Von und mit Franz Dodel
Es spielt keine Rolle, wie weit ich komme, ich komme ohnehin an kein Ende.
© Beat Schweizer
Ich werde oft gefragt, wie das war, als ich diese Arbeit vor zwölf Jahren, also 2002, begann. Es war ja keineswegs so, dass ich das Ausmaß dieser Arbeit schon vorhergesehen hätte. Heute scheint es mir ein eher unvernünftiger Gedanke zu sein, etwas zu beginnen, was nicht aufhören soll. Leichtfertig habe ich auch den Titel „Nicht bei Trost“ gewählt. Wobei dieser Titel, wie ich jetzt merke, schon viel vom Gesamtkonzept enthalten hat, obwohl ich nicht wusste, ob mich diese Art des Schreibens lang genug interessieren würde, ob mir überhaupt genug Stoff zukomme, etc. Aber der Titel war schon eine Art Programm in dem Sinne, dass er auf der einen Seite das meint, was er landläufig im Gespräch bedeutet, dass man nicht ganz bei Trost, ein bisschen verrückt ist. Und das ist man ja auch, wenn man sich vornimmt, mit einer Arbeit einfach nicht mehr aufzuhören.
Aber es ging mir noch um andere Ebenen des Nicht-bei-Trost-seins. Da ist eine Ebene, die man vielleicht eine philosophisch-religiöse nennen könnte, nämlich dass ich mich zu einer Haltung bekenne, die ich nicht nur in diesem Text einnehmen möchte, sondern die wohl eine Grundhaltung von mir ist: Ich versuche voreilige Trostangebote jeder Art abzulehnen. Seien das jetzt Hilfsangebote philosophischer oder religiöser Art, wie auch immer, ich möchte mich möglichst in einem Zustand der Unruhe, des Zweifels halten. Das ist ja nichts Neues, dass solche, eher mühsame Zustände für die künstlerische Arbeit hilfreich sind.
Dann geht es in einem poetologischen Sinn darum, dass ich ja übliche literarische Formen ausgeschlossen habe. Da ist weder ein Roman, noch ein Prosastück, noch ein Gedicht zu verfassen. Es liegt hier also in einem gewissen Sinne eine trostlose Form vor, die ohne Ränder, ohne Abschnitte und Abschlüsse auskommt. Was irgendwo beginnt hört nirgends auf.
Und dann gibt es noch eine andere Ebene, die mit diesem Begriff „Nicht bei Trost“ in Zusammenhang steht, und die ist mir fast die wichtigste. Der Text ist nicht nur inhaltlich in alle Richtungen offen, sondern er ist vor allem offen in alle möglichen Kontexte. Und diese Kontexte alimentieren ja nicht nur meinen Text, sondern seit Jahrhunderten jeden Text, auch den großen Gesamttext, an dem wir alle „schreiben“. Ich „ernähre“ mich und meinen Text mit vielem, was vor mir erarbeitet wurde. Der Text soll also offen sein in das riesige Feld eines viel größeren Textes. Das heißt dann auch, dass meine Person, der Autor als Subjekt, mit der Zeit immer mehr verschwindet. Und dieses Verschwinden ist, wenn man sich das genauer überlegt, auch etwas, was ein bisschen Trostlosigkeit als Stimmung verursachen könnte, aber gleichzeitig auch ein Glücksgefühl auslöst. Ich meine, dass dies eine mögliche, vielleicht manchmal sogar notwendige Position eines heutigen Autors sei.
Das heißt nun aber auch, und ich komme jetzt näher zum konkreten Text, dass die verschiedenen Elemente, aus denen sich der Text in einer assoziativen Kette ununterbrochen zusammensetzt, etwas miteinander zu tun haben, auch ohne meine Sprache, dass diese wohl durch meine Sprache verknüpft werden, aber das ist eigentlich ein nachträgliches, sprachliches Verbinden von etwas, was schon vorher in einem geheimnisvollen Zusammenhang stand. Mein Text möchte sich nahe an diesem Phänomen halten.
Nun kann man einwenden, dass die Form gar nicht so offen sei, denn ich habe ja eine sehr strenge Form gewählt. Und diese Form, die darin besteht, dass sich die Zeilen im Wechsel von fünf-sieben-fünf-sieben Silben aneinanderreihen, erinnert vielleicht an die Form des japanischen Haiku. Doch geht es mir überhaupt nicht darum, hier etwas auch nur Haiku-Ähnliches zu schreiben, obwohl mir das immer wieder unterschoben wird. Aus einer Laune heraus habe ich diese Form gewählt, vielleicht weil ich wusste, dass es in Japan in der Tat eine Form des Kettengedichts gibt. Die Form hat sich jedoch bewährt, weil sie für die deutsche Sprache recht sperrig ist. Das Zählen von Silben als Gedichtform war wohl im Mittelalter noch üblich, aber heute sind es ja Hebungen, die ein Gedicht rhythmisch bestimmen. Dieser fünf-sieben-fünf Rhythmus bremst hartnäckig mein Schreiben und Denken, was ich sehr mag, weil ich dann solange bei einzelnen Sätzen, einzelnen Zeilen verweilen muss, bis dass das, was ich meine sagen zu müssen, in diese Silbenform hineinpasst. Das ist manchmal ein sehr langwieriges Unterfangen. Manchmal geht’s ganz flüssig, man kann zehn Zeilen fast fließend hinschreiben, oft aber eben nicht. Und dann knorzt man an diesen Stellen herum, was insofern interessant ist, weil es einen zwingt, viele Varianten auszuprobieren. Manchmal ist nur eine Silbe zu viel oder auch eine zu wenig, und man fügt dann versuchsweise ein „nicht“ ein, setzt also das Ganze in die Negation und denkt plötzlich: Warum eigentlich nicht?
Ich habe nun über 27.000 Zeilen geschrieben, und immer noch verfolge ich dieses Projekt zu meiner eigenen Überraschung täglich mit Freude: Wunderbarerweise reißt der Faden bis jetzt nicht. In einem gewissen Sinne handelt es sich hier auch um eine ganz anachronistische Arbeitsweise. Denn heute ist ja das In-Angriff-nehmen von überschaubaren Projekten angesagt, die möglichst schnell an ein Ziel führen sollen oder wieder aufgegeben werden, damit ein neues Projekt gestartet werden kann. Meine Arbeit verläuft diesbezüglich gänzlich anders. Es spielt keine Rolle, wie weit ich komme, ich komme ohnehin an kein Ende. Das verschafft mir eine unglaubliche Freiheit. Es bleibt alles offen und das ist großartig.
Natürlich gibt es gewisse Vorgaben, an die ich mich ziemlich streng halte. So soll der Text nie, oder nur ganz ausnahmsweise, tagebuchartig werden. Es muss schon etwas sehr Gravierendes passieren, dass davon etwas in den Text einfließt. Wobei man im Text vielleicht gar nicht merkt, dass die Stelle mich selbst betrifft. Der Text soll sich immer auf einem bestimmten inhaltlichen Niveau halten. Eine gewisse Dichte, oder eine angemessene Spannung müsste sich durch den ganzen Text halten können. Das ist mir ein großes Anliegen.
Ein anderes Anliegen ist, dass ich die Quellen, die ich verwende, ganz präzise und minutiös ausweise. Deshalb ist mir der Anmerkungs- und Bildteil wirklich äußerst wichtig. Damit komme ich zurück auf das schon angesprochene Geflecht, das ich, so gut ich kann, aufzeigen will. Der Kontext, in dem ich mich befinde, in dem wir uns alle befinden, soll so deutlich wie möglich aufgezeigt werden. Das ist wiederum eine recht zeitaufwändige Arbeit, weil ich das Zitat oder den Gedanken, den ich vielleicht nur vage im Kopf habe, überprüfen will, das Buch in der Bibliothek hole und die Stelle und deren Kontext nachlesen will, damit ich sicher bin: Ja, das stimmt, und das kann man so formulieren, das passt hier, auch wenn ich die Formulierung dann in einem ganz anderen Zusammenhang verwende.
Der Text nimmt im Übrigen immer wieder selbstreferentiell Bezug auf den Akt des Sprechens und Schreibens. Es ist dies eine Art Fuß fassen, ich mache mit der Nähnadel – ich arbeite ja textil –ab und an einen Fadenschlag, damit ich die Haftung nicht verliere. Dazu dienen mir diese selbstreferentiellen Textstellen, wo ich mir überlege: Was machst du da eigentlich? Und was vermag Sprache überhaupt? Und worauf zielst du mit deiner Sprache? Und woran scheiterst du auch immer wieder mit dieser Sprache?
Da der Text ja auf Unendlichkeit angelegt ist, könnte man vermessen genug sein und behaupten: Ich will alles sagen. Aber was geschieht, wenn man alles sagt? Ergibt dies nicht eine Art Auslöschung, wenn alles gesagt wird? Und irgendwie spürt man, dass, auch noch wenn alles gesagt ist, ein Rest übrig bleibt. Ich meine, dass es eigentlich um diesen Rest geht, den man nicht erreichen kann. Das ist für mich der Antrieb, in einer Art Spiralbewegung um diesen Rest herum zu schreiben, im Wissen, dass ich ihn nicht erreiche, aber in der Hoffnung, dass ich ihm vielleicht ab und zu ein bisschen näher komme.
Jetzt könnte man natürlich den Blick noch auf den oder die Lesende richten. Und das tue ich ab und zu auch, obwohl ich sagen muss, der Text ist ja in einem gewissen Sinn vor allem auch eine existentielle Selbsterkundung: Was geschieht mit mir, wenn ich einen Text in so strenger Vorgabe so lange weiterschreibe? Und nun kann man sich natürlich fragen, ob das für den Leser interessant sei? Und das frage ich mich in der Tat oft, und ich staune keineswegs, wenn es nur wenig Lesende gibt. Der Text mit seinem Volumen ist ja eine schiere Zumutung. Selbst wenn er in Buchform erscheint, ist es ja so, dass der Lesende oder die Lesende sich überhaupt nicht orientieren kann. Es gibt kein Inhaltsverzeichnis, es gibt keine Überschriften, der Satz sieht immer gleich aus. Jetzt erschien schon die vierte Staffel. Wo soll man beginnen? Wo soll man aufhören? Es braucht schon ein bisschen Mut, hier einzusteigen. Aber ich will den Lesenden zumuten, dass sie das mal probieren und sie sich auf diese Fährte begeben, in diese Assoziationskette irgendwo hineinspringen. Man kann das auch nur für ein paar wenige Zeilen tun. Ich glaube, dass das Lesen eigentlich erst dann gelingt, wenn man aufhört zu versuchen, von einem Punkt A zu einem Punkt B zu gelangen, obwohl verschriftete Sprache uns meistens eine gewisse Linearität aufzwingt. Man müsste sich in dieses Fluidum von Assoziationen einfach mal hineinfallen lassen. Und vor allem muss man bereit sein, davon auch wieder wegzukommen. Der Text soll doch dazu animieren, sich in eigenen Assoziationsketten zu verstricken. Man verlässt den Text schnell und ohne Bedauern, driftet irgendwohin ab mit den eigenen Gedanken und kommt dann vielleicht wieder zurück – oder auch nicht, was zum Beispiel bei sehr langen, mehrstündigen Lesungen durchaus möglich sein soll. Da kann man dann ruhig auch ein wenig einnicken, was eigentlich eher für als gegen den Text spricht.
Diese Lesart „funktioniert“ besonders gut, wenn ich den Text mit seinem ganzen Quellenmaterial ausstelle und an Wände appliziere und die Quellen mit roten Fäden mit dem Text verbinde. Dann werden die Anmerkungen in ihrem ursprünglichen Kontext erkennbar, denn es sind ganze Hefte, Fotokopien, mehrseitige Auszüge aus Büchern, viele Bilder, vielleicht ein ganzes Buch einsehbar, um den Lesenden in dieses Geflecht zu führen, in welchem mein Text nur eine schmale Spur legt. Da mag man dann, und das geschieht auch, stundenlang verweilen, weil man längst nicht mehr meinem Text folgt, sondern eigentlich von Kontext zu Kontext hüpft und denkt: Das kenne ich doch auch irgendwie, oder, das Bild habe ich auch schon irgendwo gesehen. So realisiert sich das, was ich anfangs erwähnt habe: Der Autor verschwindet als Subjekt seines Textes und der Lesende begibt sich in dieses Medium hinein, in welchem wir gemeinsam ein wenig verweilen wollen.
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