Im Gespräch mit Gerald Ganglbauer

Die Welt ist doch nur
ein globales Dorf

Das Interview mit Gerald Ganglbauer wurde im Literaturhaus Graz am 9.7.2004 von Andrea Ghoneim-Rosenauer aufgezeichnet.

Dies ist das offizielle Internet-Forum des Auslandsösterreicher-Weltbund AÖWB … bitte loggt euch zahlreich ein. Immerhin leben eine halbe Million Österreicher verstreut über die Welt. Wir leben in vielen Ländern und Kulturen, darum geht es hier nicht um Österreich selbst. Dafür gibt es ohnehin weltweit über 400 Vereinigungen. Hier geht es um die österreichische Seele. […] Austrians Abroad ist ein gepflegter Treffpunkt von und mit ÖsterreicherInnen im Ausland.
Chefmoderator und Gründer: Gerald Ganglbauer, Sydney, Auslandsösterreicher-Weltbund AÖWB.

www.austrians.org

Andrea Ghoneim-Rosenauer: Du hattest anlässlich von 20 Jahren gangan in real life gefeiert, also ein richtiges Fest, in Graz. Du hast auch gleichzeitig eine neue online-community gestartet, die „Austrians Abroad“. Hängt das ein bisschen auch damit zusammen, dass du ja auch ein Austrian abroad bist?

Gerald Ganglbauer: Das hängt natürlich ganz stark damit zusammen. Wenn man im Ausland lebt, wie du ja vielleicht auch von Kairo weißt, oder von anderen Menschen, die man trifft, unterwegs oder in anderen Teilen der Welt, hat man so etwas wie eine österreichische Seele. Und die bleibt einem erhalten, ob man jetzt 20 Jahre in Australien, oder in den USA oder auch in einem Dritte-Welt-Land lebt. Man hat sie von Geburt und trägt sie mit sich herum und vergisst sie vielleicht zum Teil, sie wird ein bisschen überdeckt von anderen Eindrücken. Aber irgendwann, früher oder später, bricht sie wieder hervor. Man macht sich wieder Gedanken über die Wurzeln, man versucht, sich zu positionieren oder immer wieder neu zu positionieren. Und da ist mir die Community, weil sich so etwas im Internet recht leicht bauen oder zusammenbauen lässt, zu Hilfe gekommen. Ich habe ein bisschen Zeit gehabt, vor und nach der Präsentation unseres Verlagsfestes, habe mich einfach an den Computer gesetzt, habe Österreicher gesucht, die im Ausland leben, habe 1000 oder so gefunden, habe die alle eingeladen, zusammengebracht, an einen Tisch gesetzt. Der wächst und wächst und wächst und es hat sich schon ein unheimlich starkes oder positives Gesprächsklima in dieser neuen Gruppe ergeben. Jeder hat irgendwie darauf gewartet, jeder freut sich, dass er dabei ist, dass er eingeladen war. Ich glaube, seit einer Woche gibt es das jetzt, und ich habe schon hundert Leute aktiv am Tisch sitzen. Ich habe heute in der Früh schon wieder ein paar Sachen moderiert, 20 Beiträge von Menschen von allen Teilen der Erde, die sich gemeldet haben, die sich vorstellen mit ihrer kleineren oder größeren Lebensgeschichte und die das in einer sehr guten Qualität machen. Ich war wirklich sehr überrascht über die Qualität an Österreichern, die man im Ausland findet. Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen witzig, aber ich habe schon Erfahrungen und Suchen hinter mir, wo ich immer eher so Beisl-Leute gefunden habe, die am Stammtisch wirken, wo es sprachfetzig hin und her geht und nichts wirklich Wesentliches dabei ist. So etwas liegt mir fern, so etwas interessiert mich nicht. Ich bin zum Teil privat in diesen „Beisln“ drinnen. Aber worum es mir bei der Community ging, war, dieses Österreichische zu erarbeiten, zu durchleuchten und ein bisschen zu schauen, was wir hier tun auf diesem Planeten, und warum wir aus diesem kleinen Land Österreich so weit weggehen und so verschiedene Lebenswege beschreiten.

Rosenauer: Vielleicht, weil wir so ein kleines Land sind [lacht]. Vielleicht von der Jetztzeit ganz zurück zu den Anfängen – oder nicht ganz zurück zu den Anfängen, sondern zu der Zeit, als der gangan-Verlag im Netz war. Seit wann ist das?

Ganglbauer: Den gangan-Verlag gibt es seit 20 Jahren, aber im Netz ist er seit fast 10. Anfangs war das ganze Verlagskonzept natürlich ein traditionelles, mit schönen gedruckten Büchern, die man in der Hand halten konnte, wo man ein gebundenes Stück Buch vor sich sieht. Das war eigentlich die Ausgangsposition. Das war noch in Graz, 84. Dann ging ich nach Wien, 86 und nach Australien 89. Das waren relativ kurze Schritte, wo ich mir in meiner jugendlichen Unschuld gedacht habe, ich kann das schon von Übersee aus auch im Griff haben und in Österreich produzieren und dazu das Marketing machen, die Verkaufsberater betreuen, also unsere Auslieferungen etc. Das war ein Traum, das hat sich nicht bewerkstelligen lassen. In den 80ern war ich in Österreich, da habe ich mich selbst darum gekümmert, da waren wir in den Medien vertreten etc. In den 90ern, wo ich in Australien war, haben wir dann sehr sehr schöne Bücher gemacht, aber die nicht mehr entsprechend präsentiert am Markt. Und dadurch sind sie natürlich zum Teil liegengeblieben, und ich habe mir dann auch zum Teil aus wirtschaftlichen Gründen gesagt: „Das geht so nicht weiter, ich habe so viel Geld reingesteckt, jetzt ist einmal Schluss damit.“ Das war das Ende von der Papierproduktion. Und dann kam quasi das World Wide Web sehr günstig daher. Es hat sich Mitte der 90er etabliert. Es war zwar weit entfernt davon, ein öffentliches Medium zu sein, weil am Anfang gab es das vor allem in Firmen, in der Wirtschaft, im Militär, im universitären Bereich, aber nicht wirklich in den Haushalten. Das kam erst später. Aber es war auf jeden Fall schon die Idee – oder ich würde es sogar weiter sehen, diese elektronische Gesellschaft, hat sich abgezeichnet. Und da dachte ich mir: Das ist eigentlich mein Medium, das passt mir, weil das Netz von Australien über Wien und Graz da gut zu halten ist. Es ist eigentlich egal, ob ich auf einer Insel sitze und Urlaub mache – solange ich den Laptop mithabe. Und das hat natürlich langsam begonnen. Statistiken kannst du ohnehin nachschauen, das ist alles in dem Papier, das ich auf der Konferenz vorgestellt habe, ein bisschen genauer beschrieben.

Rosenauer: Ich glaube, du hast das zum Teil auch auf deiner Homepage recht schön dokumentiert. Aber es ist eine gute Idee, das auch in TRANS nachzulesen.

Ganglbauer: TRANS 15. Und es ist einfach gewachsen. Ursprünglich war das nur eine Idee, eine Marketingidee. Man hat die gedruckten Bücher einer neuen oder unbekannten Öffentlichkeit vorgestellt, weil man nie wusste, wer da draußen ist, wer sich das anschaut, wer reinstolpert in diese Seite. Aber es ging dann relativ schnell. Innerhalb von einem Jahr habe ich mich dann entschlossen, dieses Zeitschriftenprojekt, das ich auch schon länger als Papierzeitschrift vorgehabt hatte, „Gangway“, im Internet zu realisieren. Das war auch ideal, weil es zweisprachig war, weil es sich schnell entwickeln konnte, weil Entfernungen keine Rolle spielen und kein Distributionsweg, keine Zeitverzögerung beim Einreichen von einer Arbeit oder beim Lektorieren oder beim Antworten da war – das kann man innerhalb von Minuten machen, wenn man sehr viel online ist. Gut, damals war man noch nicht so viel online, da hat man sich noch eingeloggt über Telefonleitungen und hat mit den Minuten geknausert. Aber es war irgendwie schon abzusehen, dass das Breitband kommt, dass das eine Technologie ist, die greifen wird. Und jetzt ist sie da und jetzt bin ich schon lang genug drinnen und quasi vom Papier-Verleger zum elektronischen Verleger gewechselt und eigentlich ganz kompetent unterwegs.

Rosenauer: Hast du die Sachen am Anfang – oder tust du das jetzt noch immer – selber designt, oder hast du das mit einer Gruppe gemacht? Es gibt doch etliche Schriftsteller oder auch an Literatur Interessierte, die Projekte aufbauen, die sagen, die Feinheiten des Webdesigns sind nicht so ganz meins. Hast du auch die technische Seite selber gemacht?

Ganglbauer: Bei mir ist es eine günstige Kombination, dass ich an sich Techniker war, erst später dann auf der Uni studiert habe und quasi ein linkes und ein rechtes Gehirn oder – sagen wir es einmal so – Talent für beides habe. Die technische Seite ist bei mir immer mitgewachsen. Das hat schon beim Papier angefangen. Ich habe die ersten zwei, drei Bücher von Setzern oder einer Werbeagentur gestalten lassen, aber unter sehr starkem Mitspruch. Ich bin quasi hinter den Designern gesessen, habe ihnen über die Schulter geschaut und kräftigst mitgemischt und sehr viel gelernt. Ich habe zwar keine formale Designausbildung, aber ich habe mir, glaube ich, ein gutes Gefühl für Grafik angeeignet, für Buchgestaltung – von Typographie bis hin zu… Ich habe vielleicht überhaupt einen für das Ästhetische einen ein bisschen stärker ausgeprägten Sinn. Nicht nur den fürs Lektorat und den von der Verlagsseite her. Und habe auch – da mit dem Verlag ja eh nichts zu verdienen war – dann dazuverdient, oder überhaupt verdient als Grafiker, in den 90ern. Auch, weil ich sehr talentiert war, mir Kenntnisse am Macintosh oder mit den ganzen Programmen, die die professionellen Satzstudios und Reproanstalten verwendet haben, angeeignet habe. Ich habe dann quasi mein Geld damit verdient. Und auch ebenso, als es elektronisch wurde, als das World Wide Web gekommen ist, mir genaue Kenntnisse angeeignet, schon, bevor sie gelehrt worden sind. Ich habe dann schon meine ersten Homepages hard gecodet, also einfach den Code geschrieben und mir angeschaut, wie das geht, dass man irgendwas darstellt und dann schaut, ob der Browser das dann so interpretiert, wie er das tun soll. Die Experimentierzeit… Das war ja immer schon so. Wir haben am Gymnasium eine Art „Kleiderschrank“ mit Lochkarten bedient. Der hat geblinkt und wir haben dort erste Fortran-Programme eingefüttert und das hat auch funktioniert. Und der Code – HTML oder was auch immer das jetzt gerade aktuell ist – ist auch nicht viel anders. Code ist Code, und damit komme ich ganz gut zurecht.

Rosenauer: Machst du jetzt noch immer die Sachen selbst? Mittlerweile ist das ja von HTML – das habe ich auch selber gecodet – gewechselt zu Sachen, da kann ich zum Teil nicht einmal mehr den Code lesen. Bist du da am Ball geblieben?

Ganglbauer: Da bin ich schon am Ball geblieben, aber ich habe das Problem, dass ich sehr viele statische Seiten gecodet habe. Meine Seiten – das sind ja drei, die gangway.net, die gangart.com und die gangan.com – das sind schon tausende Seiten. Wenn ich die jetzt alle umschreiben würde auf Datenbank oder PHP oder andere active server pages, dann würde ich daran verzweifeln. Es ist ein bisschen das Problem der Ersten, dass sie sehr viel erarbeitet haben, was dann da ist und die Jungen kommen einfach daher, nehmen viel leichtere Methoden, nehmen Softwarepackages, die man ganz einfach bedienen kann und machen irgendetwas Flashiges, knallen das hin, und das ist ganz einfach und schaut sicherlich besser aus. Obwohl, na ja, besser ausschauen… Es gibt diesen optischen Hit, und man weiß sofort, gibt es die Seite ein Jahr oder gibt es sie schon 10 Jahre.

Rosenauer: Es hat Vor- und Nachteile. In Kairo ist zum Beispiel nach wie vor das Surfen über Telefonleitungen üblich. Da ist Breitband extrem teuer. Und es gibt österreichische Seiten, vor allem im Tageszeitungsbereich, die schaue ich mir einfach nicht an, weil ich weiß, das dauert einfach ewig oder manchmal habe ich Pech und es funktioniert gar nicht. Es gibt noch immer Länder, wo es kompliziert ist. Ich finde, es schadet gar nicht, wenn eine Seite einfach programmiert ist.

Ganglbauer: Ich schaue mir ja immer meine Besucherstatistiken sehr genau an und die Analysen, und sehe natürlich genau, dass sich sehr viele Leute auch mit sehr alten Maschinen noch einwählen und dennoch eine Möglichkeit finden müssen, die Informationen zu lesen und darzustellen, in einem vernünftigen Zeitrahmen. Und das war mir eigentlich immer ganz, ganz wichtig in der Seitengestaltung, dass ich nicht sofort jede neue Technologie umarme und gleich einmal ausprobiere, sondern, dass es mir um den Content geht, der das Vorrangige ist. Den dann in einer kompromisshaft anspruchsvollen Verpackung anzubieten, ist eine Geschmackssache. Da kann man schon auch mit schnellen Seiten, mit einfachem Code, schönere Sachen und „holprige“ Sachen machen. Das weiß jeder, der im Internet ein paar Seiten besucht hat, dass es da von den grauslichsten Kopfwehgeschichten bis zu den elegantesten Lösungen alles gibt. Diesen Kompromiss zu finden, war mir immer sehr wichtig. Darum bin ich auch immer einer der Entwickler, die alle Plattformen testen, die sich was auf Linux anschauen oder auf Windows oder auf Mac, auf älteren auf neueren Maschinen, mit verschiedensten Browsern. Und wichtig für den Enduser, sagen wir, User, ist es, dass es funktioniert, egal, wo er sich das anschaut, egal, wo er lebt und mit welcher Verbindung er sich einloggt und dass er Freude hat, diese Seiten zu lesen und dass die damit das auslösen oder erzielen, was man möchte.

Rosenauer: Was würdest du sagen, waren vor allem in der Anfangszeit, die Hauptschwierigkeiten oder Probleme bei der Realisierung des Onlinegangs.

Ganglbauer: Die Hauptschwierigkeiten waren die Modems, die Geschwindigkeiten. Mein erstes Modem war 14,4 [kbps], glaube ich. Und das war schon 96, glaube ich, oder 95. Das war damals schon ein schnelles Modem. Die ersten waren 2 oder 2,8 oder so irgendetwas. Das hat schon alles gedauert, und es war sauteuer. Meine ersten Rechnungen von E-World waren, glaube ich, 14 Dollar pro Stunde. Und da überlegt man sich natürlich genau, was man mit jeder Minute tut und wird sehr knausrig. Dennoch war das schon wichtig genug, dass man zumindest kommuniziert hat und dass man auch wusste, mache Leute zahlen nicht so viel. Das waren zum Beispiel die Akademiker, Universitäten, Bibliotheken, und so – dass man denen den Zugang zur Literatur eröffnet, das war der Anfang. Dass es dann wirklich von einem breiten Publikum gelesen wird, war toll, aber zuerst noch nicht wirklich absehbar.

Rosenauer: Würdest du das, dass der Leserkreis recht schnell relativ groß war, als positivste Erfahrung hervorheben? Oder was war noch dein Positivstes aus der Anfangszeit? Was hat dir am meisten Spaß gemacht?

Ganglbauer: Spaß gemacht hat, die Analysen des traffic auf dem Server anzuschauen, das war wirklich … Da hat man sich noch über jedes Land, das dazugekommen ist und jeden user – am Anfang waren es nur ein paar 1000 – und da weiß man noch genau, wer woher kommt, irrsinnig gefreut. Und ich habe mir gedacht, jessas, jetzt werde ich in Ägypten, oder ich weiß nicht, Norwegen oder sonst irgendwo gelesen. Und habe mir überlegt, wie lange bleiben die auf den Seiten, was schauen sich die genau an und so weiter.

Rosenauer: Hast du da eigentlich spezifisch eine Zielgruppe – eben Unis oder so im Auge gehabt, wie du das designt hast, oder war das eher so, dass alle, die können, auch sollen?

Ganglbauer: Nein, eigentlich war das schon ein „alle, die können, sollen“. Ich habe schon versucht die Fakten und die Angebote, vor allem, was Buchinformationen betrifft, bibliotheksgerecht anzubieten, also mit ISBN etc., aber ich glaube, ich habe mir nicht so viel dabei gedacht. Das war einfach ein Projekt, das ich mir in den Kopf gesetzt habe. Und ich bin ja ein relativ dickköpfiger Mensch. Ich wollte ja diesen Verlag nicht gleich aufgeben, nur, weil er zu viel Geld gekostet hat, und ihn einfach elektronisch weiterführen. Und das habe ich gemacht, und es ist nach 10 Jahren immer noch OK.

Rosenauer: Es kostet zwar viel Geld, einen Verlag zu haben, aber mit gedruckten Publikationen bekommt man ja doch die eine oder andere Förderung. Wie hast du das elektronische Projekt finanziert? War das schwierig, da etwas zu bekommen? Oder hast du das überhaupt über deinen anderen Beruf finanziert?

Ganglbauer: Die ersten Jahre habe ich das alles aus meiner Tasche finanziert. Ich habe gar nicht daran gedacht, dass elektronische Publikationen als so erwachsen gesehen werden können, dass man dafür von irgendwem Geld bekommt. Das war ein Projekt, das hat man halt aus der eigenen Tasche bezahlt. Und es war ja nicht wahnsinnig teuer – es waren natürlich schon die Onlinezeiten, die Serverkosten, und von der Zeit will ich gar nicht reden und von der Hardware auch nicht. Aber das war keine Fragestellung in meinem Kopf, wer mir das zahlt. Das war einfach: das will ich und das mach’ ich und das muss gemacht werden. Ich weiß von Kolleginnen und Kollegen, dass es schon auch Förderungen gibt, wenn sie spezielle Geschichten machen, oder dass es so etwas wie Kostendeckung vielleicht gibt bei dem einen oder anderen Projekt. Mir ist aber die Unabhängigkeit ganz wichtig, dass mir niemand sagt, „das musst du jetzt machen“, oder „das darfst du nicht machen“. Zur Auslandsösterreicherseite hat mich gleich der Gustav Chlestil, der Präsident des Auslandsösterreicher-Weltbundes in Australien angerufen, und will mit mir reden. Ich habe ihn noch nicht zurückgerufen. Ich weiß nicht genau, was ich ihm sagen soll, denn ich will unabhängig bleiben und habe nicht vor, mich mit Einflussnehmenden abzugeben. Ähnlich ist es auch mit dem Verlag. Damals habe ich natürlich auch für die eine oder andere Publikation ein paar Tausender (in Schilling) da oder dort bekommen. Aber das war immer zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben. Die ersten Jahre online habe ich alles aus meiner Tasche bezahlt; seit, glaube ich, 98 oder 99 oder so gibt es einen Tausender (Euro) pro Jahr vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kunst. Das ist eine freundliche Geste, aber nicht wirklich eine Förderung, weil das deckt nicht einmal meine Serverkosten. Das ist alles, was ich dafür in meinem ganzen Leben bekommen habe. Es liegt mir auch nicht wirklich, ich bin zwar voller Projekte, aber schlecht im Geldaufstellen.

Rosenauer: Aber du hast auch nie die Lust daran verloren, nur, weil du dir dachtest: „OK, experimentiert habe ich genug, Geld krieg’ ich keins…“ Also – es kommen ja dann irgendwann auch ein bisschen die Mühen der Ebene.

Ganglbauer: Das merke ich schon. Beim Gangway suche ich jetzt schon nach neuen Mitherausgebern, weil ich habe es jetzt 8 Jahre gemacht – oder das 9. schon – und ich habe es zu einem Niveau entwickelt, mit einer E-Community, oder eher einem Info-Pool. Und das funktioniert gut, das läuft, das hat sich nach dem ersten euphorischen Überall-Draufklicken, wo man einen Link sieht, bis hin zum planlosen Surfen, bis zum tatsächlichen Lesen entwickelt. Das ist so eine Kurve, die ein bisschen ausschaut wie eine Boa Constrictor. Die geht jetzt langsam runter, bleibt aber dort konstant, wo es um die tatsächlichen Leser geht. Zuerst hatten wir 60.000 Leute, die sich das pro Monat angeschaut haben, jetzt haben wir 20.000, aber eine andere Qualität.

Rosenauer: Das heißt, du siehst auf den Statistiken auch die Intensität, also, ob jemand kürzer oder länger auf deinen Seiten bleibt.

Ganglbauer: Ja, natürlich. Das ist ja das Schöne – die Transparenz im Netz. Da wird jeder genauestens, nicht bösartig, beobachtet, aber doch beobachtet. Also, ich beobachte meine Besucher natürlich, um ihnen etwas anzubieten, was sie auch interessiert. Ich schaue mir das Feedback an – nicht nur die computergenerierten Daten, sondern auch die tatsächlich geschriebenen E-Mails. Ich habe Feedback-Formulare, ich schaue mir an, was in den Gruppen an mich herangetragen wird, ich richte mich schon ein bisschen darauf ein. Aber ich bin ein bisschen … Der Verlag wird ab und zu wieder ein Online-Buch machen, aber das ist jetzt reine Liebhaberei geworden. Zeitschrift: im Moment, nach all diesen Jahren suche ich Neue, frisches Blut, Helferinnen und Helfer, die das vielleicht sogar einmal übernehmen möchten, wollen oder können. Und das Projekt – das haben wir noch gar nicht erwähnt – die gangart – die ist relativ frisch, die gibt es jetzt das dritte Jahr. Da sind wir eh schon eine relativ gute Gruppe mit einem Panel von Experten aus Frankreich, Australien, Amerika und Österreich, und das ist schon Teamwork. Ich habe vieles allein gemacht und bin dabei ein bisschen vereinsamt. Mit geht es jetzt eher darum, wieder ein Team zusammenzustellen, Leute zusammenzubringen. Nicht nur wegen der Arbeit, weil die mache ich ja gern, aber wegen der Diskussion der eigenen Arbeit, der Besprechung der Texte und so weiter.

Rosenauer: Wie schaut das aus: Du hast viel allein gemacht. Wenn du kooperiert hast, waren das eher Leute, Kollegen in Australien oder in Österreich oder ganz woanders? Beziehungsweise: wie würde dir das jetzt vorschweben?

Ganglbauer: Die Kooperationen sind mir wichtig gewesen und sind nie sehr geplant entstanden. Ich kann mich erinnern an das Newcastle Writers Festival. Ich war als Panel-Sprecher anwesend, habe Leute kennen gelernt bei den Lesungen und habe dann ganz spontan entschieden: „Leute, jetzt setzen wir uns zusammen und machen eine Sondernummer!“ Ähnlich auch bei der Graz 2003-Geschichte, im Kulturhauptstadtjahr: Das ist einfach entstanden, Kooperationen entstehen meistens direkt. Wenn man zuviel darüber nachdenkt, an wen man jetzt herantreten könnte, oder so, dann wird es eh zu kompliziert. Na ja, ich bin auch einfach einer, der emotional hergeht und sagt: „Das taugt mir! Machst mit?“

Rosenauer: Die Kooperationen haben bei dir also meistens angefangen dadurch, dass man jemanden wirklich persönlich getroffen hat? Weniger übers Netz, oder hast du solche Erfahrungen auch gemacht?

Ganglbauer: Die gibt es auch, natürlich gibt es die. Mit dem Herbert [Arlt] ist das zum Beispiel eine virtuelle Geschichte. Wir haben uns weder gekannt, noch sind wir einander vorgestellt worden, wir haben einander doch virtuell entdeckt, oder uns über die Interessen, die sich zum Teil decken, kennen gelernt und haben dann… Oder auch bei uns: Wir haben ja auch schon lang Kontakt, ohne dass wir uns getroffen haben.

Rosenauer: Ja, ja. Ich glaube, das hat mit dem Austausch von Links begonnen.

Ganglbauer: So war das einmal, ja.

Rosenauer: So nähert man sich dann. [lacht]

Ganglbauer: Und irgendwann passt’s dann und man trifft sich doch auf dieser Welt. [beide lachen]!

Rosenauer: Das heißt es passiert sowohl dadurch, dass man sich trifft, zum Beispiel bei einer Konferenz und merkt, wir machen da was gemeinsam, aber auch genauso der andere Weg: Man kennt sich schon lang übers Netz und …

Ganglbauer: … macht dann was gemeinsam. So ist es.

Rosenauer: Hast du auch gemeinsam mit Leuten etwas gemacht, die du nie persönlich getroffen hast?

Ganglbauer: Ja, schon. Die gangart zum Beispiel. Das Panel ist mir nie begegnet, das sind reine virtuelle Kontakte. Und es ist nicht unmöglich, dass man einmal zusammenkommt – ich meine, das ist wer aus Argentinien, und wenn ich einmal hinkomme, werde ich sicher anrufen, aber es ist jetzt nicht geplant, dass es irgendwann passiert. Also, beim Herbert war es so, dass klar war, wir werden uns dann auf der Konferenz treffen. Mit dem Panel, das sich für gangart zusammengefunden hat, ist es nicht geplant, dass wir uns… Es sei denn, es gibt in 10 Jahren irgendwann einmal so viel Geld, aus unerklärlichen Geldquellen, dass wir irgendwann eine reale Award-Ceremony machen und uns wirklich etwas in die Hand drücken. Alles ist möglich, aber es ist nicht Voraussetzung.

Rosenauer: Ist die Arbeitsatmosphäre – zum Beispiel mit dem Panel – dadurch irgendwie anders, als wenn man sich trifft und sieht, oder würdest du das nicht sagen?

Ganglbauer: Sie ist anders, sie… Das ist eine schwierige Frage. Also, es gibt viele Kontakte, die privat anders ablaufen würden, als virtuell. Privat würde man vielleicht ein bisschen steifer miteinander umgehen, virtuell, wo man sich nicht trifft oder sich nicht in die Augen schaut oder nicht diese kleinen Bewegungen der Gesichtsmuskeln wahrnimmt, ist man irgendwie… kommuniziert man einfach anders, das liegt in der Sache der Dinge. Man ist meistens vom Anfang an relativ informell, obwohl das auch von Land zu Land verschieden ist. IRL, auf Konferenzen oder so, ist das aber stärker, also weniger im angelsächsischen Raum, aber zum Beispiel in Italien… Im virtuellen Raum gibt es diese Unterschiedlichkeit weniger, es ist mehr Verbundenheit in der Unterschiedlichkeit. Dieses virtuelle ist eine Kultur, die einen immer wieder beschäftigt und immer wieder Vergnügen bereitet, manchmal ein bisschen ärgert, wenn man sich unverstanden oder missverstanden fühlt und dann versucht, nachzuvollziehen, warum man sich eigentlich missverstanden hat. In E-Groups kann das immer wieder passieren. Auch in der E-Mail-Kommunikation kann das passieren. Aber das sind halt so die Herausforderungen des virtuellen Lebens und das macht auch einen riesigen Spaß. Und solange man doch immer wieder vom Schirm wegkommt und ein reales Buch in die Hand nimmt und mit realen Leuten bei einem realen Bier sitzt, ist das ja auch alles in Ordnung.

Rosenauer: Sitzt du auch auf virtuelle Biere mit den Leuten?

Ganglbauer: Nicht wirklich gern. Ich mache es schon auch. Ich habe es immer wieder versucht, auch ganz am Anfang, als E-World geschlossen worden ist. Apple hatte so etwas wie America Online für die Macintosh-Community. Das wurde dann zugesperrt und dann haben sie freie Zeit hergeschenkt. Zuerst waren es, glaube ich, 14 Dollar pro Stunde und dann waren plötzlich 2 Tage gratis. Und was macht man natürlich? Man hängt sich – quasi mit den Zahnstochern in den Augen – in irgendwelche Chatrooms rein und hört sich jeden Schwachsinn an, der da abläuft. Ich entschuldige mich gleich bei allen Chatroom-Besuchern, weil dort natürlich nicht nur Schwachsinn abläuft.
Aber auch heute passiert mir das immer wieder im Zuge von irgendeinem Projekt, das ich mir vornehme oder das ich mir einfach „eintrete“ – manchmal nimmt man sich ja gar nichts vor und es passiert einem einfach, so wie mit den „Austrians Abroad“. Das ist mir eingefallen und ich habe mich natürlich in sämtlichen [virtuellen] Beisln herumgetrieben, die es da zu dem Thema gibt und treibe mich jetzt zum Teil noch immer da herum, weil es ist nicht unwitzig. Auch wenn man dann auf „no mail“ geht und sich nicht alles zuschicken lässt, damit man nicht zugekübelt wird mit E-Mails – es gibt Beisln, die haben ungefähr 1000 Kommunikationen im Monat. Aber wenn man das auf „no mail“ macht und sich da ab und zu reinsetzt und sich das anschaut, ist das Teil der Tools, die österreichische Seele zu ergründen.

Rosenauer: Kannst du eigentlich irgendetwas schätzen oder beziffern: Wie viele Stunden verbringst du im Schnitt am Tag mit dem ganzen gangan-Bereich plus weiteren Bereichen – so etwas wie Herumsurfen, um dich zu vernetzen oder in Online-Beisln herumhängen?

Ganglbauer: Das kann ich jetzt relativ genau sagen. Jetzt gehe ich einmal von einem normalen australischen Arbeitstag aus. Also, am Anfang habe ich noch die Wochenenden geopfert und mich verzettelt. Aber jetzt mache ich es relativ gepflegt. Ich gehe um 8 zum Büro, schalte die Kiste ein, bin vier Stunden dran, gehe mittagessen, hole mir die echte Post vom Postamt und arbeite am Nachmittag offline. Also: vier Stunden online pro Tag, vier Stunden offline pro Tag. Das ist jetzt mein Arbeitstag. Am Wochenende wird gar nicht eingeschaltet.

Rosenauer: Ah, ja – das klingt doch sehr menschlich. Aber ich nehme einmal an, es hat auch andere Zeiten gegeben.

Ganglbauer: Es hat andere Zeiten gegeben und es gibt immer wieder Ausnahmen. So wie zum Beispiel jetzt, wo ich in Graz bin und gerade diese neue Community aufbaue. Oder – sie wächst eigentlich eh fast von selbst, aber ich muss natürlich diese Sachen moderieren und da verbringe ich fast den ganzen Tag am Computer. Aber das ist nur eine vorübergehende Geschichte. Wenn sich das einläuft, ist alles wieder normal.

Rosenauer: Um einmal auf die „Gangway“ zu fokussieren, damit wir da eine Vergleichsmöglichkeit haben: Wie oft ist die Gangway umgezogen im Web? Wie oft habt ihr die Adresse wechseln müssen?

Ganglbauer: Einmal nur. Am Anfang, in den Urzeiten, als ein eigener Domainname noch etwas ganz Unbekanntes war, hat man so seinen Server gehabt, der hieß dann matra.com.au/lit-mag/ blablabla. Das macht man eine Zeitlang und dann professionalisiert man sich, und dann nimmt man sich seine eigene Domain. „gangway.net“ gibt es jetzt seit 96 oder so.

Rosenauer: Es war früh dran, es war von dem Moment an, glaube ich, als es überhaupt möglich war, eigene Domainnamen zu haben. Wie hast du das dann gemacht. Oder: Wie hast du das überhaupt gemacht, als du das erste Mal mit Sachen online gegangen bist? Hast du die reingestellt und dich drauf verlassen, dass Leute das finden, oder hast du da schon versucht, irgendwelche Werbe- oder Vernetzungsstrategien zu fahren?

Ganglbauer: Also in den Urzeiten des Internet war das ja noch eine schöne und relativ unschuldige Gemeinschaft. Da hat man sich ja noch gefreut, dass man eine E-Mail kriegt. Da war Spam noch irgendwie unbekannt. Da war die Verbreitung dieser URL – das war eigentlich nur meine Serveradresse, wo ich mich damals eingewählt habe und da gab es ein bisschen Privatspace dazu und da habe ich dann meine ersten Homepages… Ich weiß nicht, in Österreich sagt man, glaube ich, Homepage für Website?

Rosenauer: Im Prinzip ja. Es ist aber noch immer nicht ganz geklärt. Ich arbeite selber noch an einer Bezifferung. Die meisten sagen Homepage für Website.

Ganglbauer: OK. Da habe ich zumindest eine Website gehabt, aber das war eigentlich eine Homepage, privat. Ich würde sagen, eine Site hat man erst, wenn man sie unter irgendeine Domain stellt. Das ist vielleicht…

Rosenauer: Das klingt irgendwie praktikabel. Aber das heißt, du hast am ehesten durch direkte Mails Werbung gemacht.

Ganglbauer: Ja, durch Vernetzung. Jemand der erfährt, dass jemand online ist, kennt jemand, der auch schon einen kleinen E-Mail-Account hat, irgendwo, bei einer Firma oder so. Damals habe ich noch sehr viel Grafik gemacht. Da waren noch sehr viele Kunden, wo man sich Texte zum Korrekturlesen über E-Mail geschickt hat. Aber das war hauptsächlich noch nicht privat. Der Privatbereich war minimal und der Geschäftsbereich eher überwiegend. Ab 98 ist es, glaube ich, ein bisschen besser geworden. Und da habe ich dann noch eine Zeitlang relativ großzügig vierteljährliche News ausgeschickt und Adressen gesammelt. Bis man dann doch gemerkt hat, da gibt es noch Leute, die schon zu viele Mails haben und die das als lästig empfinden. Und es war mir immer wichtig, dass ich niemanden auf die Nerven falle. Also, dass ich nicht irgendjemanden, so, wie man das heute sagt, spamme bis zum Gehtnichtmehr. Da gibt es ja auch in Österreich Beispiele. Die geben einem einfach keine Ruhe…

Rosenauer: Ja, das ist oft schwierig so etwas wieder loszuwerden. Das heißt aber, auch wie du umgezogen bist, das war ja auch noch früh genug, hast du einfach die dir bekannten NutzerInnen über die neue Adresse informiert?

Ganglbauer: Ja, die bekannten NutzerInnen – mit dem großen I, nehme ich einmal an… Informieren war damals noch nicht so kompliziert. Man ist umgezogen, dann hat man endlich seine eigene Heimat gehabt, und die hat man dann beworben. Man hat sie bei den Suchmaschinen bekannt gegeben…

Rosenauer: Ah, die haben ja damals auch noch schnell und flexibel auf so etwas reagiert, sich darauf eingestellt.

Ganglbauer: Also, wenn man nach meinem Namen oder Gangway sucht, dann findet man…

Rosenauer: Alles.

Ganglbauer: Sofort ganz oben, das ist kein Problem.

Rosenauer: Zu etwas anderem, die Gangway betreffend: Wie hast du die AutorInnen ausgesucht, beziehungsweise, wie haben dich die gefunden, die in Gangway publizieren oder publiziert haben?

Ganglbauer: Das ist eine Kombination aus individuellen Kontakten und submissions. Wir haben immer wieder feste HerausgeberInnen oder TeilmitarbeiterInnen gehabt, die ihre AutorInnen zum Teil gekannt haben, zum Teil eingeladen haben, Beiträge zu schicken, zum Teil Beiträge lektoriert haben, die von unverlangten Einsendungen da waren. Und je nachdem ob es gerade zwei waren oder vier oder auch manchmal nur ich – ich war auf jeden Fall immer derjenige, der es machen hat müssen, wenn dann nicht die Andrea Bandhauer oder der Mike Markart, oder… Wenn Mitherausgeber mitgeholfen haben, dann war das willkommen, dann war das super. Wenn die keine Zeit gehabt haben, dann war es halt ich. Dann ist vielleicht einmal eine Nummer ein bisserl grantiger entstanden, ich habe viel mehr meiner eigenen Zeit investieren müssen. Aber im Grunde sind alle – aus einer Mischung von unverlangt und verlangt, eingeladen und… Es gibt ja so etwas wie eine Zurückhaltung unter den Autoren selbst. Die ist mir vor allem im deutschen Spachraum aufgefallen, und vor allem beim 2003-Projekt, das sich mit Graz beschäftigt hat… Auch in Copyright-Fragen hat es eine große Unsicherheit bei den Autoren oder Autorinnen gegeben, ob das Copyright jetzt im Internet-Bereich etwas anderes ist als im gedruckten Bereich, und da hat es unnötige Sorgen gegeben und da ist noch viel zu wenig Informationsarbeit betrieben worden. Selbstverständlich gilt das Copyright, egal wo, und wenn es von jemandem gebrochen wird, ist er genauso verantwortlich und strafbar, ob er das jetzt im Internet macht, oder aus einem Buch herauskopiert. Das ist die eine Sache. Die andere Sache ist die Verbreitung und die Erreichbarkeit. Manche Autoren sprechen von Teilöffentlichkeit, wenn sie online veröffentlichen und sehen das nicht (mit quotation-marks drumherum) als „ordentliche“ Veröffentlichung. Sehen es aber sehr wohl als ordentliche Veröffentlichung, wenn etwas in irgendeiner depperten Boulevardzeitung erscheint, nur weil es dann auf Papier gedruckt ist. Da gibt es noch gefühlsmäßige Unterschiede. Andere, und das sind vor allem die aus dem englischsprachigen Bereich, sind schon aus den Kinderschuhen herausgetreten und sehen das sehr wohl als Motor, als Tool für ihre eigene Karriere. Eine Online-Veröffentlichung eines Autors kann sehr wohl einen Lektor von einem Verlag, einen Redakteur von einer Zeitschrift, einem Herausgeber, der Material sucht, auffallen und dann – auf Umwegen – ergibt sich im Idealfall eine Publikation – wie es auch mit einigen Sachen passiert ist, die wir veröffentlicht haben. Wir haben Autoren veröffentlicht, die sind dann bei Penguin publiziert worden, das war ein schöner Erfolg.

Rosenauer: Ich weiß nicht, aus dem deutschsprachigen Bereich, war da nicht auch ein Beispiel der Anant Kumar? Habt ihr den nicht auch zuerst veröffentlicht?

Ganglbauer: Den Anant Kumar haben wir publiziert, aber ich weiß nicht, wo ihn der Verlag gefunden hat. Anant ist auch einer der Autoren, die selber sehr viel und sehr aktiv arbeiten, er ist auch ein Autor, der eine eigene Homepage betreibt. Es kann sein, dass wir ihn zuerst veröffentlicht haben, Mitte der 90er, und ich glaube, er hat seine Homepage erst ein bisschen später gemacht. Auf jeden Fall ist das ein Fall, wo das sich sehr gut miteinander verbindet, die Online- und die Papierpräsenz.
Aber auch andere Sachen. Ich habe einen Text von der Ingeborg Bachmann veröffentlicht, der ist von einem englischen Musikverlag entdeckt worden und ist jetzt in einer Partitur. Oder ein Autor, den wir veröffentlicht haben, ist nach Berlin eingeladen worden zur Schreibwerkstatt, oder solche Sachen. So etwas passiert immer wieder, dass eine Online-Publikation eben doch weitere Folgen hat, außer, dass sie, was das ursprüngliche ist, eine Kommunikation eines Textes ist, der einen Leser findet, direkt, oder zumindest in dem Leser dann auch die Lust entfacht, von diesem Autor, von dieser Autorin dann ein Buch oder ein gedrucktes Werk zu erwerben.

Rosenauer: Wie schaut denn das aus, auch mit dem Verhältnis Buch und elektronisches Medium? Hast du manchmal die Lust, Bücher, etwas wie ein „Best of“ der in Gangway erschienenen Texte, quasi parallel gedruckt zu publizieren?

Ganglbauer: Ich werde immer wieder danach gefragt, irgendwann lüstet es mich dann eh wieder. Aber es scheitert meistens am Wirtschaftlichen. Eine Buchpublikation ist einfach ein wesentlich teureres Hobby als eine Online-Publikation. Aber wie ich eingangs einmal gesagt habe: ich bin zwar gut am projekteln und erfinden, aber nicht am Geld dafür auftreiben, also…

Rosenauer: Also eher nicht?

Ganglbauer: Na, ich will das auch nicht ausschließen. Es gibt schon Sachen, wo ich mir denke, das hat wirklich Qualität. Also, der Qualitätsanspruch ist schon allen meinen Produkten eigen. Aber so, dass ich mir denke, das könnte man eigentlich auf traditionelle Art anbieten. Also – es ist nicht ganz ausgeschlossen, aber es ist unwahrscheinlich, aus wirtschaftlichen Gründen. Und vor allem weiß nicht einmal so genau, wo ich mein Leben oder wie ich mein Leben weiterführe.

Rosenauer: Alles ist offen…

Ganglbauer: …na ja, eine pazifische Insel vielleicht nicht. [beide lachen]

Rosenauer: Siehst du dein Web-Projekt eigentlich auch ein bisschen als Spielwiese für das Experimentieren mit künstlerisch-ästhetischen Darstellungsformen? Wir haben uns vorher vor allem über das Technische unterhalten. Ist das zusätzlich ein Anliegen, oder geht es da vor allem darum, schöne und lesbare Seiten ohne…?

Ganglbauer: Am Anfang, als das Medium noch relativ unbekannt war, hat man einfach einen linearen Text genommen und den linear dargestellt.

Rosenauer: Das war dann vor allem für bessere Erreichbarkeit und den Wegfall von Distribution.

Ganglbauer: Genau. So ist es zum Teil auch heute noch. Die meisten Autoren denken linear und denken in Papieren und schreiben nicht notwendigerweise fürs Web. Es gibt einige Ansätze und einige Hypertextarbeiten oder auch andere interaktive Geschichten, die auch zum Teil nur auf CD-ROM laufen oder zum Teil über das Web, wo schon Grenzübergänge passieren. Da gibt es auch Preise dafür, die ars electronica in Linz ist da zum Beispiel ein ganz interessantes Forum. Ich habe ziemlich früh schon Leute aufgefordert, OK, ich weiß, ihr denkt linear, aber versucht, etwas einzubauen, dass man Ebenen verwenden kann, dass man Grafiken verwenden kann, dass etwas passieren kann auf dem oder in dem Text. Das ist sehr, sehr zögernd angenommen worden. Ich habe einige Sachen veröffentlicht, die ein bisschen verschachtelt waren. Das hängt auch von der Technologie ab, von der Bedienung der Medien. Wenn jemand eine Schreibmaschine bedienen kann, heißt das noch nicht, dass er das Gefühl oder die Lust hat, sich in einem neuen Medium auszudrücken.

Rosenauer: Also das heißt, das ist eher doch eine schwankende bis nicht sehr große Akzeptanz?

Ganglbauer: Gott sei Dank ist es am Aussterben, dass die Leute mit ihren handgeschriebenen Manuskripten kommen und sagen, das ist jetzt mein Buch. Oder später auch maschingeschriebenen Manuskripten, die man dann halt auch nur mühsam einscannen konnte. Ich würde sagen, die Produktion passiert eh schon zu 95 Prozent digital. Aber halt linear-digital und mit Microsoft Word und so, und da ist man eh schon zufrieden, wenn da keine harten Zeilenumbrüche drinnen sind.

Rosenauer: Nach deinen Erfahrungen ist doch nach wie vor eine ziemliche Trennung in Autor, der was schreibt, und dem Verleger, sei es auch ein Online-Verleger, der dann den Text entsprechend aufbereitet, damit er an den Leser kommt? Egal ob das jetzt bei elektronischen Publikationen passiert oder bei Printpublikationen?

Ganglbauer: Das stimmt. Dazu kommt natürlich auch noch die Generationenfrage. Ich bin – mit ein bisserl über vierzig – in der Mitte, wo ich zwar an den Anfängen der Entwicklungen der Computertechnologie irgendwie noch mitgeschwemmt worden bin, aber wo ich nicht mehr aufwachse mit dem Handy schon als Zehnjähriger und mit dem Gameboy ab dem Volksschulzeitalter. Die neue Generation hat einen völlig anderen Zugang, die weiß zum Teil gar nicht, wie das ist, zu Fuß zu gehen, weil man überall von den Eltern hingeführt wird. Oder… Die Welt verändert sich ganz stark. Und die Kids haben ihre Homepage schon irgendwann mit 14 und machen sich ihre Blogs und suchen sich ihre Freunde virtuell und verbringen meines Erachtens schon fast zu viel Zeit am PC. Was dabei herauskommt, ist, dass die Jungen zum Teil schon interaktive, schon animierte oder Flash- oder irgendwelche Macromedia-Sachen machen, die die ältere Generation, also die 40+, noch gar nicht kennt, oder technisch gar nicht dazu in der Lage ist, sich das zu machen. Sofern ihm überhaupt die Ideen kommen oder diese multimedialen Geschichten nahe liegen. Der Autor ist halt immer noch einer, der im Elfenbeinturm sitzt, traditionellerweise, mit seiner Schreibmaschine, mit seiner Remington, und vor sich hinklopft. Aber selbst, wenn es die Leute, die älteren Leute, gäbe, die versuchen, multimedial zu denken: Es tut sich nicht wirklich, die tun sich das nicht an. Erstens einmal kostet die Software ordentlich viel, wenn man sie nicht irgendwie raubkopiert, und dann – es gibt da Einschränkungen, sodass man das nicht tut, dass man nach wie vor lineare Texte schreibt.

Rosenauer: Wie würdest du überhaupt die Qualitäten sehen, die gedruckte Medien haben und die, die elektronische Medien haben. Was wären da für dich prinzipielle Unterschiede oder Parallelitäten, Vergleichsmöglichkeiten?

Ganglbauer: Ich sehe das sehr parallel. Es gibt so viel gedruckten Schwachsinn und es gibt genauso viel – oder vielleicht ein bisserl mehr – Online-Schwachsinn. Das ist etwas Menschliches und keine Frage des Mediums. Die Kleinverlagsszene und auch die größeren machen ja auch Schwachsinn. Vielleicht, weil es einfacher ist, eine Webseite zu kreieren, gibt es vielleicht ein bisschen mehr Schwachsinn im World Wide Web als in gedruckter Form. Aber das zu quantifizieren ist schwierig. Aber wenn man sich in einer Buchhandlung oder an einem Zeitschriftenstand ein paar Magazine anschaut, ist es nicht so leicht, zu entscheiden, was Schwachsinn ist. Vielleicht ist das jetzt ein überheblicher Begriff. Aber es ist immer die Frage, was jemand als qualitätsvoll bezeichnet. Aber jeder kann sich entscheiden, ob er das Magazin kauft. Genauso kann sich jeder entscheiden, selbst, wenn er auf eine Seite geführt wird und sofort sieht, das ist a waste of time, dann geht man halt wieder. Das kostet auch nichts mehr, vielleicht 30 Sekunden Zeit, aber das Web ist auch voller hochwertiger Sachen. Und wenn man sie findet – es ist halt immer die Frage, wer einem die Seiten empfiehlt. Ob man sich zum Beispiel Google so einstellt, dass man zu vernünftigen Ergebnissen kommt, oder ob man halt einfach herumklickt und Zeit verschwendet und relativ ziellos surft. Die Information ist da, das World Wide Web ist ein herrliches Lager an tollen Sachen. Es ist alles da, selbst wenn es noch nicht da ist, wird es gemacht. Bibliotheken sind dabei ihre Bestände zu digitalisieren – von der Nationalbibliothek in Wien angefangen bis zur Nationalbibliothek in Canberra – alles da, alles findbar, nur die Prozesse, zur richtigen Information in einer vernünftigen Zeit zu kommen, werden schwieriger. Da müssen die Softwareentwickler noch ein paar Sachen ein bisserl besser machen, userfreundlicher.

Rosenauer: Um das gleich praktisch zu illustrieren: Welche Literaturmedien oder Websites wären für dich Positivbeispiele und warum. Hast du da irgendwelche Favoriten, außer natürlich den eigenen Seiten, dass man die mag, ist natürlich klar [lacht]?

Ganglbauer: Ich mache mich ungern zum Kritiker. Ich habe relativ umfangreiche Linklisten.

Rosenauer: Oder wenn du es eher allgemein sagst: Was wäre ein Punkt, sagen wir, wenn du auf eine neue Website kommst, dass du gleich – zumindest 10 Minuten draufbleibst oder was würde dich dazu bringen, dass du gleich wieder wegklickst?

Ganglbauer: Es kommt aufs Profil des Users an. Es gibt Leute, die waren noch nie irgendwo mit ihrem Computer, die haben ihn zwar schon zu Hause stehen, aber sie wissen nicht einmal, was sie installiert haben und greifen gar nichts an. Es gibt andere, die täglich daran sitzen, allein schon, um ihre Bankgeschäfte und ihre Kommunikation und ihre Bestellungen und Fluchbuchungen zu machen. Die wissen eigentlich eh, was man damit macht und sind vielleicht nicht notwendigerweise die, die dann auch Freizeit damit verbringen. Und da gibt es unterschiedlichste Auffassungen und Bedürfnisse. Die einen möchten visuell stimuliert werden und die anderen möchten etwas lesen, was ihnen gefällt, die anderen möchten einfach nur Blödsinn machen, Spaß haben, herumklopfen und je mehr Animiertes herumhüpft, desto besser. Da jemandem eine Empfehlungsliste zu geben, die allgemeingültig ist, ist unmöglich. Es gibt eine Reihe von sehr guten Informationsquellen oder Linklisten, und das hängt von jedem selber ab, da möchte ich keine Empfehlungen geben.

Rosenauer: Und was macht für dich prinzipiell ein Medium uninteressant? Wo du gleich den Back-Button drückst oder so?

Ganglbauer: Das ist bei mir schwierig, weil ich ja ein starkes berufliches Interesse habe. Ich schaue mir auch schwierige Seiten besser an als andere, die wahrscheinlich gleich den Back-Button klicken würden. Und verstehe manchmal, warum jemand die Seite so kompliziert aufgebaut hat oder so hässlich oder mit so viel Grafik oder so viel Beweihräucherung – es gibt ja eine Reihe von Dingen, die einen abturnen. Wenn man es selber macht, dann schaut man sich halt an, was die anderen schlecht machen oder gut machen, und wie man es selber so macht, wie man sich vorstellt, dass es sein sollte.

Rosenauer: Schon die letzte oder vorletzte Frage: Du hast schon gesagt, dass ihr archiviert werdet, sowohl in Australien als auch in Österreich. Unternimmst du auch selber etwas zur Archivierung. Beziehungsweise – wie hast du es gehalten, bevor es diese Archivierungsprojekte gab, die sind ja um einiges jünger als dein Projekt?

Ganglbauer: Ich habe quasi die ganze Entwicklung des Computerzeitalters miterlebt – von den ersten Syquest-44 Megabyte-Cartridges, die noch sauteuer waren und herumgerumpelt haben. Ich weiß nicht, wie viele Dinge ich da schon gekauft habe, um etwas darauf zu spielen, Backup zu machen. Jetzt vertraue ich den Servern schon so weit, dass ich gar kein Backup mehr mache. Die „Gangan“ ist auf der Nationalbibliothek und die „Gangway“ ist in Canberra, auf der ANB. Meine eigenen Sachen, meine Arbeit, brenne ich manchmal auf eine CD-ROM, manchmal lasse ich sie einfach auf der Hardware, denn ich kenne mich mit Computern sehr gut aus und ich habe eigentlich nie ein technisches Problem gehabt. Ich verwende Macintosh und nichts anderes. Ich kann auf einer DOSe arbeiten, wenn ich muss, aber eben nur, wenn ich muss. Ich habe verschiedenste Archive – von 44-MB-Cartridges, von 135-MB-Cartridges, von 1-Gigabyte.

Rosenauer: Du hast das alles brav aufgehoben?

Ganglbauer: Alles brav aufgehoben, alles brav gekauft. Das hängt davon ab, ob die alten Laufwerke noch funktionieren.

Rosenauer: Du hast dir also sogar die alte Hardware aufgehoben?

Ganglbauer: Ja, die steht in einem Kammerl.

Rosenauer: Wow!

Ganglbauer: Aber natürlich gibt es da Kompatibilitätsprobleme und es ist ein Desaster mit der Archivierung von Sachen. Ich habe zum Beispiel jetzt nicht einmal mehr ein Floppy-Disk-Laufwerk in meiner Maschine. Dafür habe ich jetzt so einen kleinen Schlüsselanhänger, einen USB-Stick.

Rosenauer: Ja, den will ich mir auch unbedingt kaufen! Aber bevor uns hier alles zu sehr entgleitet, noch zum letzten Thema: Welches Thema, das ich in dem Interview noch nicht angesprochen habe, ist dir noch ein Anliegen? Habe ich irgendeine Frage nicht gestellt, die du gern gestellt bekommen hättest?

Ganglbauer: Nein, ich habe das Gefühl, es war eine recht gute Abrundung dieser Fragen nach dem World Wide Web, nach dem Sinn des World Wide Web, nach der Literaturvermittlung am Web, nach den Vergleichen mit den Printmedien, nach den Fragen nach der Qualität, nach persönlichen Erfahrungen, nach Empfehlungen – also, ich glaube, da war schon alles dabei.

Rosenauer: Na super, dann dürfen wir Kaffee trinken!

Tarek Eltayeb

Lit-Mag #38 – (Not) at home in Vienna

Drei Gedichte

Falscher Glanz

All diese glänzende Pracht,
die du hier siehst,
kann bedeuten,
dass man sich die Luster
von anderswo geholt
und sie nie zurückgegeben hat.

Wien, Amerlinghaus, 22.06.2005

Gedanken von links nach rechts

Sie hatte unterwegs Mühe,
ihre Gedanken mit sich zu schleppen.
Ich nahm sie ihr ab
und begleitete sie bis an ihr Ziel.
Sie bedankte sich
und schenkte mir einen ihrer Gedanken.
Dieser lief von links nach rechts.

Ich mühe mich noch immer ab,
ihn von rechts nach links laufen zu lassen.

Café Westend, 21.06.2005

Ein Geschenk

Wäre das nicht ein wunderbares,
ein unerwartetes Geschenk
zu Tagesbeginn,
wenn der Nachbar,
der auf der Treppe
an dir vorbeiläuft,
trotz seiner Eile
ganz spontan
das Schweigen der Welt brechen
und es
– auch wenn nur knapp und ohne ein Lächeln –
sagen würde?

„Morgen“

Wien, 05.07.2003

Ian C. Smith

Lit-Mag #38 – (Not) at home in Vienna

Non-Fiction

I have visited the disease of Alzheimer’s
where flickering shadows softly come and go.
The patient’s repeated mantra
her look of worry and displeasure
pierced me, lone pleas breaking
from the soporific jetstream of a mind
jarring me into thinking of what I am
what I might have been and done
and where we all might go.

In panic I ran wide in the human race.
Of a loveless tribe, I missed the start
moonwalking through indifferent space
outpaced, pretending nothing mattered.
Then I found solace, blanching at emotion
losing myself in words that shield my heart.
I think I was appalled by the commotion
of everybody’s devout scramble
to mount the victory dais of happiness.

If not for the attraction of rhymers
I might slavishly praise grandchildren
named for places and famous faces
could have trained in tomfoolery
memorised television buffoonery
caressed a cell phone like a tiny pet
developed an addiction to trends
even kept a diary with end pages
boasting alphabetical lists of safe friends.

Now, in seclusion, I turn to my books
though silverfish dismay, and silence
to guide me to the finishing line.

Thilo Bachmann

Lit-Mag #38 – (Not) at home in Vienna

Das veränderte Stadtbild

Es ist das Jahr 2025. Filo Schwachmann, ein erfolgreicher Leiter einer bekannten Firma, ein gebürtiger Wiener fährt täglich mit dem Öffi in die Arbeit. Die ewige Parkplatzsucherei ist ihm zuwider, zeitraubend.

An diesem Tage sitzt er wie üblich in einer der U-Bahnen und beobachtet verdrießlich wie einige der Fahrgäste mit großem Interesse die frisch gekaufte Kronenzeitung lesen. „Was die Leser nur an diesem wertlosen Inhalt finden“, sagt er leise zu sich, sein Mund verzieht sich dabei verächtlich.

Er ist ein eifriger Anhänger der Boulevardzeitung Augustin und kauft regelmäßig diese Zeitung, einmal schrieb er selbst einen provokanten Artikel für den „Augustin“. Filo Schwachmann verdient gut, besitzt eine Eigentumswohnung in Hernals. Er hat sich von seiner Frau getrennt.

Da bekommt er mit der Post ein Schreiben von Kanada, und zwar ein verlockendes Angebot mit sehr gutem Gehalt. Es sind nur gute Englischkenntnisse erforderlich und eine berufliche Bindung auf 10 Jahre. Da er Englisch so gut wie seine Muttersprache beherrscht, noch nie in Kanada war und sonst ungebunden ist, nimmt er das Angebot an. Er ist etwa 34 Jahre alt, gesund und rüstig. Seine Eigentumswohnung vermietet er.

Zehn Jahr danach. Er kehrt nach Wien zurück. In einem der städtischen Busse will er eine Fahrkarte lösen, aber der Fahrer lächelt und meint: „Sie sind wohl nicht von hier, bei uns ist das Benutzen der Öffis seit 6 Jahren umsonst.“ Mr. Schwachmann sieht ihn erstaunt an, sagt aber nichts. Filo beobachtet den Autoverkehr, der ihm reichlich gering vorkommt, er kann sich noch an Autokolonnen erinnern. „Ja“, fährt der Fahrer fort zu plaudern, „ich bin froh, dass sich die Zahl der Autos in Wien um mehr als um 70% verringert hat und die Autofahrer Wien umfahren können. Seit 5 Jahren haben die Grünen in Wien das Sagen und da hat sich einiges geändert. Es gibt zwar noch die Beserlparks, aber die Umzäunungen wurden entfernt, die Türen zum Absperren während der Nacht abmontiert, kein Baum wird mehr unnütz geschlägert.“

Filo verläßt den Autobus und steigt in eine U-Bahn um, es ist die U3. Bei der Haltestelle Volkstheater nähert er sich einem Augustinverkäufer, um ihm eine Zeitung abzukaufen. Der Verkäufer kommt ihm irgendwie bekannt vor, er gibt ihm das Geld dafür und bekommt eine Ausgabe, es ist der erste Augustin seit 10 Jahren, den er jetzt durchlesen will. Er setzt sich auf einen Sitz bei der U3-Haltestelle. Er liest begierig, seine Augen weiten sich: „Ist es möglich oder brauche ich eine Brille?“ murmelt er zu sich. „Jetzt schreiben’s aber einen Schmäh. Alle Bezirksvorsteher sind Grüne. Und der jetzige Bürgermeister ist ein ehemaliger Obdachloser. Die Sozialministerin, die im Parlament große Reden schwingt, war früher, vor 10 Jahren, eine obdachlose Augustinverkäuferin.“

Filo Schwachmann schüttelt verwirrt den Kopf. Er liest weiter: „Der grüne Finanzminister lebe hoch, wir haben so niedrige Steuern wie noch nie, die Arbeitslosenrate liegt bei 0.1 %, es gibt seit 5 Jahren keinen Innenminister und demnach auch keine Fremdenpolizei mehr und keinen Fremdenhaß, denn die nicht deutschsprachigen Bewohner des Landes haben gelernt sich anzupassen und bemühen sich nicht nur um möglichst viel Deutschkenntnisse, sondern sie haben sich ein eindrucksvolles Wissen über unsere Geschichte, Literatur und Musik angeeignet.“

Er geht zu dem Augustinverkäufer zurück und fragt ihn: „Haben Sie das da schon gelesen?“

Der Verkäufer, der recht verwahrlost aussieht, sagt grimmig: „Jawohl, das habe ich und es ist alles wahr, was darin steht – oder wollen Sie sich über mich lustig machen? Es gibt nicht mehr das Wort Asylantenheim oder Asylanten, nur Heim für Schutzsuchende, Bedürftige; auch die Amtssprache ist geändert, statt Staatsanwalt, Advokat oder Rechtsanwalt sagt man Ankläger und Mundwalt. Aber wozu erzähle ich ihnen das? Können Sie nicht lesen?“

„Schon, aber das ist alles neu für mich. Ich werde mir mal die Kronenzeitung und den Kurier kaufen und bin neugierig, was die dazu schreiben.“ Der Verkäufer erwidert zähneknirschend: „Sie machen Witze. Sie wissen genau so wie ich, dass es die zwei Zeitungen schon seit 5 Jahren nimmer gibt. Ich weiß von keiner Kronenzeitung, ich kenne nur den Augustin, den ich jetzt verkaufen muß und Sie halten mich nur auf. Der Augustin hat bereits eine Riesenauflage.“ Der Verkäufer wendet sich ab.

Filo ist noch immer ungläubig und liest weiter in der Zeitung; „Ja“, schreibt ein grüner Autor, „es hat sich für immer ausgekronenzeitungt und -kuriert. Der Augustin hat vor 5 Jahren die Kronenzeitung, den Kurier und die Presse locker aus dem Felde geschlagen. Alle drei Zeitungen machten Konkurs, sie bekamen keine Aufträge und hatten keine Leser mehr.
Während der Augustin seine Auflage von 2 Millionen auf 4,5 Millionen Stück im Jahre 2015 zu erhöhen vermochte. Keine andere Zeitung konnte mit dem Augustin mithalten. Er ist in Wien die Zeitung Nr.1. Natürlich mußte der Augustin um ein Vielfaches mehr Mitarbeiter einstellen. Wir haben jetzt etwa 20 000 Verkäufer, unter ihnen eine Menge ehemaliger Politiker, Außenminister, Bürgermeister. Frühere Obdachlose sind heute Politiker, aber sie benützen die Öffis wie alle Bürger. Der Augustin wird noch lange seinen Siegeszug fortsetzen und kann zuversichtlich in die Zukunft blicken.“

Filo Schwachmann weiß jetzt woher er diesen Verkäufer kennt, er war vor vielen Jahren ein Bezirksvorsteher, den er einmal persönlich aufgesucht und gesprochen hatte. Er will ihn aber keinesfalls deswegen noch einmal anreden. Filo freut sich, dass die Wiener endlich eingesehen haben, dass die althergebrachten Zeitungen nur schädlichen Einfluß auf jeden ausüben und seine Wunschziele erreicht waren. „Jetzt lohnt es sich für mich hier zu verbleiben, das Blatt hat sich zugunsten der vormals Benachteiligten gewendet. Es lebe der Augustin!“

Anant Kumar

Lit-Mag #38 – (Not) at home in Vienna

Fahrt in den Schnee

Heute ist der 2. Februar, und der EC 29 Joseph Haydn rast durch den Schnee zum Westbahnhof Wien. Ich bin in Frankfurt eingestiegen, und ich fahre mit dieser, der schnellsten Verbindung, nach Passau, um heute abend in der Evangelischen Studentengemeinde eine Lesung zu halten.

Märchenhafter Blick

Es hat aus vollem Herzen geschneit, und es liegen endlose Schneeteppiche, deren Jungfernhäutchen kein Menschenfuß zu zerstören weiß. Darauf knallt die Indiensonne hemmungslos ihre gelben Strahlen, und das Kreideweiß scheint fröhlich zu erwachen. Es ist, als küsste die Muse ihren Geliebten wach. Immer wieder tauchen Kiefernwälder auf. Im Schnee gebadet, schweigen sie glücklich und schütten ihren Segen auf das liebkosende Paar: Auf den Schnee und auf die Sonne.

Ein märchenhafter Blick aus dem Bilderbuch!

Süddeutsch

Es ist Freitag Nachmittag, und die Züge sind voll. Mit viel Glück habe ich jedoch wieder einen Sitzplatz. Mit jedem Bahnhof werden wir süddeutscher. Auffallend schnell ist der Personalwechsel. Und damit werden die Fahrscheine ständig kontrolliert. Der letzte Kontrolleur spricht höflich Wienerisch, und bei seiner österreichisch-genauen Kontrolle erwischt er einen Fahrgast ohne EC-Zuschlag: Eine ältere Dame, ausgerechnet die einzige Wienerin in unserem Abteil. Ein wenig in Verlegenheit geraten, versucht sie sich zu rechtfertigen. Die beiden Netten unterhalten sich in ihrer Muttersprache.

Im Gang spielen johlend zwei Kinder. Ein farbiger Junge neckt ein blondes Kind, wahrscheinlich sein Halbbrüderchen.

„Möchten Sie in Österreichischen Schilling bezahlen – oder in DM?“ Der Schaffner ist mit seinem Gerät zurückgekehrt. „Ich denke, dass ich noch DM habe“, legt die Wienerin dem Wiener den Zehnmarkschein kurz vor der Grenze vor. „Ich bedanke mich bei der gnädigen Frau“, dankt der Wiener übertrieben höflich seiner Landsfrau. Wir fühlen uns in die alten deutschen Filme versetzt und grinsen gleichzeitig, die Gnädige eingeschlossen.

Die Passauer Orgel

„In Passau hat es dieses Jahr viel geschneit“, teilt mir der Herr Pastor beim Abholen mit. „Sonst haben wir eher wenig Schnee, weil Passau niedrig im Tal liegt.“ Die Schneeflocken rieseln weiter, und die schönen Gassen werden immer matschiger. Ich entscheide mich, auf die Stadtbesichtigung zu verzichten, und stattdessen lasse ich mir ein wenig über Passau erzählen. Die Anekdote über die Passauer Orgel, die mir schon im Zug eine junge Gärtnerin aus Passau erzählt hat, wird vom Herrn Pastor bestätigt. Die größte Orgel der Welt befindet sich im Passauer Dom, und es wird darauf noch gespielt.

Aufgewühltes Herz

Am darauffolgenden Tag kehre ich ebenso zufälliger- wie auch interessanterweise mit dem gleichen EC Joseph Haydn nach Kassel zurück. Passau liegt in Deutschland an der Grenze zu Österreich. Gegen meine Erwartung kontrolliert die österreichische Polizei Personalausweise. Mein Reisepass liegt in der Schublade in Sandershausen. Da ich mich in der Bundesrepublik Deutschland befinde, bilde ich mir ein, dass die anderen Dokumente –  Studienbescheinigung, Versicherungskarten, Kreditkarten, Mitgliederausweis – genügen. Nein, die österreichische Polizei arbeitet korrekt und möchte mich erst mal mitnehmen. Als letzten Versuch zeige ich dem Staatsdiener die neuesten Presse-Kritiken und die Einladung nach Passau und schaffe es, mich von den Krallen des Staates zu befreien.

Mein Herz ist ein wenig aufgewühlt, und ich lasse mich in ein Buch versinken. Die Reiselektüre ist ein praktisches, tragbares Reclambändchen mit dem Titel „Das kalte Herz von Wilhelm Hauff“.

Die Trauer

Gestern Nacht hat es weiter geschneit. Der Schneeteppich ist dicker geworden, und die Landschaft sieht karg und still aus. Vor mir sitzt eine junge Frau mit glasklaren blauen Augen. Sie sind traurig und werden immer wieder glasig. Die Frau schaut zum Fenster hinaus in die Schneelandschaft, die heute anders ist als gestern. Der Schnee ist noch weißer geworden, aber es fehlt ihm seine Muse: Die Sonne mit ihren animierenden Liebesstrahlen. Es ist die Vorstufe des Grauwerdens. Die Natur scheint heute mit zu trauern. Erlebe ich vielleicht gerade die Trennung zweier Liebespaare?

In Kassel hat es übers Wochenende auch viel geschneit, und am Montag sind die Menschen, einschließlich mir, verärgert über das Ende der Kälte und des Schnees: „Mich irritiert es, dass es immer wieder in diesem Winter warm wird“, äußert Marc. „Aber dieses Jahr hat es soviel in Kassel geschneit, wie in den letzten zehn Jahren nicht mehr…“ fügt Marc hinzu.

Zusammen mit Marc hatte ich in Kassel studiert, und er wird den nächsten Winter als Lektor für die deutsche Sprache im Vereinigten Königreich verbringen. 

Der vorliegende Text erschien in: Anant Kumar: Die galoppierende Kuhherde – Essays, Wiesenburg Verlag, Schweinfurt 2002, S. 15-20.

Frank Milautzcki

Lit-Mag #38 – (Not) at home in Vienna

Drei Gedichte

Was stirbt sonntags vorzugsweise

Das Einerlei zu spreizen braucht es Keile.
Zwei Tüten Chips zercrunchen eine Sonntagslangeweile.
Was die Spiranten im Palast zermahlen,
ist mürbe ohnehin und steht in fahlen
Kinofluren aufgewühlt und übrig, konsonant.
Träume gaben sie als virenfreies Pfand.
In den Hallen sind Neurosen an Traversen angehängt,
in kleinen Dosen, eingeweckte Bildsignale,
die den Weg erklären. Wie eine Kathedrale
ist der ganze Raum mit einzelnen Gebeten vollgedrängt,
die niemand hört und selbst die Sprache nicht mehr kennen.
Sie können sich in Plüsch und Marmor heiß verrennen.
Mit Muskelspiel und Knalleffekten bläht das Zelluloid
und flammt und heil entsteigt dem Flächenbrand ein Android.
Dann tropfen müde Augenpaare zum Chillen an die Bar.
Und andre stehlen sich dorthin, wo niemals Kino war.

April 2007

Spontan und elastisch

Spontan und elastisch, eher ein Fisch als eine Laune
diese Piste Existenz, ein Hymen oder ein Pfand
der Verheißungen von Gold und Alraune,
ein Geschenk aus der Hand von pulverisierten Enzymen.
Aus der Hand in die Hand. Springt
überall hinein, in Bett und Badewannen,
in klischeegetauchte, hemmungslose, antrainierte Körperspiele
rubbeldizupp und schwuppdiwupp kürzt das ab, Zauberland
unter sonderangebotenen, plastikgrünen Weihnachtstannen,
und nagelt sich an gut zentrierte, diplomierte Lebensziele.
Macht überall geilen Sinn und Paradiese erreichbar,
es lächeln blank und weiß Momente, auch intime
und lächeln so und grinsen laut, ein jedes Lebensinselchen
starrt als  Maske der kaum traurigen Ungetüme.
Glitzernde Mache.
Überall Licht. Überall Musik.
Und ein rosiger Tanz. Und Hans spielt die Luft-
gitarre. Überall Liebesjagd mit und ohne
Knarre und der Drache
der Melancholie wie ein Fluch in den Ecken.
Im kapitalen Gewebe versteckt: Stille, die angstvoll
erlebte Pause. Und in ihr zu entdecken: eine alte
Befreiung – Melancholie, sie quillt ins Verhallte,
mit dem Druck aus dem ethischen Verdrecken.
Heimlich wissen wir weiter, nur heimlich wissen wir
weiter
was wir brauchen, was uns fehlt. Weiter!
Unverstellte Traurigkeiten, Demut, auf deren Leiter
man das einheitsgraue Ich zerquält.
Der Dreck ist so wahr wie die Erde – und Hans guckt in die Luft –
und Melancholie ihre ernste Beschwerde – am Hänschen flimmerts vorbei –
um uns im Leben den richtigen, zeitlosen Anker – und Hans nimmermehr –
mitzugeben, uns, unterwegs wie schwankende Tanker. Immermehr.

Bitter sehr.

April 2007/ 19.02.2008

Juniabend, asphaltierte Bereiche

Du glaubst du stellst fest,
aber es ist nur ein Sehen alter Kreise hier
über dem Schlieren des Anthrazits der Lagerflächen.
Es krabbelt das Denken wie ein ramponierter Käfer,
der aus den Bigbags weiß bestäubt hervorbricht, entlang
der möglichen und werdenden Kanten der Zeit und
ist eine schrammende Pinselspur im Paynesgrau des
Nichtda. Ein feiner Abendton macht Bangen zart
und über alle Himmel weit, Vogelpunkte, dunkle Simulacren
singen von grauen Betonstürzen querab in ein verebbendes
Fieber. Das nicht mehr Sagbare bin ich und krieche.
Es genügt nicht still zu sein.
Es fehlt das grüne Gras im Nacken.
Es fehlt etwas Wind, der die Mauser
begleitet. Das dumme Wort Ich ist eine Bratpfanne.
Der ramponierte Käfer huscht weg
in den Schatten, als ein metallbeschürzter Schuh
den Weg zu meiner Bank beschlürft und mich fragt
wie lange ich noch Pause mache, die Maschine sei
leer, drin in der wichtigen  Halle, und ich höre
die Tröte monoton durch das schwere Geräusche-
meer wellen und zerspellen. Ich bin schon da, sage
ich und was mimisch so aussieht wie ein
Käfergesicht im Halbdunkel
verpeilt. Etwas huscht.
Weg in den Schatten.

20.06.2008

Jana A. Czipin

Lit-Mag #38 – (Not) at home in Vienna

Wiener Wohnen

Ein Hobby, das sich in Wien sehr schön betreiben lässt, ist historisches Wohnen. Auch – oder gerade – wenn man wenig Geld zur Verfügung hat. Ich zog in fünfzehn Jahren durch fünf verschiedene Wohnungen und damit auch quer durch hundert Jahre Wiener Geschichte und Architektur. Nur eine einzige dieser fünf Wohnungen stammte aus demselben Jahrhundert wie ich. Alle anderen entstanden um die Wende des letzten Jahrhunderts und ihnen gemeinsam waren wenig Komfort und günstige Mieten.

Meinen Anfang machte ich am Bacherplatz im 5. Bezirk, als ich neunzehn war und mir in den Kopf gesetzt hatte, in Wien zu wohnen und zu studieren. All die Jahre im Gymnasium hatte ich lediglich in Hinblick darauf durchgestanden, mit meiner Volljährigkeit die Kleinstadt Krems verlassen zu können und hinaus in die weite Welt zu ziehen. Wenn man in Österreich auf dem Lande aufgewachsen ist, dann bedeutet dies Ende der 80er Jahre erstmal Groß- und Weltstadt Wien.

Die Wohnung gehörte einem alten Witwer, der zu seiner Freundin gezogen war, die eine bessere Wohnung im 2. Bezirk besaß. Finanziell unbesorgt, war er froh, in mir junger Studienanfängerin eine mietezahlende Aufpasserin für seine Wohnung gefunden zu haben. Ich wiederum war glücklich, in einem günstigen Unterschlupf gelandet zu sein, um nicht wie meine ehemaligen Schulkolleginnen zwischen Krems und Wien hin- und herpendeln zu müssen. Die Wohnung hatte gut und gerne 120m2, Parkettböden und eine Einrichtung, die jedem Antiquitätenhändler Freudentränen in die Augen getrieben hätte.

Im Wohnzimmer hatte das Biedermeier exemplarisch überlebt, aber für mich waren geschwungene Füßchen an Kästen und Vitrinen, Einlegearbeiten am Esstisch und den dazupassenden Stühlen aus Teakholz Verschwendung und Kitsch. Obwohl der Raum große Fenster hatte und so verspielt eingerichtet war, wirkte er farblos und leer. Die grauen, seit Jahren ungewaschenen Vorhänge und die ausgebleichten Überzüge zeigten deutlich, wie lange schon das Leben aus diesem Raum gewichen war. Dem verstaubten Kristallluster waren im Laufe des Jahrhunderts Teile seiner Pracht abhandengekommen und er gab nur müdes gelbes Licht von sich.

Manchmal stand ich an einem der Fenster und sah melancholisch hinunter auf den Park des Bacherplatzes. Drei Generationen hatten dort schon Schatten und Rast gefunden. Die ersten Bäume waren in den Jahren 1877 gepflanzt worden und es schien, als hätten einige davon bis in unsere Zeit überlebt. Als der Park 1884 vollendet wurde, gab es dort schon einen Kinderspielplatz und dieser existiert noch heute. Durch die Wien-Fluss-Regulierung am Ende des 19. Jahrhunderts und den Bau der Stadtbahn war das Wiental aufgewertet worden. An der Wienzeile entstanden großbürgerliche Mietshäuser und der ehemalige Arbeiterbezirk verwandelte sich in einen dicht verbauten Großstadtbezirk. Mein Wohnhaus stammte aus der Zeit vor der Jahrhundertwende und hatte die Schicksalsschläge der Geschichte mittels finanzkräftiger Eigentümer relativ unbeschadet überstanden. Der alte Herr hatte fast sein ganzes Leben in dieser Wohnung gelebt, und ich fragte mich oft, was diese alten Zimmer wohl für Geschichten erzählen könnten. Was war das Elend und die Freude der Dienstboten gewesen? Wie hatten Krieg, Depression und wieder Krieg die herrschaftliche Familie in Mitleidenschaft gezogen? Aber ich wagte nie, meinen Hausherrn danach zu fragen.

Da ich das Wohnzimmer nicht heizen konnte, war dort ein gemütliches Studieren im Lesesessel nicht möglich. Ich verbrachte die meiste Zeit in der Küche, die sich selbst im bitterkalten Winter schnell erwärmen ließ. Der schmale Raum wurde mein Lebens- und Studiermittelpunkt. Er erinnerte mich tagtäglich mit seiner Unbequemlichkeit an die Enge, in der die Dienstboten hatten leben müssen, während drüben in den herrschaftlichen Zimmern Platz genug zum Rollerskaten war. Immerhin war die Küche mit einem Gasherd und einem Kühlschrank modernisiert worden. Der alte Herr hatte im Laufe seines Lebens eine Liebe zum Rustikalen entwickelt und so sah die zur Küche gehörende kleine Essstube aus, als wäre sie aus einer Jagdhütte gerissen und hier hineingezwängt worden. Der Tischler dieser Scheußlichkeit hatte kein Talent für Proportionen besessen, sodass Tischhöhe und Bankhöhe mich zu verkrümmten Arbeiten zwangen und in kürzester Zeit Kreuzschmerzen verursachten. Tapfer und enthusiastisch versuchte ich die Wohnung zu mögen, aber nicht einmal mein jugendlicher Schwung konnte mich zu einer derartigen Selbsttäuschung bringen.

Zum Schlafen stand mir das ehemalige Dienstmädchenzimmer zur Verfügung. Das herrschaftliche Schlafzimmer neben dem Wohnzimmer durfte ich nicht benutzen. Nur ein einziges Mal sah ich mir das thronartige Bett und den wuchtigen Eichenschrank an und wusste, da hätte ich sowieso nur mit Albträumen geschlafen. Mein Schlafgemach war ein lieblos eingerichtetes, schlauchartiges Zimmer mit einem Wandverbau aus den hässlichen 50iger Jahren an dem einen Ende und einem schmalen Bett am anderen. Wenn ich abends da lag und über mein, ach so aufregendes, Studentenleben nachdachte, so stellte sich regelmäßig der Gedanke an die endlose Reihe von Dienstmädchen ein, die vor mir in diesem Bett gelegen haben mochten. In manchen Momenten, wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, dann fühlte ich mich wie eines dieser Mädchen. Fern von der Familie, geduldet, aber eigentlich unerwünscht, brauchbar, aber eigentlich nicht nützlich, abgeschoben und einsam. Der Regen klopfte oft auf das Blech unter dem Fenster und ich träumte von der weiten Welt, in der die Sonne schien und Menschen lachten.

Als mir mein damaliger Freund eröffnete, er wolle ebenfalls in Wien leben und wir könnten gemeinsam eine Wohnung nehmen, hätte ich vor Dankbarkeit am liebsten geweint. Er fand eine schöne Altbauwohnung in der Schweglerstraße im 15. Bezirk, gleich neben der Schmelz, und mit Freuden zog ich um und bei ihm ein.

Die Schmelz, heute eine Kleingartensiedlungsoase inmitten der Stadt, war bis 1918 ein Parade- und Exerzierplatz der k.u.k. Armee gewesen. Bekannt wurde vor allem die alljährlich auf der Schmelz stattfindende Frühjahrsparade für Kaiser Franz Joseph. Im Jahre 1911 wurden die südlichen und östlichen Teile der Schmelz zur Verbauung freigegeben und aus dieser Zeit dürfte das Wohnhaus stammen, in dem unsere Wohnung lag. Sie war eine ehemalige Offizierswohnung, die in einem Zimmer ein Erkerfenster besaß, und im anderen einen großen, zum baumbewachsenen Hinterhof hinblickenden Balkon. Die hohen Flügeltüren zu den Zimmern hatte man mit geschmacklosem dunkelbraunen Lack angemalt. Das wurde jedoch durch den wunderschönen gemusterten Parkettboden wieder wettgemacht. Besonders glücklich war ich über die altertümliche Sitzbadewanne und über die großzügige Küche, in der vor allem mein Freund schaltete und waltete.

Die Einzimmerwohnung nebenan war für den Bediensteten des Offiziers gedacht gewesen und wurde Pfaffendeckelwohnung genannt. Es war leicht sich vorzustellen, wie der Herr k.u.k Offizier hier dinierte, schwadronierte und sich amüsierte und wie der beflissene Diener hin und her flitzte. Der gesamte ebenerdige Eingangsbereich des Hauses war früher eine Einkaufspassage mit kleinen Läden gewesen und man konnte immer noch von der Schweglerstraße zur Costagasse durchgehen. Wenn ich kiloweise Einkäufe vom Supermarkt heimschleppte, bedauerte ich oftmals die moderne Wirtschaftsentwicklung, die all diese kleinen Händler vertrieben hatte. Nur die beiden Straßenlokale, ein Kohlenhändler und eine kleine Schnapsbude, wurden noch benutzt. Da unsere Wohnung einen Ölofen besaß, hatten wir für den Kohlenhändler keine Verwendung. Auch für den Schnapshändler nicht, da wir Wein aus der Kremsergegend bevorzugten und sowieso nicht in das Milieu von müden Arbeitern und frustrierten Arbeitslosen gepasst hätten. Die Wohnung war ein Schmuckstück, nur leider hielt die Beziehung meinem Freiheitsdrang nicht stand. Mein Freund stand im Mietvertrag und hatte die Kaution bezahlt, also war es an mir zu gehen. Ich zog weg, bevor die U-Bahn in den 15. Bezirk fertig gestellt war und verbinde bis heute nostalgische Erinnerungen mit dem 49er, der alten Straßenbahn, die mich durch die Stadt Richtung Universität getragen hatte.

Unglückliche Beziehungsenden erfordern schnelles Handeln, und so nahm ich die nächstbeste Wohnung, die sich anbot. Ich übersiedelte in den 18. Bezirk in die Schopenhauerstraße. Das Plus dieser Wohnung war, dass sie gleich neben dem Café Schopenhauer lag. Das Schopenhauer ist ein traditionelles Vorstadtkaffeehaus mit Billardtischen, Schachspielern und einem herzhaften Frühstück, das bis zwölf Uhr serviert wird. Dies ist für eine spät zu Bett gehende Studentin überlebenswichtig. Ich lernte allerdings auch kennen, was es heißt, in Gürtelnähe zu wohnen. Die Straßen des Wiener Gürtels ziehen sich wie ein Ring um die inneren Bezirke und werden vom Rotlichtmilieu als Arbeitsplatz benutzt. Abends zu Fuß nach Hause zu gehen, erzeugte ein mulmiges Gefühl. Obwohl ich nicht die entsprechende Kleidung trug, hatte ich immer Angst, für eine Prostituierte gehalten und von Freiern angesprochen zu werden. Trotz der ausreichenden Straßenbeleuchtung schien in jedem zweiten Hauseingang eine dunkle Gestalt zu lauern. Ich wurde niemals belästigt, trotzdem fühlte ich mich nie ganz wohl in dieser Umgebung.

Die Lärmbelästigung des viel befahrenen Gürtels hielt sich in Grenzen, da meine ebenerdige Wohnung zum Innenhof hin lag. Es war eine richtige Bruchbude, billig und herabgekommen. Ihre Größe nannte man eineinhalb Zimmer, jedoch konnte ich das halbe Zimmer nicht benutzen, weil die Wände zum Großteil mit Feuchtschimmel überzogen waren. Das Haus stammte aus dem 18. Jahrhundert, hatte keinen Keller – was den Schimmel erklärte – und befand sich im Stadium der Auflösung. So feierten wir wilde Partys, die am Zustand der Wohnung nichts verschlimmern konnten und nur die Nachbarn verärgerten. Meinen Freund vermisste ich überhaupt nicht, aber die kleine Badewanne schon. In dieser Wohnung gab es nur ein altertümliches Klo und in der Küche eine wacklige Dusche.

Nach wenigen Monaten schlug sich der Schimmel auf meine Lungen, aber die Wiener Stadtverwaltung befand dies als nicht besorgniserregend genug, um mir eine Gemeindewohnung zuzugestehen. Ich beschloss, meinem verwahrlosten Dasein ein Ende zu bereiten und suchte mir Arbeit. Aufgrund der Vermögensverhältnisse meiner Eltern wurde mir kein Stipendium gewährt und ich war zu stolz, sie um mehr Geld zu bitten. Meine Unabhängigkeit war mir soviel wert, dass ich eine Halbtagsstelle als Sekretärin an der Universität Wien annahm. Ich konnte immer noch relativ bequem studieren und mir eine ordentliche Wohnung leisten.

Die Wohnung in der Marinelligasse im 2. Bezirk war die jüngste, die ich in Wien je bewohnt habe. Das Haus lag an der Ecke zur Nordbahnstraße und ich mochte die bequeme Verkehrsanbindung des in der Nähe gelegenen Pratersterns, auch wenn der Bahnhof keinerlei Atmosphäre versprühte und von der glanzvollen Vergangenheit nichts mehr übrig war. In der Zeit der k.u.k. Monarchie war der Nordbahnhof einer der bedeutendsten Bahnhöfe in Europa gewesen. Als einer der Hauptbahnhöfe Wiens mit den wichtigen Verbindungen nach Brünn, Kattowitz, Krakau und Lemberg war er auch für viele Einwanderer das erste, was sie von Wien sahen. Im Ersten Weltkrieg wurden hier Truppentransporte an die russische Front abgefertigt und Verwundetentransporte übernommen. Im März 1938 flüchteten viele Verfolgte vor den Nationalsozialisten mit der Nordbahn in die Tschechoslowakei. In der Endphase des Zweiten Weltkriegs wurden der Bahnhof und seine Umgebung durch Bombentreffer und durch Artillerie schwer beschädigt. Mit dem folgenden Kalten Krieg schlossen sich die Grenzen zu den nördlichen und östlichen Nachbarstaaten und die Nordbahnstrecke verlor ihre überregionale Bedeutung. Das kulturhistorisch wertvolle Bahnhofsgebäude wurde dem Verfall preisgegeben und bekam die Ehre, zu seinem hundertsten Geburtstag 1965 gesprengt zu werden. Die architektonische Missgeburt von Bahnhof, die danach errichtet wurde, erregt noch heute manchmal die Gemüter.

Mein Haus war ein klassischer Nachkriegsbau aus dem Jahre 1953, rasch und billig hochgezogen, um Wohnraum für die Eisenbahner zu schaffen. Entsprechend dünn waren die Wände und man bekam einen ziemlich guten Eindruck vom Leben der Nachbarn. Glücklicherweise lag meine Wohnung im obersten Stock, sodass ich wenigstens kein Getrampel über mir hatte. Dafür hatte das Haus keinen Lift und meine Familie und mein Freundeskreis stöhnten gleichermaßen, wann immer ich einen neuen Einrichtungsgegenstand anschaffte. Eine neue Waschmaschine brachten Vater und Bruder zur Verzweiflung, als sie die alte Maschine fünf Stockwerke hinunterschleppen und die neue wiederum fünf Stockwerke hinauf tragen mussten. Der schwere marokkanische Teppich, der mir jahrlang als Bett diente, bis mein Rücken zu alt wurde, um weiterhin auf dem Boden gebettet zu werden, wurde von einem muskulär kräftigen Freund gebracht. Als ich mir einen Geschirrspüler kaufte – einen kleinen – ließ ich den wohlweislich von der Firma liefern.

Die Wohnung hatte ein Schlafzimmer und einen schlauchartigen Raum, der halb Küche und halb Was-immer-man-daraus-machte war. Ich platzierte ein kleines Sofa gegenüber des Gasofens, um im Winter wenigstens warme Füße zu haben. Die alten Balkontüren hielten den in diesen Höhen blasenden Wind nicht ab. Beide Zimmer besaßen je einen schmalen Balkon, die einen erlaubten, ins Freie zu treten, aber nicht wirklich gestatteten, sich gemütlich niederzulassen. Den Balkon zum Hinterhof hin nutzte ich im Sommer manchmal als Schlafzimmer, eine Person konnte da gerade bequem liegen. Die Aussicht der Wohnung über den Bahnhof und den Norden Wiens war spektakulär, wenn man Züge mochte, und da ich aus einer Eisenbahnerfamilie stamme, hatte ich damit kein Problem. Der Balkon eignete sich auch wunderbar für Silvesternächte, da sich von hier die Feuerwerke der halben Stadt bewundern ließen. Ebenso schön war es, wenn im Sommer beim Donauinselfest das große Schlussfeuerwerk abgefackelt wurde. Ansonst waren die Balkontür verschlossen, um die Lärmbelästigung der Nordbahnstraße in Grenzen zu halten.

Diese Wohnung war die einzige, die ich als so etwas wie ein Zuhause betrachtete und auch die einzige, für die ich je einen richtigen Mietvertrag besaß. Ich blieb fast fünf Jahre dort, während ich Geld verdiente und mich durch das Studium arbeitete. Was ich an dieser Wohnung besonders liebte, war das Licht. Ich hatte fast immer in dunklen oder ebenerdigen Wohnungen gelebt. Als ich die Wohnung vor dem Einzug renovierte, malte ich sie gewohnheitsmäßig weiß aus. Schon im ersten Sommer wurde mir klar, welch falsche Entscheidung ich getroffen hatte. An sonnigen Tagen kurz nach Sonnenaufgang blendeten mich die angestrahlten Wände so sehr, dass ich den Kopfpolster über die Augen ziehen musste. Da ich nebenbei auch in einer Bar arbeitete, war dies gegen sechs Uhr morgens keine schöne Erweckung. So kaufte ich erneut Farbe und malte alles in kräftigem rosa, blau und grün und absurden Formen aus. In diese Zeit fielen auch diverse Drogenexperimente und man konnte mein Schlafzimmer, welches einem verrückte Traumreisen erlaubte, nur als psychodelisch beschreiben.

Doch Träume genügten mir bald nicht mehr. Ich begann auf die große Reise zu gehen. Mein Studium befand sich im Endstadium und mein Halbtagsjob erlaubte mir, im Winter für drei Monate zu verschwinden. Ich machte mich auf nach Südostasien, entdeckte den Dschungel und die Unterwasserwelt des Meeres und wollte nichts als immer zu reisen. Wer brauchte ein Zuhause, wenn die weite Welt lockte? Ich beschloss, die sehr günstige Einzimmerwohnung einer Freundin zu übernehmen, die gerade geheiratet hatte und die Wohnung eigentlich aufgeben wollte. Diese billige Unterkunft erlaubte mir in den folgenden Jahren, jeden Winter zu reisen und trotzdem mit einem Halbtagsjob zu überleben.

Die kleine Wohnung in der Neustiftgasse war die ideale Studentenbude und als diese hatte meine Freundin sie ursprünglich gemietet. Das Haus war an die 120 Jahre alt und hatte ein eindrucksvolles Treppenhaus mit einer halbrunden Stiege und schmiedeeisenen Geländer. Meine Wohnung war wohl ursprünglich wie die Pfaffendeckelwohnung im 15. Bezirk als Dienstbotenwohnung für die große Herrschaftswohnung nebenan gedacht gewesen. Sie bestand nur aus einem Flur, einer Küche, einem Klo und einem großen Wohnraum.

Wieder hatte ich Flügeltüren, diesmal mit Glas, und einen Parkettboden, der allerdings schon recht mitgenommen war. Das Haus besaß noch die ursprünglichen Holzdecken und -böden, sodass jedes Mal, wenn jemand unten die Haustür zuschlug, der Boden sanft in den Vibrationen mitschwang.

Meine Freundin hatte die Wohnung noch mit einem kleinen Holzofen geheizt. Ich modernisierte, indem ich den Ölofen meiner verstorbenen Großmutter aufstellte. Das Beste an dieser Wohnung waren die fast vier Meter hohen Wände. Mein Vater, gelernter Tischler und begabter Holzarbeiter, baute mir ein Hochbett und eine Bücherwand. So wurde die Wohnung gemütlich und effizient. „Das ist das letzte Mal, das ich dir helfe,“ sagte er schnaufend zum Einzug. „Ich werde zu alt für solche Sachen,“ fügte er bitter hinzu.

Als ich dann die Dreißig überschritt, das Studium tatsächlich auch einmal beendete und Jahr für Jahr deprimierende Sommer in Wien verbrachte, dämmerte mir allmählich, dass die Worte meines Vaters wohl auch für mich galten. Jedes Jahr zog ich für drei Monate fort und entdeckte verschiedene Winkel der Welt. Nur einmal verbrachte ich fast einen ganzen Winter in dieser dunklen Wohnung, um für meine Diplomprüfung zu lernen. Einzig und allein die Aussicht auf das Ende des Studiums ließ mich diese Zeit psychisch einigermaßen gesund überstehen. Meine Fenster erblickten nichts als eine dunkelgraue Hauswand und lediglich im Hochsommer verirrten sich ein paar Sonnenstrahlen ins Zimmer. Manchmal lehnte ich mich weit aus dem Fenster, um den Sonnenuntergang über dem Wienerwald beobachten zu können. Die Neustiftgasse ist eine der Hauptverbindungswege zwischen dem inneren Ring und dem Gürtel und wann immer ich von einer Reise zurückkehrte, versuchte ich mir den Tag und Nacht rauschenden Straßenlärm als Meeresrauschen einzureden.

Aber ich liebte diese kleine Wohnung. Ihre zentrale Lage im 7. Bezirk bot dem Herzen außer Rasten im Grünen, alles, was es begehrte. In zehn Minuten war ich mit dem Rad an der Universität und damit an meinem Arbeitsplatz. In zwanzig Minuten konnte ich mittels U-Bahn-Anbindung jeden interessanten Punkt der Stadt erreichen. Zum Einkaufen ging ich in die Mariahilferstrasse und die unzähligen Beiseln und Restaurants in der Umgebung boten ein abwechslungsreiches Nachtleben. Der im 7. Bezirk gelegene Spittelberg war im 19. Jahrhundert das Prostituiertenviertel der Stadt und aufgrund seiner Kriminalität berüchtigt gewesen. Heute ist dieser Stadtteil immer noch ein beliebter Treffpunkt für Nachschwärmer und das Beispiel für eine Luxussanierung der großteils aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammenden Häusern. Mein Wohnhaus lag in der Nähe des Gürtels und gehörte zu den vernachlässigten Teilen des Bezirkes. Doch war dieser Bezirk multikulturell wie kein anderer und war auch der erste Bezirk Wiens, der von der Partei der Grünen verwaltet wurde. Ich genoss die Vorzüge eines nebenan gelegenen indischen Supermarktes und hatte mit der Eröffnung der neuen Stadtbibliothek am Urban-Loritz-Platz einen weiteren Grund, es noch einige Jahre in dieser Wohnung auszuhalten.

Doch mit dem Alter kam auch die Bequemlichkeit. Ich besaß eine altersschwache Dusche, die einen Großteil des Flurs verstellte, aber nirgendwo anders Platz hatte, da es nur dort einen Wasseranschluss gab. Die Dusche leckte und trotz mehrmaliger Reparaturversuche verrottete allmählich der Holzboden unter ihr. Es gab eine relativ große Küche, aber dort gab es keine Wasserleitung, sodass sich die Abwasch ebenfalls im Eingangsbereich befand. Jede Kochaktion bestand hauptsächlich im Hin- und Herlaufen zwischen dem Flur und der Küche. Als ich einzog, gab es in der Küche noch den originalen, mit Holz zu befeuernden Küchenofen, der so alt war wie das Haus selbst. Schon lange ohne Funktion, stellte er nur mehr ein riesiges, dunkelblau gekacheltes Dekorationsstück dar. Ich fand tatsächlich jemanden, der den alten Ofen abbaute und in einem alten Bauernhaus wieder aufbaute, wo er sich sicher gut machte. Gasofen, Kühlschrank, Küchenkredenz und Esstisch hatten Platz in der Küche, aber es gab fast kein Tageslicht, da das große Milchglasfenster nur ins Stiegenhaus ging.

Erst als ich Wien verlassen hatte und in das ewig sonnige Ägypten zog, ging mir auf, wie sehr mir Tageslicht in dieser Wohnung und in den meisten anderen meiner Wohnstätten gefehlt hatte. Es war mir immer seltsam vorgekommen, warum ich ohne Schwierigkeiten zwölf bis vierzehn Stunden schlafen konnte und warum ich so antriebslos war. In Ägypten schlafe ich nie mehr als acht Stunden, einfach weil die Sonne lockt und das Leben sich draußen abspielt. Gerade in dieser letzten Wohnung hatte ich mich eingesperrt gefühlt und war, wie Rilkes Panther, ruhelos auf- und abgewandert. Doch dann fand ich die Tür, öffnete sie und ging hinaus in die große Welt, so wie ich mir das immer erträumt hatte.

Meine fünf Wiener Wohnungen bezeichnen das, was mir an Wien immer das Liebste gewesen ist: eine Jahrtausende alte Geschichte, über die man stolpert, wo immer auch man hingeht, und die Hinterlassenschaft dieser Geschichte in Form hervorragender Architektur. In all den Jahren, die ich in Wien wohnte, ging ich staunend und die Augen bewundernd über die Häuserfassaden gleiten lassend durch die Stadt. Wien ist so schön und die Bewohner haben sich trotz mancher architektonischer Missgriffe einen Gutteil ihres Erbes erhalten. Darauf können sie stolz sein.

Edward Reilly

Lit-Mag #38 – (Not) at home in Vienna

Through the eyes of Kommissar Rex

Many years ago, in those long undergraduate coffee hours, one of our group announced that he was going home. “Mutti”, he always referred to his mother with that intimate endearment, never as we did, neither the babyish “Mummy” nor drawling out “Mum”, nor with a clipped English “Mother”: but so, “Mutti”. He repeated himself, “Mutti is taking me home!”
Which was a nonsense of course because he had been born a day after me at Adelaide’s Calvary Hospital, where the nuns fluttered down longish corridors bringing little rays of sunshine with them as their headpieces flapped open and shut in time to their strides. Our mothers shared the same ward, smiled at the same priest, glared the same ways when our fathers eyed off the nurses.
“Home?”
Petro took in our gaping mouths, Griffiths’s bad teeth, the rattle of refectory cups on chipped china saucers, Elsa’s sob of disappointment. He smiled in triumph, something to note in that Journal he made a point of keeping, even as we were discussing the proprieties of journals and secret diaries, and all those filthy habits we attributed to Frogs and other less desirables, in public. He’d pull it out of his satchel as soon as Filipovski had left and write in a word that had been used, or scribble down an apt phrase Elsa had invented, just so as it would be entered in that book.
Petro tried smiling again, whispered the magic word.
“Home!”
He then sipped the University’s sour coffee quite noisily, and whilst still holding the cup in his right hand, took out a handkerchief from his jacket pocket and blew his nose, noisily. The spell had been broken.
Petro was about to fill us in, so we all leant forwards and tried all so desperately to disregard the clock that was telling us there were only fifteen minutes before the next Language Laboratory session. I just had to get there in time, or else Frau Unpronounceable-Russian-Namova would have me for dinner, and Elsa likewise had to be at her class in Old Norse with five minutes to spare, or else the Professor would be rather cranky with her: we both were prepared to wait for five minutes before leaving. Petro would need to be quick, for once.
“Mutti, as you know”, we didn’t, but he was telling us as a matter of fact, “is Viennese”.
Something we didn’t know until then, but now this information tied in exactly with Petro’s predilection for Cheesecake and Kirsch whenever the plates went around at a cast party: that, and other minor vices, now marked him out as Viennese.
Who else but a Viennese would have a weekly appointment with “my psychiatrist, Herr Dr. Kroeber” whose suite was tucked away behind the rooms of Proctologist Dr. Pirkstis on the fourth floor of the greystone building where my father worked, when all we ever had were our Confessors, for those of us who were Catholics, or for all others, Protestants, pagans, communists and the motley, merely a friendly ear: no absolution and damnation for eternity! Who else but a Viennese would insist upon waltzing backwards when the orchestra, the school band really, correctly managed the key-change, only to step on his partner’s dress and so pull the bodice down to such a degree that the girl delighted every young bucko within eye-range? But then, Kitty O’Connor was not Viennese and is still unversed in the ways of the twirling world.
“So?” Elsa was less than impressed. “My mother was born in Mittau Castle itself, ergo, she is Mittauian! So what if deine Mutti auf Wien?”
The table had invented multiculturalism before it became fashionable in Australia. Elsa and Petro would trade insults, and perhaps endearments, in Deutsch, Elsa would entertain her sorority in Lettisch, Rory and I could throw a few Gaelic phrases onto the log fire, and if all else failed, we’d have Elsa read the juicy and gory bits from the Eddas in Old Norse. Not that we understand a word of it, but it sounded far more blood-curdling than the rants we’d been forced to endure in Modern History 101A: European Destinies. The Engineers avoided us.
Petro, who had fancied himself as a bit of Romantic and who had actually induced Elsa to accompany him to the Deutschverein Ball last weekend, and whose misadventures had already been around the tables before first lectures on the Monday, merely smiled.
“It’s the Sacher Torte, really.” He paused for good effect. “You know, Sacher Torte?” None of us admitted to knowing anything.
Elsa glared at him.
“You mean, Piglet, tau Mamuliņa is taking you to Vienna to get fat?!”
Petro, a boy, not quite a young man as yet, remembering this was at the end of his first term, was rather rotund. He was in my Physical Education group at Teachers’ College and found the compulsory morning runs through the Parklands such a horrible chore that he was always last into the showers, by which time he had to stand under a shower-head dribbling utter cold over his sleek flanks. We all called him Piglet: no offence intended as I was Sticks, being nothing but skin and bone, whilst Griffiths was Batlet, being as blind as one. Petro endured his trials with good grace and the no-necks left him alone.
Petro smiled. “Not at all, my Uncle Rudi will see to it that I am put on a regular diet, and that the staff at his Kurort will supervise me correctly.”
Seeing that we were totally perplexed, and all were looking at our watches, time leaking away all too quickly, explained in a sudden rush of words that one of his many uncles had purchased a commodious estate, converted it into something for which we in Australia really do not have a word.
“A health-farm?” ventured Griffiths. “Like in that film we saw on Thursday, L’année dernière à Marienbad?” Griffiths liked the sound of French, even if he had not yet mastered her.
Petro nodded, sort of, and was about to launch into a long-winded explication as we, the men that is, all began to dream of Delphine Seyrig in a nurse’s whites, when Elsa, rising to her full height, she towered over everyone except Griffiths and me, put paid to the morning’s kaffé-klatsch. “I know, La avventura di Petro à Muttibad!”
Elsa half-smiled, signalled to Petro that their affair had been terminated, turned on her balletic toes, and decamped. Petro looked down into the dregs of his coffee, sighed and tried unsuccessfully to cadge some silver from me for “further fortification”. No luck, I was a broke as a gypsy.
In a rush to get to our next sessions we all dashed off, leaving Petro to wheedle the cost of his next coffee from the Irish boys’ table. We all expected to see him later that day, but he was gone when we came back into the refectory for afternoons, and was not around for the rest of Term. Word eventually got back through one of the tutors that Petro had handed in all of his Term assignments rather early and had taken indefinite leave, and his place at the table was soon filled in by another.

I never gave Petro another thought. That’s how callow we youths can be, and even in old age when rifling through my memories of all those years ago, JFK was still alive then and just a vague mention at the dinner-table of travelling to Europe after I’d finished my studies was enough to start a three-day drama of tears and phone calls to the parish priest, I could not remember who had sat next to me and had announced that his mother was taking him home, to Vienna.
Then I saw him. Rather Kommissar Rex saw him for me.
On Thursday evenings, once dinner is finished and the dregs of the day’s marking are put away, we settle back and watch Kommissar Rex and any of the other criminal dramas that SBS-TV (Melbourne) presents, such as Ørnen, which recalls Elsa’s excursions into the Eddas. The writers of Kommissar Rex always set a puzzle for Moser and his team to solve, and of course, Rex assists, even solves some of the crimes. When Angus, our Border Collie, was alive, he’d sit at our feet and cast a worried look at the television if ever Rex signaled he was in distress, even to the point of one night standing in front of the television and barking at a leather-clad villain who was yelling at our hero.
So there he was. Petro!
Larger than life. Rotund almost. Not as much as the Coroner who seems to delight in slicing up the cadavers that Moser and team zip into the body-bags and dispatch to City Morgue, but rotund certainly.
My physician, a refugee from Putin’s cleptocracy, will look at me tomorrow, I’m certainly less than half of Petro’s girth, and he will ask, “How soon you wann’ die? Tomorrow, nex’ year? Nu?”
Of course I have no sensible answer to this, I would really like to live forever.
What would my physician have said to Petro, “You are alive?”
The same words Elsa used last year, “You are alive?”
I wasn’t sure whether this was a question or an accusation, for Elsa expects her discards to remain civil to her, and to each other. We try. But as for my being alive, she’d heard that I had been knocked over by a bicyclist in Salzburg. It made the headlines even, especially after I had called the rather rotund cyclist “Piglet”.
Apologies all round. I am alive.
On the screen, Kommissar Rex followed my friend Petro, my long lost friend, through the streets of Vienna, dodged between trams, tagged along as his mark waddled across one the bridges spanning the Danube. All of this was seen as through the hound’s eyes. The camera must have been set low on a dolly as the humans loomed over and peered down as the pace of pursuit increased. I become Inspector Hound.
A zither plays, Harry Lime emerges from the shadows, “Pssst! Silk stockings?”
Lili Marlene slouches against the lamppost, lights a cigarette for Humphrey Bogart who’s just passing by, or was that Tom Cruise? Where’s Nicole? Rex has helped himself to a wurst, or a kransky perhaps?
I remember that there’s a cold half-sausage in the refrigerator. When there was a commercial break I got up, turned on the kettle and wolfed the half-sausage. Petro had disappeared by the time I got back with our cups of tea.
The sunset was beautiful. Vienna glowed. We vowed that next time we travelled to Europe that we would make a point of going there, and not be fobbed off with a bus trip just to Salzburg as a quick stop.
I think that we too could sit in the afternoon sunshine and indulge in an aromatic coffee and we could share a slice of Sacher Torte. Perhaps Petro would be there, taking some time off from acting as an extra in a television series or running his uncle’s gymnasium, which is what the Kurort most likely would have turned out to be, or perhaps he’ll introduce us to one of the hounds playing in the next series of Kommissar Rex.

Sylvia Petter

Lit-Mag #38 – (Not) at home in Vienna

Anna und das Exil der Seele

Es war einmal. So fingen früher Geschichten immer an. Heute sollen sie so wahr wie möglich sein. Ich habe immer der Autobiografie misstraut. Wer sagt mir, dass sie die Wahrheit erzählt? Der Erzähler? Na ja. Geschichten halt. Auch wenn sie wahr sind? Erinnerungen lügen auch beim besten Willen des Erzählers. Und was ist eigentlich wahr, wenn man nirgends hingehört und keinen eigentlichen Ausgangspunkt hat? Und was ist, wenn dies wurscht ist? Und so zur Geschichte.

Es war einmal ein kleines Mädchen, das keine Muttersprache hatte. Die Sprache ihrer Mutter war nicht die ihre, oder vielleicht doch? Wer kann sich so weit zurück erinnern? Es sind die Erinnerungen der Anderen, die erzählt werden, und bald fängt man an zu glauben, dass es die Eigenen sind.

Das Mädchen sprach Englisch. Na ja, es gab eine Zeit, da verstand sie kein Englisch, mit vier Jahren angeblich; es gab einen Tag an dem sie, als Fee verkleidet, den Preis, der einer anderen Fee bestimmt war, einfach an sich riss, und trotz aller logischen Einwände der erwachsenen Welt und aller emotionalen der anderen Fee, einfach nicht loslassen wollte. Das war die einzige sprachmissbräuchliche Ausschweifung der Anna – nennen wir sie halt Anna, da das Kind doch ein Namen braucht.

Anna sprach Englisch. Vielleicht hatte sie auch einen kleinen Akzent, da ihre Eltern doch Deutsch sprachen, bevor sie mit ihr nach Australien auswanderten, als Anna ein, zwei, oder drei Jahre alt war. Es muss einen Akzent gegeben haben. Oder war Mary Bradock, Drittgenerationsaustralierin englisch-keltischer Abstammung  – Urenkelin derjenigen, die als Verbrecher in die Strafkolonie geschickt wurden – nur neidisch, dass Anna viel besser Tennis spielte – Anna trainierte ja immerhin jeden Tag ihre Schläge gegen die Schulmauer. „Dirty Nazi,“ pfauchte Mary.

Anna wusste nicht, was Mary meinte, aber etwas rührte sich in Annas Herzen, oder vielleicht war es in ihrer Seele, oder an jenem Fleck des Inneren, wo sich Gemeinschaftserinnerungen – heißen sie so? – versteckten, um eines Tages wider Erwarten ihre Häupter zu erheben.

„Was ist ein Nazi“, fragte Anna ihre Mutter, auf Englisch versteht sich. Die Antwort kam nicht: nur ein wo? Wann? Wer? Weshalb? Anna schwieg und dachte: „Nichts.“ Ja, sie dachte auf Deutsch, und dann sagte sie auf Englisch: „It’s OK.“ Und so blieb es, OK, bis Anna 16 war und ohne es erklären zu können, ein Verlangen spürte, nach Berwang zu fahren. Berwang? Was tut Berwang mitten im Herzen von Sydneys buschumrandeten Wohngebieten? Berwang, ein Dorf in Tirol – na ja, die Erinnerungen. Dort war Anna glücklich gewesen. Wie sie das wusste, war ihr nicht klar. Vielleicht hatte es ihre österreichische Großmutter erzählt, als sie auf Besuch in Australien war. Anna war damals neun Jahre alt, oder acht? Komisch, dass sie nicht früher an ihre Großmutter gedacht hatte. Anna mochte die alte Frau nicht. Anna verstand ihre Sprache nicht und konnte nicht verstehen, dass sie immerwährend Schwarz trug – australische Großmütter trugen Bermudahosen in der Weinachtshitze. Anna vermutete, dass ihre Großmutter bald zu einer schwarzen Pfütze zerschmelzen musste. Komisch, was sich man einbildet.

Eins aber hatte die Oma aus Österreich: ein Superbett. Da konnte man so hoch darauf springen. Vielleicht war es doch die Oma, die erzählt hatte, wie glücklich Anna in Berwang gewesen war, oder war es Annas Mutter? Da gab’s Geschichten von Anna: Abdrücke von Zähnen und Nase in dem riesigen Laib Butter, der auf einem Stein im Keller der Mühle kühlgelagert wurde. Eine Mühle? Ja, Anna wohnte in einer Mühle in Berwang. Und im Sommer lief Anna nackt herum, nachdem man ihre Kleidungsstücke, eines nach dem anderen, in den Bergfeldern fand. Schon damals bereitete sie sich vielleicht auf die Hitze in Australien vor? Die heile Welt, das war Berwang. Bis zu dem Zeitpunkt als Annas Vater auswanderte. Aber wo waren wir? Anna ist ja schon Australierin, ist sechzehn, und sehnt sich nach Berwang. Aber daraus wird nichts. Sie ist zu jung, um allein nach Österreich zu fahren. Wart’ ab. Mit neunzehn war’s so weit. Aber Berwang war längst vergessen. So schnell geht das. Ich will nach Wien, sagte Anna. Warte bis 21, sagte ihr Vater. Ich verliere mein Leben, denkt sie. So denkt man, wenn man jung ist. Zwei Jahre sind eine Ewigkeit, die man nicht überleben wird. Annas Deutsch war holprig so studierte sie noch „Accelerated German“ und ließ manche Grammatikregeln aus. Schiller und Goethe konnte sie herunterrasseln. Na ja, einige Strophen der Glocke, und ein gewisses Zitat, das so locker von der Zunge rollte. Und mit 19, fast 20, ging’s ab nach Wien.

In Wien half Schiller wenig. Die Leute sprachen ganz anders, als in ihrem Deutschkurs in Sydney. Immerhin war ihr Lehrer ein Deutscher aus Südafrika gewesen, nach Australien ausgewandert, als seine Lieblingsstudentin sich wegen der Apartheid das Leben genommen hatte. Anna verstand anfangs nichts von Apartheid. Bis zu dem Tag, als eine Trafikantin fragte:
– Bist Du Jugoslawin?
– Nein. Australierin.
– Glaube ich nicht.
– Ist aber so.
– Tschusch.
Wann war das? 1969.

1969 studierte Anna Deutsch für Ausländer am Dolmetschinstitut. Die anderen Mädchen, es gab ja hauptsächlich Mädchen, trugen Pelzmäntel in Winter, sogar die tschechischen Asylantinnen trugen Pelzmäntel. Wie ging das? Man sagte, dass sie Pelzmäntel trugen, um einen Jusstudenten aus gutem Haus kennen zu lernen, die anderen, die Asylantinnen, hatten schon ihre Gönner gefunden. Anna verliebte sich in einen Arbeiter, einen Wiener, und zog zu ihm nach Favoriten. Dort wohnten sie in einer Zimmerküche mit Klo am Gang, und waren glücklich. Ich brauch’ ein dreifach zusammengesetztes Hauptwort für morgen, sagte Anna eines Abends. Nudelkopfauge. Was ist das? Schau dir ein Spaghetti an. Aha. Nudelkopfauge, Herr Professor, sagte Anna am nächsten Tag. Der Professor war entsetzt. Es war nur ein Spaß, sagte Annas Freund. Lern’ lieber Wienerisch.

Wienerisch kam dann ein bisschen von allein. Anna verstand fast alles, konnte aber nicht ihre Zunge um das Wort „Wollknäuel“ schlingen. Ich bleibe immer Apartheid, dachte sie. Du musst in Wien geboren sein, um Wienerisch richtig sprechen zu können. Ich bin in Wien geboren. Meine Zunge krieg’ ich nicht herum. Schade. Ja schade. Und langsam fing Anna an, in Wien zu ersticken. Die Stadt war grau wie Filz und drohte sie zu verschlucken. Raus. Ich muss weg. Komm mit, sagte sie ihrer Liebe. Wohin? Wurscht. Wurscht wohin. Sie zogen nach Frankreich. Jetzt weisst du wie es ist Ausländer zu sein, sagte sie ihrem Freund.

Ein Leben ging vorbei – zuerst mit dem Geklapper von Stöckelschuhen und dann gemächlich auf leisen Sohlen; Anna bekam ein Kind, das Kind wurde groß und ging nach Australien. Anna kehrte zurück nach Wien. Na ja. So einfach war es nicht. Schnupperreisen voraus. Wien hatte eine U-Bahn. Alles über der Donau war nicht mehr so schlimm wie in den Sechzigern. Wien hatte eine Jugend entdeckt, hatte Stil. War sich endlich im Klaren über die Nach-Waldheim Richtung. Es gab die EU. Keiner fragte, ob sie Jugoslawin sei. Es gab kein Jugoslawien mehr. Die Leut’ haben andere Probleme. Aber Anna stört’s nicht, die Sache mit den Kopftüchern. Sollen die Leute tragen, was sie wollen. Alle Frauen, überhaupt alle Omas, trugen Kopftücher in den Sechzigern. Es gab Plakate: „Daham statt Islam“. Komisch. Wo ist „Daham“? Anna hat keine Ahnung. Vielleicht ist es auch gar nicht so wichtig. Die Grenzen des „Apartheid“ fingen schon an, sich zu verwischen.

Anna ist nun alt und lebt an der Grenze zweier Heimaten – Australien, Österreich – Austria, Australia – heiß, kalt, oben und „Under“. In Wien lässt’s sich leben, in Wien lässt’s sich sterben. Aber was soll das? Alle Geschichten die mit „Es war einmal“ anfangen, brauchen ein „happy end“. Nur dazwischen kann sich im Nachhinein vieles ändern. Prost, sagt Anna und hebt ihr Achtel. Prost Wien!
Prost, Anna, sage ich.