Kurze Geschichte der Globalisierung
Schon in ihrem letzten Roman „NW“ zeigt sich Zadie Smith als Chronistin des Londoner Viertels Willesden, in dem sie selbst 1975 geboren wurde. Auch Fatou, die Protagonistin der Erzählung lebt hier, deren Biografie gleich bei ihrem ersten Auftritt angedeutet wird. Wir treffen sie zu Beginn in einem Wellnesscenter an, das sie verbotenerweise mit einer Gastkarte ihrer Arbeitgeber besucht. Fatou kann schwimmen. In schwarzer Unterwäsche – einen Badeanzug kann sie sich nicht leisten – zieht sie flott ihre Bahnen, was für eine Afrikanerin ihrer Herkunft nicht selbstverständlich ist. Und die Beschreibung, wie Fatou vor etlichen Jahren im Carib Beach Resort schwimmen gelernt hat, ist ein erstes Beispiel dafür, dass es der Autorin gelingt, mit wenigen Worten viel zu erzählen.
Natürlich nicht im Hotelpool –Angestellte durften nicht in den Pool. Nein, sie hat es gelernt, indem sie sich durch das raue graue Meer gekämpft hat, jenseits der Mauern rund um das Resort. Auf und ab in der verschmutzten Gischt. Kein Tourist setzte je einen Fuß an den Strand (der voller Müll lag), geschweige denn in das kalte heimtückische Meer.
Das Wellnesscenter liegt gegenüber der Kambodschanischen Botschaft. Ihre hohe Mauer verstellt Fatou den Blick in den Garten, aber jedes Mal im Vorbeigehen sieht sie hoch in der Luft einen Federball. Mal hoch in einem sanften Bogen, mal fest geschmettert, aber immer gelingt es den geheimnisvollen Spielern ihn zu erwischen. Und so wie die Spieler sich bemühen, nicht aus dem Takt zu geraten, so muss Fatou täglich darum kämpfen, nicht unterzugehen. Bei einer Lektüre über eine Sklavin vergleicht sie ihre Situation mit dieser Frau. Nein, sie war nicht entführt worden, sondern mit ihrem Vater „freiwillig“ von der Elfenbeinküste nach Ghana, nach Libyen, nach Italien und schließlich nach London gereist. Einmal wurde sie dabei vergewaltigt. Sie kann lesen, bekommt auch Ohrfeigen, wird aber nicht verprügelt. Auch wenn die Familie einschließlich der Kinder sie ohne jeden Respekt behandelt und man ihr den Pass abgenommen hat, so ist sie doch nicht eingesperrt wie diese Sklavin und darf sich in ihrer spärlichen Freizeit frei bewegen. Nein, so folgert Fatou, eine Sklavin sei sie nicht. Aber indem Zadie Smith sie überhaupt diese Vergleiche anführen lässt, zeigt sie ihrer Figur und gleichzeitig dem Leser, dass Fatous Status eher dem einer modernen Sklavin als einem gleichberechtigten Mitglied unserer Gesellschaft gleicht. An Fatous Freund, dem frommen Nigerianer Andrew Okonkwo, einen Wirtschaftsstudenten, der als Nachtwächter arbeitet, wird deutlich, dass noch mehr Gestrandete in London ihr Glück suchen. Fatou also, verrichtet ihre Arbeit bei Familie Derawal, geht schwimmen, trifft sich mit ihrem Freund, sieht den Federballspielern zu. Viel mehr passiert nicht auf den 64 Seiten des deutschen Teils. Aber der Autorin gelingt es dabei, viele Ereignisse der letzten Jahrzehnte anzusprechen und somit das Schicksal ihrer Heldin in einen großen Zusammenhang zu stellen. Bei einem Gespräch zwischen Fatou und Andrew über den Holocaust sagt sie:
»Aber in Ruanda sind viel mehr Menschen umgekommen«, argumentierte Fatou. »Und davon spricht keiner! Keiner!« »Ja, ich glaube, das stimmt«, bestätigte Andrew und versenkte den ersten von vier Würfelzuckern in seinem Kaffee. »Ich muss noch einmal nachsehen. Aber ja, viele, viele Millionen. Die wahren Zahlen werden geheim gehalten, aber online findet man sie. Immer wird so viel geheim gehalten – es ist jedes Mal das Gleiche...«
Erzählt wird das Ganze von einer Erzählerin/ einem Erzähler, so ganz deutlich wird das nicht, lediglich ein Verweis, dass die Person mit einem Bademantel auf einem Balkon steht, lässt eher an eine Frau denken. Aber das ist auch gleichgültig, weil die Erzählstimme von Beginn an in ein Wir übergeht, das wie ein antiker Chor, die Handlung begleitet und kommentiert.
Als die Botschaft von Kambodscha vor ein paar Jahren erstmals in unserer Mitte erschien, da sagten manche von uns: »Tja, wären wir Dichter, dann würden wir vielleicht eine Ode auf das überraschende Erscheinen der Botschaft verfassen.« …Aber wir sind im Grunde kein dichterisches Volk. Wir sind aus Willesden. Wir neigen zu prosaischem Denken. Ich wage beispielsweise zu bezweifeln, dass irgendwer unter uns, Mann oder Frau beim ersten Weg vorbei an der Botschaft von Kambodscha nicht gleich »Völkermord« gedacht hat.
Am Ende der Erzählung verliert Fatou ihre Stellung. Die Familie erträgt es nicht, dass ihre Angestellte dem jüngsten Kind das Leben gerettet hat. Aber Fatou hat Glück im Unglück, denn vorerst kann sie bei ihrem Freund (er ist wirklich nur ein Freund und nicht ihr Liebhaber) wohnen, der ihr eine Arbeitsstelle besorgt. So sitzt sie mit ihrem in ein paar Plastiktüten verstauten Besitz im Regen, um auf Andrew zu warten. Beobachtet von den Bewohnern von Willesden:
Natürlich fragten wir uns, was es mit dieser jungen Frau auf sich hatte, die da mitten am helllichten Tag auf dem nassen Bürgersteig hockte. Wir machten uns Sorgen um sie. Hier in Willesden rechnen wir immer mit dem Schlimmsten. Wir beobachten, wie sie den Federball beobachtet. Plong, zack. Plong, zack. Als könnte der eine Spieler sich nur ein gewaltsames Ende vorstellen und der andere nur den hoffnungsvollen Neubeginn.
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