Literarische Selbstgespräche

Von und mit Monika Vasik

Ich muss, was ich darf, weil ich will.

Monika Vasik, © Astrid Nischkauer

Was mich am meisten irritiert ist der Titel: „jeder mensch lügt.“ Ja, das stimmt wahrscheinlich. Ich kenne niemanden, der noch nie gelogen hat. Man sagt dann gern beschönigend: „Er hat die Unwahrheit bemüht.“ Lügen als eine Art Gemeingut, als gesellschaftliche Übereinkunft, da ohnehin alle lügen und wir es daher ebenso tun. Lügen auch als eine Art Überlebensmittel. Aber als Überschrift zu einer Sammlung literarischer Selbstgespräche! Noch dazu verkehrt herum, damit man die Schrift nicht gleich auf den ersten Blick lesen kann. Diese Mühsal des Entzifferns, bis ich endlich mitkriege, dass ich die Schrift nur vor den Spiegel halten muss: „jeder mensch lügt.“ Habituell? Oder immer? Beim Schreiben schwarz auf weiß? Oder nur in dieser Art von Selbstgespräch? Ich stelle mir also vor, da sitzen drei Stimmen in meinem Menschgefäß. Zumindest drei. Vielleicht stehen sie auch oder sporteln. Zwei von ihnen könnten zum Beispiel im Kreis joggen, während der Dritte – nein, der darf nicht joggen – der muss sitzen, oder in der Mitte stehen, oder er darf allerhöchstens randläufig mitrennen. Muss zuschauend zuhören, muss protokollieren. Muss es vermutlich, weil er es will. Einer muss das schließlich mögen, muss diesen Stress, diese Arbeit auf sich nehmen wollen. Sonst würde ich nicht erfahren, was die anderen sich an den Kopf lügen oder sonst wohin werfen im Unwahrheitsfuror ihrer Lügnerei. Und dann lügen die beiden, lügen, dass sprichwörtlich sich die Balken biegen. Der eine fragt vielleicht irgendetwas, der zweite antwortet – lügend, naturgemäß – während der erste schon kontert. Ich ahne schon was und wie – nämlich sicher nicht die Wahrheit. Und der dritte steht staunend da, mit offenem Mund steht er da, kann daher nichts sagen, muss er auch nicht, denn er muss ja nur all das aufschreiben, diese ganze Unwahrheit wahrheitsgemäß wiedergeben, die später dann Selbstgespräch heißt. Damit man sie schwarz auf weiß lesen kann. Ein Psychiater würde diesen Prozess einer Spaltung vermutlich einem Formenkreis zuordnen, aber sei es drum. Wahrhaftig, es sei drum, wie es sei.

Wenn mich jemand fragt, warum ich dichte, kann ich bloß antworten: „Warum denn nicht?“ Das Gespräch übers Dichten ist dann meistens beendet. Ich habe keine Lust mehr, mich zu rechtfertigen. Ich bin, was ich bin und Lyrikerin bin ich auch, Punkt. Nicht immer allerdings gelingt mir diese Haltung. Als ich unlängst sagte, dass demnächst mein nächstes Buch erscheinen werde, erntete ich freudige Blicke in meinem Umfeld, was meine Schriftstellerinnenseele natürlich streichelt, was aber nicht anhält, denn die Nachfrage: „Einen Erzählband?“, oder dreister: „Kommt jetzt endlich dein Roman?“, muss ich enttäuschen. „Nein, es sei wieder“ – und ich sage nie „nur“ – „wieder ein Gedichtband. himmelhalb. Sein Thema: Natur.“ Meint eine Freundin: „Ich lese so gerne deine Prosa, wenn du einmal einen Geschichtenband herausbringst, werde ich ihn mir bestimmt kaufen.“ Touchée. Wird sie diesen dann wenigstens lesen? „Irgendwann“, beruhige ich sie, „irgendwann wird es bestimmt auch einen Prosaband geben.“ Obwohl ich weiß, dass alle Projekte, an denen ich ernsthaft und konzentriert arbeite, Lyrikprojekte sind. Ist das jetzt eigentlich eine Lüge, frage ich mich in diesem Selbstgespräch? Oder bloß ihr kleiner Bruder der Schwindel? Schwindle ich also oder lüge, damit ich meine Ruhe habe für diesen Eigensinn, meinen Eigensinn? Nicht besser geht es mir mit schreibenden KollegInnen: „Über Natur könne man heutzutage nicht mehr schreiben“, heißt es dann. „Zumindest keine Gedichte, das gehe gar nicht mehr.“ – „Warum?“ – „Du weißt schon!“, ihre raunende Antwort, die mich ratlos zurücklässt. Nein, ich weiß es nicht. Wahrheitsgemäß gestehe ich, ich habe es getan, ich tue es, werde es wahrscheinlich wieder tun: Natur verdichten. Lyrik? Natur? – Oh, Gott! Ich weiß, dass es Existenzielleres gibt: Den Krieg in der Ukraine, die IS-Mordtruppen, Wirtschaftskonflikte. Und ich mache auch das eine oder andere Gedicht dazu. Aber mit Blick auf mein erstes Buch, nah.auf.stellung, weiß ich, ich muss nicht mehr. Ich hab schon politische Gedichte publiziert. Das befreit. Jetzt kann ich mich anderen Themen zuwenden, mit einer Sprache, die weniger klar und weniger explizit, weniger unmissverständlich sein darf als jene für das Minenfeld des politischen Gedichts.

Am meisten beschäftigt mich derzeit mein Stimmen-Projekt. Und die Frage, wie lässt sich Musik, wie lassen sich außergewöhnliche Singstimmen, konkreter: prächtige Frauenstimmen, in Dichtung übersetzen. Wie lässt sich das Besondere der weiblichen Gesangskunst, ihre Stimmgewalt mit Worten erfassen? Wie die adäquate Sprache finden? Wunderbar ist schnell gesagt, großartig, super, toll, einzigartig,… Aber Schwingungen, das Timbre, herausragendes Talent, emotionales Ergriffenwerden kann ich nicht mit abgegriffenen Adjektiven ausdrücken. Das heißt, ich muss mir andere Möglichkeiten einer Benennung öffnen, die auch Zwischentönen nachspürt, Querverbindungen, Einflüssen der einen Sängerin auf die anderen, eventuellen Gemeinsamkeiten.

Nein, ich schreibe nicht schnell mal ein Gedicht. Ich schreibe Rezensionen. Selten schreibe ich Prosa. Ein Gedicht jedoch schreibe ich nie. Obwohl ich genau so dasitze vor dem nackten Bildschirm, sicherheitshalber daneben ein Blatt Papier und einen Stummelbleistift, während die ausgewählte Sängerin mir zum x-ten Mal ihre Lieder in meine beiden Ohren stimmt. Nichts anderes passiert, bis, ja, bis auf einmal ein Wort rutscht, vielleicht ein zweites nachflutscht, und dann wieder nichts, Ebbe, Sendepause, nichts. Also streichen, ausstreichen alles, delete. Und dann gibt es plötzlich zwei Worte, die zusammenpassen, die ein drittes anziehen, es hinzu fügen. Nein, ich füge, ich bastle, gebe hinzu. Empfange auch. Von Anfang an ist es ein konzentriertes Arbeiten. Allein. Ausgesetzt. Mich aussetzend. Freiwillig. Ich kann das Gerede von der Mühsal des eigenen Schreiben-Müssens nicht mehr hören. Ich muss gar nichts. Ich darf und ich will. Oder richtiger: Ich muss, was ich darf, weil ich will. Mich nämlich plagen, aus freien Stücken. Oder warten. Oder loslassen. Den Mut dazu haben. Mit einer einzigen Sicherheit: Lügen hilft mir beim Dichten hier und jetzt ganz bestimmt nichts.

Anders als Sarah Diehl, die kein Ticken der biologischen Uhr hört, entschied ich früh, dass ich alles haben will. Und wenn schon nicht alles geht in diesem kurzen Leben, dann möglichst viel davon. So entstand eine Art Appartement mit vielen Zimmern, deren Türen weit offen stehen. Das Gefäß „Ich“ steht allzeit bereit in der zentralen Wohnküche, von der aus es die anderen Räume schnell erreichen kann: den Raum Familie, das Berufszimmer, den Raum für Freundinnen, ein Sportkammerl. Und dann gibt es noch das Literaturzimmer, das in drei winzige Kammern geteilt ist – ein Prosadepot, wo ein paar Texte liegen, eine Rezensionsstube, die sich nach und nach füllt, und meine Lyrikpraxis, hier bin ich am liebsten, wenn auch viel zu selten. Arbeite inmitten von Büchern, Zettelwerk und Notaten. Hier wird alles langsamer, lässt sich nichts zwingen, weder aus Erfahrungen noch sonst woher.  Dichten ist rätseln. Ein zeitintensives Probieren, Suchen, Spüren. Auch Lernen. Was ungeheure Mengen Geduld und Energie verbraucht. Das einzig Regelmäßige in diesem Prozess ist das Scheitern. Und manchmal entsteht kurz davor ein Gedicht. Das dann mit mir um Fassung ringt, während ich es lese, es liegen lasse, es mir wieder und wieder laut vorlese. Das Musikalische wird mir mit den Jahren immer wichtiger. Die Wortmelodie, der Klang, der Rhythmus im Sprachspiel, bis alles schließlich passt. Nein, alles passt nie. Ich habe noch kein vollkommenes Gedicht geschaffen. Alle Versuche und alles Glücken sind nur Näherungen an meine Vorstellung von Vollkommenheit. Selten genug leuchtet ein Gedicht. Und obwohl es, wie ich meine, durch die offene Tür nach draußen strahlt, kriegt es in meinem Appartement keiner mit, weil jeder nur in seinen eigenen vier Wänden bleibt. Wer braucht schon Lyrik? „Weißt du“ – höre ich viel zu oft, auch von Autorinnen – „ich kann mit Lyrik einfach nichts anfangen.“ Einfach nichts. Nicht einmal die. Und so gibt es nicht nur drei, sondern wesentlich mehr Stimmen in meinem Menschgefäß. Für jeden Raum meines Appartements zumindest eine, die passt. Die sich anpasst. Weil es mich sonst zerreißt. Aber sie lügen nicht, es sei denn, anpassen wäre bereits eine Art Lüge. Oder schweigen. Denn jede meiner Stimmen hat von Beginn an eines gelernt: Rechtzeitig zu schweigen. Das ist nicht ungeeignet, denke ich, für die Arbeit an einem Gedicht.

Wie alles anfing? Danke, Astrid, dass du mich auch diese Frage nicht gefragt hast! Es fing alles an. Irgendwie. Das Schreiben, das Dichten ebenso. Wie es immer anfängt, erste Versuche, dann verschleppt alles. Später zwei, drei Stunden pro Woche als Eremitin. Samstagvormittags, oder sonntags, wenn ... Zeitdiszipliniert, konsequent, ausschließlich projektbezogen, wie andere Schriftstellerinnen auch: Passende Ausschreibung, Deadline, rechtzeitige Abgabe. So sammelt sich in Jahrzehnten einiges an. Zum Wollen aber immer dieses Müssen setzen. Ein Müssenwollen. Streng und unnachgiebig, weil es nicht anders möglich und trotzdem notwendig war. Kinder, Beruf – wann lesen? Wann schreiben? Jetzt oder nie! Wann dichten? Usw., wie es in typisch weiblichen Biographien eben passiert. Heute arbeite ich noch genauso fokussiert, meist an eigenen Projekten. Nehme mir die Freiheit zu dichten, neben einem Beruf, der meine Lyrik erst möglich macht. Jahre der Arbeit für den ersten Lyrikband, nebenher immer und trotzdem für mich gleichwertig. Jahre für den folgenden Gedichtband zwei.hautnah. Liebesgedichte, gespeist auch aus beruflichen Erfahrungen und Gesprächen, bis sie ein Buch wurden. Dazwischen Verstreutes, um zu überprüfen, ob ich mich nicht selbstverlügt verrenne. Andere lektorieren fremde Texte, sitzen in Jurys, haben ebenfalls nicht mehr Zeit als ich, tröste ich mich, angesichts der Zugeständnisse. Vom Dichten leben kann ohnehin keiner. Ich muss wenigsten an keinen Roman, muss nicht in Verwertungskreisläufen denken.

Lyrik und Medizin haben ja viel gemeinsam. Ergänzen sich, ohne sich gegenseitig zu verbrauchen. Beide sind offen, nie fertig, weil immer Neues hinzu kommt. Beide sind Handwerk, das nur bis zu einem gewissen Grad erlernbar ist. Ob eine Infusionsnadel oder ein Wort richtig sitzt, ein Vers oder Medikament passend aus vielen Möglichkeiten gewählt wird, ist für mich ein vergleichbarer Prozess. Ein wichtiges Werkzeug ist Sprache. Ein Greifen, Begreifen mit und durch Sprache, der aufmerksame Umgang mit ihr. Darüber hinaus braucht man für beide das richtige Gespür. Das Ergebnis von Bereitschaft, von Offenheit der Wahrnehmung, auch von Empathie. Eine Bauch-, Herz- und Kopfsache, dieses Wechselspiel von Hirn und Sinnen. Und für Medizin wie Lyrik gilt: Beide reagieren. Die Medizin auf ein menschliches Gegenüber, die Lyrik auch auf die Nacktheit von Bildschirm oder Papier. Das Selbstgespräch hingegen ist ein Agieren, eine Extroversion und ein Anbieten des nach außen Gestülpten. Hier wird die Lüge zur Option, sich selbst und das eigene Können geschönt in den Vordergrund zu spiegeln. Dazu tauge ich nicht. Ich bleibe lieber bei meiner Wahrheit, in all ihrer Widersprüchlichkeit, weil mich alles andere überfordert. Und so stelle ich richtig: Es gibt kein Appartement. Sondern nur eine winzige, völlig überfrachtete Ich-Wohnung. Und Literaturzimmer gibt es auch keines, nur zwei kleine Schreibtische. Einen für die Literatur und einen für die Medizin und Allfälliges. Warum ich das bekenne? Weil mir diese ganzen Lügenkonstrukte nichts bringen. In Medizin wie Lyrik ist die Lüge gewiss möglich. Das Prahlen, Blenden und Vorschieben kommt vor. Doch in der Medizin hat die Wahrhaftigkeit des Könnens meist vitale Bedeutung. In der Lyrik, meine ich, zumindest eine für das Gelingen des Gedichts, meines Gedichts, das dann möglicherweise hermetisch schweigt und gebeten werden will, oder völlig offen da liegt, auf den beherzten Zugriff wartet und doch nur selten, wenn es gelungen ist, so hoffe ich, lügt. 

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