass es noch ein Jenseits der Konsumgesellschaft, dass es nicht nur um einen menschlichen Kapitalismus, sondern um eine menschliche Gesellschaft geht, verschwindet nicht völlig. Das hat viel naheliegend mit dem Widerwillen von jungen Leuten zu tun, sich einfach vereinnahmen zu lassen, aber nichts mit jenem bohemienhaften Pseudoradikalismus gemein, der seine parasitäre Existenz als Systemverweigerung verkauft. Oblomov? Das Recht auf Faulheit?

Unter solchen Bedingungen erhält die Fiktion eine sehr eigene, besondere Bedeutung. Sie ist keine Flucht mehr, sondern die Gattung, die es erlaubt, mögliche Varianten von Realität zu entwickeln, in denen das humane Potential nicht völlig verschüttet ist.

So jedenfalls der Ansatz eines italienischen Autorenkollektivs, das seit einigen Jahren erfolgreich in Italien wirkt und nun auch, nach einem misslungenen Versuch, dieses Mal betreut durch die Assoziation A in Deutschland seinen Ort sucht. Der Verlag will nach „54“, der in der Geschichte des Kollektivs weit vorne steht und bereits 2002 in Italien erschienen ist, noch weitere Arbeiten Wu Mings nach Deutschland bringen. Darauf ist zu hoffen.

Fürs erste ist Wu Ming allerdings im Krimiregal gelandet, geriet der Band doch sogar auf eine der letzten Krimibestenliste der „Zeit“. Nicht ganz zu Unrecht, hat er doch eine Menge aus vielen Genres, und darunter eben auch dem Krimi: Amerikanische Mobster wie Lucky Luciano spielen eine prominente Rolle, wie überhaupt der frühe Drogenhandel, samt Schießereien und Mord in „54“ stark präsent ist.

Zugleich spielt der Roman in die politische Geschichte des beginnenden Kalten Kriegs hinein, mit Seitenverweisen zur Entwicklung der Medienkultur den 1950er Jahren. Dabei schrecken die Autoren auch vor absurden, verrückten, wenngleich nicht völlig unmöglichen Handlungssträngen zurück.

Der Plot ist in den 1950er Jahren in einigen italienischen Städten, vor allem Triest und Bologna angesiedelt. Außerdem gibt einen Handlungsstrang um Lucky Luciana und dessen Handlanger Steve Cemento – nomen est omen. Genaueres will man gar nicht wissen.

Ein junger Italiener namens Robbespierre, der mit seinem Bruder eine Bar in Bologna betreibt, sucht seinen Vater, der ins revolutionäre Jugoslawien ausgewandert, zum einen weil er sich als radikaler Kommunist in Italien der Verfolgung ausgesetzt gesehen hat, zum anderen weil er in Jugoslawien die Chance gesehen hatte, eine sozialistisches System aufzubauen, das seinen Idealen einer gerechten Gesellschaft entspracht.

Dieser Wunsch ist nun mittlerweile eben enttäuscht worden wie die Hoffnung, dass ein postfaschistisches Italien sich zu einer völlig anderen Gesellschaft entwickeln würde. Stattdessen muss sich der Vater in den Bergen verstecken und der Sohn, der immerhin einen revolutionären Namen trägt, muss sich seinen eigenen Weg suchen.

Dass der nicht ganz einfach ist, versteht sich von selbst. Der Bruder ist ein harter Parteikommunist, seine Geliebte ist mit einem Funktionär verheiratet, und der Wunsch, völlig neu anzufangen, scheitert von vorneherein an dem, an dem alles scheitert, am mangelnden Geld.

Das aber ist durch die Krimihandlung in ausreichendem Maße zu beschaffen – was freilich nachgelesen sein soll, denn Wu Ming muss dafür einen weiten Umweg gehen, mit dem die 500 Seiten der Romans sehr unterhaltsam gefüllt werden.

Von besonderem Amüsement ist nun aber jene Handlungslinie, in der Cary Grant selbst vom englischen Geheimdienst dazu überredet wird, mit Marschall Tito ein Gespräch über ein Filmprojekt zu führen, mit dem die Annäherung zwischen westlichem Block und dem abtrünnigen jugoslawischen Sozialismus vorangetrieben werden soll.

Davon erfährt naheliegend der sowjetische Geheimdienst, was zu lustigen Interventionen führt: Grant soll entführt werden, was beinahe gelingt, kämen den Spionen nicht ein abtrünniger italienischer Kommunist und sein Sohn in die Quere. Auf diese Weise begegnen sich im Roman dann sogar Cary Grant und der junge Robbespierre, und der Urtext aller Spionagefilme, Ian Flemings „Casino Royale“ wechselt von Grant zu Robbespierre. Das Leben ist merkwürdig, und das fiktionale sowieso.

Das Auffallende an Wu Mings Roman ist nun, dass er auf der Höhe der neueren Erzählformen ist, in denen sich avantgardistische Montagetechniken mit realistisch anmutenden Erzähllinien verbinden. Das hat im TV-Serienformat seine mittlerweile erfolgreichste Ausformulierung gefunden, aber auch die Literatur hat sich dem anverwandelt. Hier werden nun zahlreiche Erzähllinien, die in sich selbst konventionell erscheinen und nur hin und wieder ein paar Handlungssprünge aufweisen, in Stücke zerschlagen und miteinander kombiniert. Aufgabe von Lesern ist es nun, das alles zusammenzufassen, was immerhin einigen Aufwand macht, aber andererseits für großes Vergnügen sorgen kann. Die Serienformate bestätigen das.

Damit grenzt sich Wu Ming nicht ab vom Gros der im Betrieb etablierten Formate, sondern – ganz im Gegenteil – dockt daran an, was zu begrüßen ist. Niemand hat Erfolg, wenn politische Avantgarde zu solipsistischen Formen greift. Das aber ist eine Lehre, die zu ziehen ist, und die auch nur Autoren ziehen dürfen. Also kein neuer sozialistischer Realismus, sondern ein höchste aufregendes Stück Literatur.

Wu Ming
54
Aus dem Italienischen von Klaus-Peter Arnold
Assoziation A
2015 · 528 Seiten · 24,80 Euro
ISBN:
978-3-86241-441-3

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