Fluss
(=Rzeka, 1982)
Aus dem Polnischen von Karl Dedecius
Aus Gedichten Gedichte, aus Liedern
Lieder, aus Bildern Bilder,
immer dauert die freundliche
Befruchtung fort. Am anderen Ufer
des Flusses, im Bereich des Seins,
marschieren Soldaten. Die schwarze Armee,
die rote Armee, die grüne Armee,
der eiserne Regenbogen. In der Mitte das glatte
Wasser, die Gleichmutswelle.
HALTUNG, DIE BEI DER STANGE HÄLT.
Leider kann ich nicht Polnisch. Was für ein Segen, wenn es für Gedichte, von denen man sich angezogen fühlt, ohne die Sprache zu können, vertrauenswerte Übersetzer gibt. Danke, Karl Dedecius und allen anderen! Sie lassen das geahnte Verstehen Sprache annehmen und vermitteln die Lesenden gewissermaßen zurück zu sich selbst: ein Gedicht aus einer Fremdsprache bekommen ist Boden unter den Füßen gewinnen.
In dem kurzen Gedicht fasst Zagajewski seine Lebensphilosophie in wenigen Sätzen zusammen: Der „Fluss“ ist eine Grundsatzerklärung über das Bedürfnis nach Gedichten: Warum schreibt, liest, übersetzt man Gedichte, sucht nach Lesestoff und bringt Ideen zusammen, die zu Lebzeiten ihrer Dichter nicht zusammen gefunden haben? Um aus den Lösungen und Erfindungen vor oder neben einem tätiger Künstler, aus Gedichten, Gemälden, Kompositionen andere Zuschüsse zu erfahren; damit im Fluss bleibt, was Menschen irgend nachdenkenswert sein kann.
Was hier über Dichter steht, meint alle willentlich „lesenden“, d.h. suchenden, Künstler mit. Sie stehen untereinander in regem Austausch: Humanisten, die Rat, Trost und Bestätigung bei anderen Menschen suchen, ungeachtet der räumlich-zeitlichen Bedingungen, trotz oder neben der Vergänglichkeit, die allem von Menschen Erlebten anhaftet. Das optimistische Festhalten an dem Band von Zagajewskis „Fluss“, durch das ihnen als zusammengehalten vorschwebt, wonach sie suchen, bestärkt und eint solche Philanthropen. Hinweise auf das, wonach sie unterwegs sind, finden sie in der Musik, der Bildenden und der Filmkunst, ja in der Dichtung. Unterwegs auf den Spuren Geistesverwandter fühlen sie sich bestätigt und fügen dem, was wir Kultur nennen, etwas hinzu.
An der Hand eines im Selbsthilfeverfahren ausfindig gemachten Mentors lesen sie weiter. Weil sie Künstler sind, verstehen sie Zusammenhänge am besten bei schöpferischer Aktivität. Gedichtemachen ist eine konzentriertere Form des Denkens. Künstler, mit den Gedanken anderer im Kopf, setzen die „freundliche Befruchtung“ fort.
Seit der Renaissance ist sich der Europäer eingedenk, dass diese seine Wahrheitssuche neben der Wirklichkeit existiert, darunter der politischen. Ob schwarz, rot oder grün die in seiner Gesellschaft herrschenden Farben sind, darum geht es nicht. Die „freundliche Befruchtung“ ist dem Wesen nach international, überkonfessionell und unparteiisch.
Allerdings ist eine Bedrohung in „Fluss“ spürbar, weil „Soldaten <…> marschieren“. Selbst der „Regenbogen“, ein biblisches Zeichen für Versöhnung und Frieden, besteht hier aus „Eisen“. Seine Farben meinen nicht das geschützte Nebeneinander der Vielfalt im Widerspiegel des Lichts durch die Wassertröpfchen, sondern das Schillern auf blank polierten Waffen. Die Bedrohung geht von einer eisernen Garde aus, die Aufständische niederhält und einen falschen Frieden erhebt.
Im Jahr 1982, als „Rzeka“ festgehalten wurde, durchlebte Zagajewskis Heimatland Polen ein Schicksalsjahr: Die kommunistische Regierung verhängte das Kriegsrecht, um die Proteste der Bürger in Zaum zu halten. Der Dichter, seit Längerem mit Publikationsverbot belegt, hatte einige Monate davor sein Exil angetreten und versuchte West-Berlin und die USA als Zuflucht, um für die nächsten Jahre in Paris zu landen. Zum Zeitpunkt der Gedicht-Abfassung war er ein Unbehauster auf der Landkarte. Umso mehr verankert Zagajewski in „Fluss“ sein Weltbürgertum in der Haltung, die ihn mit Gleichgesinnten eint. Der Stab der Kunst, der durch Weitergeben am Laufen hält, was wir Kultur nennen, wird in diesem Gedicht festgehalten. Und für den Dichter im Exil ist der umklammerte Strohhalm wertvolles Leichtgepäck.
Der „Fluss“ meint das Kontinuum, in dem Werte von Mensch zu Mensch, von Gedicht zu Gedicht, von Bild zu Bild weitergegeben werden. Dieser „Fluss“ ist beständig, ungeachtet von Lebensalter, Geografie, Sprachbarrieren. Er ist nur dort bedroht, wo Soldaten die Grenze zwischen seiner friedlichen, konstruktiven Welt und dem anderen „Reich“ überschreiten – dem faktischen, wirklichen Bereich „des Seins“ –, um den „eisernen Regenbogen“ zu errichten.
1982 schwelte über Polen die Angst, Moskau würde die Ordnung im Land mit einer Militärintervention wiederherstellen. Doch die Grenze zwischen Freiheit und „eisernem Regenbogen“ verläuft nicht wie die zwischen Nationen auf der Landkarte. Sie entspricht der Unterscheidung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, zwischen Fantasie und Faktizität und ist ganz unabhängig von der Lage der Nation.
Bei Zagajewski ist die Farbe der Armee einerlei. Er hält sich – darum die Überschrift – an die der Geschichte übergeordnete Zeit: „In der Mitte das glatte / Wasser“.
Diese Stelle, gebrochen und synkopiert vom Zeilensprung, wo der Doppelkonsonant ein zweites Mal am imaginierten Wasserspiegel aufschlägt und der lange, dunkle Vokal A – im Deutschen – mit seinem Echo beruhigt, bildet den Höhepunkt des Gedichts. Sie ist die rhetorische Conclusio und die Heimat, die der Emigrant sich ausmalt, das Heim, das sich nach allem Gerinne und Gerenne am Ufer einer ruhigeren Wasserstelle errichten lässt. Derselbe Wasserspiegel ist auch das Instrument des Künstlers, der sein Antlitz im Abbild des Himmelszelts lesen möchte, damit er darin erkennt und Erschautes vermittelt. Der Wasserspiegel ist die Alternative zur militärisch kontrollierbaren „Grenze“, die real existierende Reiche zusammenhält. Was den Dichter ausmacht, gehorcht keinem horizontalen, sondern dem zwischen Oben und Unten vermittelnden Gedanken – wie der echte Regenbogen.
Das Tröstliche in „Der Fluss“ geht noch aus einer zweiten Fügung hervor, dem in bewegten Zeiten friedlich wiegenden Schlusswort „die Gleichmutswelle“.
Diese lässt sich mit der „Weisheit“ in Zusammenhang bringen, aus einem anderen Zagejewski-Gedicht, „Die Muschel“. Darin heißt es:
Nicht in der Musik, nicht in schönen Bildern,
nicht in den großen Taten und nicht in der Tapferkeit,
nicht einmal in der Liebe ist Weisheit,
sondern in allen Dingen,
in der Erde und in der Luft, im Schmerz wie im Schweigen.
Zagajewski ist ein gläubiger Dichter, ein Humanist und insofern ein religiöser Mensch, als er an die Ordnung der Welt glaubt, das Bemühen der Menschen, die Welt gut haben zu wollen.
Der „Fluss“, um den es hier geht, ist das Vertrauen in das Wesen des Wassers, dem Verfließen der Zeit entsprechend. Beider „Gleichmutswelle“, eine sanfte Unbeirrbarkeit, erlaubt Zagajewski den Trost durch Gleichgesinnte.
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