Lesart
Julia Weiteder-Varga* 1943

Backlite Film

Die Stadt     hat einen krummen Rücken
der baumlose Weg läuft betäubt
bis zum Marktplatz          zwischen den Häusern
verschwommener Brunnen           biedert sich an
den verwaisten Vögeln           Sprühregen bricht das Licht
Akaziengeruch flechtet sich ins Haar
ungeschickte Straßen stolpern über nichts im Schlaf
Abgetragene Schuhe widersprechen
mit leisem Klopfen der dunklen Gasse

was ich erwarte von diesem Ort           ist Geborgenheit
zwischen den Wänden        das die Straßenschluchten
meine Gedanken widerhallen              das jedes Fenster
mir in die Augen schaut                aber ich erwarte
keine Kopfbahnhöfe              sie soll an dem Tropf der endlosen
Schienen hängen
nur keine Durststrecken             keine verwesten Ecken
            ich erwarte        dass der Fluchtweg
immer offen bleibt
bis zum nächsten verwackelten Bild einer Stadt
wo ich auch wohne

Neue Stadt im Gegenlicht

Das „Zuhause sein im Geborgenen“, der Wechsel der Stadt und damit der Heimat ist das Thema des Gedichtes „Backlite Film“ von Julia Weiteder-Varga, die 1943 in Budapest geboren wurde und 1980 nach Westdeutschland in den Aachener Raum immigrierte. Mit der alten geografischen Heimat verlor die Autorin auch ihre „Sprachheimat“ und musste sich die deutsche Sprache vollständig neu aneignen. Mit dem Wechsel der „Sprache“ gewann sie aber auch ein hohes Maß an Freiheit.

„Die Stadt hat einen krummen Rücken“ bildet einen großartig gewählten Einstieg, in dem die Stadt entweder geologisch gesehen uneben, gewölbt oder im übertragenen Sinne gebeugt ist. Die Stadt kann sich nicht stolz vor ihrem Betrachter aufrichten. Sie bleibt vor seinen Blicken im Verborgenen und duckt sich weg. „Der baumlose Weg läuft betäubt/ bis zum Marktplatz.“ Der Weg verläuft nicht passiv. Er selbst wird in einem animistisch, beseelten Sinne aktiv und „läuft betäubt“ zum Zentrum dieser Stadt, die sich nicht nur versteckt, sondern auch ihre Wege einer bewussten Fortbewegung entzieht. Diese Wege sind betäubt und nicht die Fußgänger, die sie benutzen.

„Zwischen den Häusern“ steht ein „verschwommener Brunnen“, der sich den verwaisten Vögeln anbiedern muss, um wahrgenommen zu werden. Die Vögel werden ihn nicht aus eigenen Stücken als Tränke ansteuern und unter dem im Sprühregen gebrochenen Licht stolpern die ungeschickten Straßen über nichts im Schlaf. Die Wege durch diese Stadt sind nicht nur betäubt, sie sind ungeschickt und nur „im Schlaf“, in der Bewusstlosigkeit können sie nicht stolpern, sich nicht verirren oder verlieren. Nur im Nichts der Betäubung kann die Straße das, sein was sie ist, eine Strecke auf der der Betrachter aktiv agieren kann. Und nur dann kann der Fußgänger dieser betäubten und ungeschickten Straße widersprechen, dann wenn das Klopfen der abgetragenen Schuhe durch die dunkle, weil „schlafende“ Gasse hallt. In einem solchen Ort ist das Gefühl von „Geborgenheit“ nicht möglich. Diese Stadt entzieht sich ihrem Betrachter, weil dieser Ort mit sich selbst beschäftigt ist. Ein in sich geschlossenes, weil betäubtes und unbewusstes „Universum“ wird hier dargelegt, in dem der Fremde entweder keine Aufnahme findet oder vollständig absorbiert und damit selbst Teil dieses Unbewussten Raumes wird.

Was erwartet das lyrische Ich von dieser Stadt? Wie muss diese Stadt beschaffen sein, welche Atmosphäre muss sie ausstrahlen, damit es sich geborgen fühlen kann?
Die Straßenschluchten, sollen sich nicht entziehen, ducken, betäubt sein. Sie sollen die Gedanken desjenigen widerhallen, der durch sie schreitet. Sie sollen diesen Gedanken Akzeptanz entgegenbringen. Die Fenster sollen Kontakt mit ihm aufnehmen „das jedes Fenster/ mir in die Augen schaut“ und ihn weder distanziert noch feindselig beobachten. Diese Stadt soll keine „Kopfbahnhöfe“ besitzen, ein Symbol des endgültigen Ankommens, das keine Durchreise duldet oder den Transit zumindest erschwert.

Die Stadt soll am Tropf der endlosen Schienen hängen, die ständig neue Besucher heranführen. Ihre Wege sollen keine „Durststrecken“ sein, ihre dunklen Winkel nicht schon verwesen, weil sie schon tot sind. „Ich erwarte         dass der Fluchtweg/ immer offen bleibt.“ Der Besucher ist ein Durchreisender, der in die Lage versetzt wird, jederzeit den Ort zu wechseln, der die Freiheit hat, sich an diesem Ort, oder am nächsten niederzulassen. Die „Fenster“ und die Bewohner hinter den Mauern sollen ihm trotzdem unbefangen in die Augen schauen, ihn einladen, sich unter sie zu mischen, in ihre Häuser einzukehren, um dort eine Heimat zu finden. Und auch im Umfeld dieser neuen Heimat, hat er die Freiheit, wieder aufzubrechen, sich an einem neuen Ort anzusiedeln. Vielleicht ist dem lyrischen Ich auch die nächste Stadt nicht ein wirkliches Zuhause, eben ein „verwackeltes Bild“, das in der Bewusstlosigkeit versinkt und ihn in die nächste und wieder nächste Stadt führt. Das und gerade das ist eben die Freiheit nicht wirklich ankommen zu müssen.

Julia Weiteder-Varga hat mit „Backlite Film“ ein Gedicht über das Ankommen, die Heimat, die Fremde und die Immigration geschaffen - ein großes Thema - in dem das Gefühl des Nichtdazugehörens genauso seinen Ausdruck findet wie das des Nichtdazugehören Müssens. Es ist ein Gedicht über die Freiheit des Individuums, über die Selbstbestimmung des einzelnen Menschen, die gerade das 20. Jahrhundert so häufig hat vermissen lassen.

"Backlite Film" erschien in  „Scherbennacht“, Rimbaud-Verlag, Aachen 2004

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