Helmut Schranz

tempi passati, nebel aktuell

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was möchten Sie wissen? nein, ich komme nicht aus graz, ich bin nach graz gekommen.

seither komme ich von graz immer mal wieder weg. und auch zurück komme ich dann, statt hin und weg also weg und hin, weg, hin.

interessiert Sie das?

ich sehe, wir verstehen uns.

was können Sie auch dafür, dass ich schreibe. seit meiner volksschulzeit kann ich das, schreiben, und das obwohl ich auch noch meine mittelschulzeit ausserhalb von graz verbracht habe. am lande.

am land ist es schön. ich fahr gern hin. und gern weg.

so schön ist es in der stadt. aber gar so schön nun auch wieder nicht.

im nebel sind beide gleich.

wie Sie bestimmt wissen, hat es in graz ja sehr oft nebel. wie auch am land, und das weiss ich, weil ich ja vom land hergekommen bin, (vielleicht auch Sie?), da ist der nebel häufig und dicht. der nebel kommt über nacht und tagelang geht er nicht weg. das haben die nebel über dem land und über graz gemeinsam. beide nebel sind zäh.

ich finde die nebel von graz umgebung und die nichtländlichen grazer nebel ungefähr gleichwertig grau, grauslig, benebelnd eben.

die nebel von st. josef kenne ich nicht.

Sie wissen ja, ein vorgänger oder fussgänger hat die nebel vor graz beschrieben. st. josef liegt offenbar in einem solchen nebelloch vor graz, das ebenso benebelt ist wie graz selber.

 

wie interessant! wie interessant!

graz und umgebung sind nebliges land!

 

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unlängst, auf einem vom kulturzentrum bei den minoriten veranstalteten lesefest (eine parallelaktion zur eröffnung von “Wetten dass … 3×0 … Graz fliegt!”) habe ich jenen st. josefer fuss- und parteigänger seine nebelphilosophie verbreiten gehört. “Jede andere Kulturhauptstadt hätte sich damit gerühmt, wodurch sie es geworden ist”, und er meinte damit die heute noch lebenden herren aus den grazer 60er-jahren, welche das glück hatten, aus dem – internationalen entwicklungen weit hinterher hinkenden graz den kulturellen fascho- und ständestaat-mief wegfegen zu können, bevor ’s ein paar andere um ein paar jährchen später getan hätten. die zeit war ohnedies für veränderung reif, auch in graz und am land um graz.

40 jahre später bedauert jener st. josefer fussgänger “Im Nebel vor Graz” nun angeblich vertane feierliche festschreibung einstmaliger lokaler modernität: “Graz hätte die Chance gehabt, der ganzen Welt zu zeigen, was Graz-Kultur ist” und er meint damit, die taten jener herren aus den 60ern, die sie noch bis in die 70er hinein einigermassen kraftvoll, die grazer szene integrierend, zugleich mit übers lokale hinausgehender wirkkraft gesetzt hatten, wären geeignet, im grazer kulturhauptstadtjahr den anschein einer lebendigen kunstszene zu simulieren.

meine einschätzung ist eine andere: seit den 80ern ist, unter der führung eben jener herren, die sogenannte “Graz-Kultur” sanft entschlafen, unterbrochen nur von einem heftigen scharmützel rund um die präsidentschaft im forum stadtpark gegen ende der 90er. an diesem final showdown zeigte sich: man hatte die eignen kulturellen machtpositionen befestigt und gegen nachkommende, jüngere künstler+innen erfolgreich verteidigt.

seither ist der stillstand der grazer kulturszene für jedermann+frau offen sichtbar. die von jenem st. josefer beschworene “Graz-Kultur” wird zu einem freilichtmuseum zwar anzuerkennender, aber längst vergangener leistungen ausgebaut und per kulturhauptstadtjahr befestigt.

 

fast mit zärtlichem sentiment möcht ich jenem nebelbewohner und fürsprecher der vergangenheit zurufen: hätt er bloss nur über kumpitz geschrieben, er wäre ein philosoph geblieben.

 

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aber zurück zum obengenannten lesefest. sind Sie noch interessiert? ich beeile mich!

etwa 200 publikums lauschten den im viertelstundentakt wechselnden 18 grazer autor+innen (und ich war einer von ihnen). dieses setting im barockprunksaal wollte, laut programm-vorspann, die frage ausloten “Kann Graz für sich den Titel Literaturhauptstadt beanspruchen?” und ich wollte mich eines kurzstatements (1minute30) nicht entschlagen –

und ich mein[t]e: nein.

graz hat alte leute, die alte texte schreiben, und graz hat junge leute, die auch – alte texte schreiben.

ein literarischer aufbruch – “transgarde”, wie sie ende der 60er hier passierte – ist nicht in sicht. dafür gibt es bald ein literaturhaus zur be-sichtigung des musealisierten aufbruchs und für den transport inter+nationaler quoten+neben\betriebs-literatur zum zwischenstop graz, literarische provinz, – entgrenzte aufgenadelte provinzialitätensammlung, wo dichterinnen+dichter aller länder – hiesige und dasige – einander gut’ nacht lesen.

die honorarhöhen sind verschieden. ich nehme 200,— euro, du nimmst den betrag plus X oder mal 0003, er sie es nimmt den steirischen staatspreis für literatur…

die jungen sind zaungäste und schreiben sich alt, bis der betriebszaun sie endlich umschliessen wird, gute grazer weltklasse, – willkommen am lesefest. (77sekunden) ich freu mich, dass sie mir zuhören werden, und ich lese ihnen, ganz ohne betriebsauslotungs-ambition, eine “männerverbrennung” und ein “sinnstiftengehen”, gesamtdauer: 15 minuten und ein paar zerquetschte.

 

nun, das war mein statement an jenem lesefest. die dort angekündigten texte können, im rahmen meines graz-tagebuchs, nicht abgedruckt werden, der raum ist begrenzt. jenes oder dieses honorar wird die roten nebel meines kontostandes lichten helfen und ist zugleich nur scheinbar privat. im literaturbetrieb ist alles so privat, dass nichts übrigbleibt. aber falls es Sie interessiert: ja, ich werde mein geld u. a. auch zum wegfahren aus graz verwenden, Sie erinnern sich: weg und hin.

[dieser text sollte im rahmen der reihe “tagebuch” bei der steirischen kronenzeitung erscheinen]

Gerald Ganglbauer

Ich bin ein Grazer

Der Autor Peter Glaser sagt von sich, er sei “geboren [worden] als Bleistift in Graz (Österreich), wo die hochwertigen Schriftsteller für den Export hergestellt werden” – und lebt “als Schreibmaschine” in Berlin. Bezeichnend. Andere Grazer (Steirer) leben auch in Deutschland oder sonstwo in der Welt, oder am Land, oder zumindest in Graz und Wien. Und wer einmal ganz in der Bundeshauptstadt lebt, will von Graz gar nichts mehr wissen.

Graz ist eine kleine Stadt in Europa. Das muss man vorweg sagen, denn das weiß fast niemand. Graz liegt nämlich nicht am Weg von Strauß zu Mozart. Aber Graz hat sich schon immer bemüht, das zu ändern. Graz ist auch die Landeshauptstadt der Steiermark. Styria heißt das auf Englisch, das ist ein Bundesland im Südosten, aber nicht das wo sie The Sound of Music gefilmt haben. Ah, … kommt nicht der Schwarzenegger von dort?

Ich bin ein gebürtiger Grazer, dennoch antworte ich normalerweise jedem der mich nach der Herkunft fragt, dass ich vor meinem Aufbruch aus Europa (einige Jahre lang) in Wien gelebt habe. Was zwar auch stimmt, aber es ist viel leichter zu erklären als “ich bin ein Grazer”. Jeder weiß dann sofort, dass ich aus Österreich komme – sofern man Wien = Vienna nicht gerade mit Venedig = Venice verwechselt, oder gar Austria mit Australia, im weiten Amerika.

Na ja, ein jeder hat andere Gründe, Graz zu verlassen. Auch wenn einer meiner Verlagssitze virtuell immer noch in Graz ist, bin ich in den letzten fünfzehn, fast schon zwanzig Jahren nicht gerade oft nach Hause zurückgekommen, außer um meine Mutter zu besuchen und eine Handvoll Freunde zu sehen. Vielleicht werde ich, wenn ich alt bin, wieder in Graz leben. Graz eignet sich ja gut als Lebensort für Pensionisten, heißt es. Obwohl ich mir eigentlich eine kleine Insel vorgestellt hätte. Aber das ist eine andere Geschichte.

Dabei war ich in dieser Stadt einmal recht präsent, habe 1982 bis 1986 die Grazer Straßenliteraturtage (ein Festival junger Literatur) initiiert und organisiert, zahlreiche Lesungen im Kulturhauskeller und in der Thalia veranstaltet, ein Buchdenkmal am Hauptplatz errichtet und in riesengroßen Lettern darin Gedichte in den öffentlichen Raum gestellt, und war damals, nicht zuletzt, auch mit der Autorin Petra Ganglbauer verheiratet.

Warum flohen aber immer wieder KünstlerInnen diese Stadt, die 2003 erst ihr eigenes Literaturhaus eröffnet hat? Gerhard Melzer sagt über sein literatur h aus graz: “Ein neuer Ort für die Literatur. In einer Stadt, wo sie ohnehin ihren Platz hat. (Auch wenn sie ihn immer wieder neu erkämpfen muss).” Aber Helmut Schranz (mein Nachfolger in der perspektive Redaktion und ein Autor, den ich schätze) kommt zur Ansicht, “graz hat alte leute, die alte texte schreiben, und graz hat junge leute, die auch – alte texte schreiben”, und ärgert sich über Reinhard P. Gruber.

Graz hat eine hübsche Altstadt. Aufzuwachsen und zu studieren hat in dieser kleinen Stadt auch großen Spaß gemacht. Mit dem Moped an die Murauen fahren und Kukuruz (Mais) stehlen und braten. Oder an die damals noch ungenützten Schotterteiche (Baggerseen) zum Nacktbaden. In den Kaffeehäusern nach den Vorlesungen an der TU oder Uni stundenlang abhängen. Nachts bis zum Morgengrauen auf die Platte (einen der Hausberge) wandern, und über Kernkraftwerke diskutieren. Und immer guten Sex haben.

Daran erinnere ich mich gerne (und damit meine ich selbstverständlich nicht nur die erotischen Abenteuer) – dennoch sind die Herausforderungen einer Kleinstadt, wenn auch mit steirischem herbst und Forum Stadtpark, oder Zeitschriften wie manuskripte, LICHTUNGEN, perspektive und Sterz um Kultur bemüht, naturgemäß begrenzt. Und naturgemäß spießig. Und man verlässt die Stadt. Nicht einmal die GAV Grazer Autorinnen Autoren Versammlung hat ihren Sitz noch in Graz.

Erinnern wir uns – gangan [althochdeutsch]: bewegen, entwickeln, verändern. Moving on.

Die Grazer Literatur war völlig aus meinem Sinn – dass die Stadt Kulturhauptstadt Europas 2003 ist, interessiert eigentlich nur die Fremdenverkehrsbüros, und aus Graz kamen in den letzten Jahren kaum nennenswerte unverlangte Beiträge an unsere Zeitschrift – plötzlich flattert im März dieses Jahres ein erfreulicher Text vom Helmut Schranz herein. Aufmüpfig. Frisch. Da identifiziert man sich damit, das denkt man sich auch. Und ich sage einer Veröffentlichung zu, woraus gar diese Sondernummer wächst. Ich fliege sowieso im Juni zum 93. Geburtstag meiner Mutter nach Graz.

Ich mache mich also auf die Suche nach Grazer AutorInnen, sende allen per E-mail Einladungen Beiträge betreffend. Unterhalte mich mit SpezialistInnen – guten BuchhändlerInnen, SprachwissenschafterInnen (bemerke gerade, wie nervig diese neue ‘politisch korrekte’ Version der -Innen im deutschen Sprachgebrauch ist, ganz im Gegensatz zu hier, wo alle weiblichen Endungen verschwinden, die Begriffe selbst geschlechtsneutral werden) – und finde – nicht viel. Österreichische AutorInnen in Übersetzung kenne man zwar schon einige; aber aus Graz? Sorry.

Auch die Reaktion einzelner eingeladener AutorInnen war eine ganz andere als zum Beispiel die Begeisterung im Hinblick auf unsere Newcastle-Sondernummer vor einem halben Jahr. Eine typische Frage: “Wird die Zeitung in echt erscheinen oder nur im Netz?” – “Gangway erscheint in echt am Netz.” – “in echt am Netz ist aber nicht logisch …” Hmmm. Also auch in der Akzeptanz des nicht mehr so ‘neuen’ Mediums ziehen noch die Nebelschwaden durch die steirische Landschaft. Gangway erscheint bereits im achten Jahrgang, quasi seit dem Jahre Null am WWW, und Urheberrechte der AutorInnen sind trotz hartnäckiger Gerüchte ebenso geschützt wie in anderen Medien.

Wenn unter Grazern vom Internet die Rede ist, wird oft geklagt, dies sei ja bloß eine “Teilöffentlichkeit”, die “richtige” Öffentlichkeit wäre erst auf Papier zu erreichen. Falsch, meine Damen und Herren. Es hat zwar nicht jeder einen Computer, aber andererseits kann auch nicht jeder lesen – oder kauft sich die Kronen Zeitung. Und obwohl Webmeister ihre Zugriffsstatistiken gerne ins günstigste Licht stellen, lesen in Wahrheit am Bildschirm auch nicht mehr Leute Literaturzeitschriften als auf Papier, bloß der Vertrieb ist ein ganz anderer. In print oder online – eine Zeitschrift bleibt eine Zeitschrift.

Und als solche kann die zweisprachige Gangway bereits auf stolze Erfolge verweisen. Ian Kennedy Williams ist von Penguin Books durch unsere Erstveröffentlichung eines Romankapitels entdeckt worden, Ingeborg Bachmann wird nach einer bei uns veröffentlichten Übersetzung Angelika Fremds von Mark-Anthony Turnage in London vertont, und Ruark Lewis wird im kommenden Sommer in der liteaturWERKstatt berlin aufgeführt, um nur drei Beispiele zu nennen. Es ist für unsere AutorInnen keinesfalls von Nachteil, “nur im Netz” veröffentlicht zu sein.

Soweit zur Relativierung des in meiner Jugend noch für die große weite Welt gehaltenen Grazer Literaturbetriebes. Aber wie auch immer, hier ist nun nachzulesen, was in kurzer Zeit an Literatur um, aus und über diese kleine Stadt namens Graz zu sammeln war, in deren “Kulturjahr”. Es wird noch viel Wasser unter der Murbrücke (und um die neue Murinsel) fließen, bis sich so eine Gelegenheit der internationalen Vernetzung mit der Neuen Welt für die wohl heimlichste aller Literaturhauptstädte wieder ergibt. Dass ich diese Sondernummer trotz des entgegen gebrachten Widerstandes mancher Kreise durchgezogen habe, beweist jedenfalls eines: ich bin doch ein Grazer.

Siegfried Holzbauer

248 verfleischungen

alt dicht dick dunkel dürr eitel ernst fallend feiner fingerlos finster flach flink frech frei frisch fromm fröhlich grau groß größer grün gut halb hart heiß heiter hell hoch hohl jung junger kahler keck keusch klar klein klug knapp kurz kühn lang lieb lustig mager matt mild rasch reich reif rund sauer scharf schnell schneller schön standfest stark stolz süß wach weiß wild fast herunter kontra lange näher neuer nieder ober oder schier voller weniger wieder will arbeiter bauch bäcker bär brücke bürgermeister demut dunst eingang engel erben essen falle feier feiertag fels fieber finger fleck fleisch fleiß fluch freund frosch fuß futter gastgeber gärtner geiger geist glas glück groll grund gruß haar habe hader hahn hain hammer haupt haut hecht heim helfer helm henkel herbst herz heu himmel holz horn hügel jäger kalb käfer keller kerl kern klammer knall knebel knopf koch körper kopf korb krach kraft kranz krebs kreuz krieg krug kummer kunst lager lamm lauer leiter linke list macher mann marsch maurer mund music muster nagel paar pech pein pfau pilger pilz preis rauch rausch reicher reis richter riese rinder ring riß ritt rohr rose rumpf schaden schall schatz scherz schiefer schild schmuck schmutz schnur schrank schrei schrott schuh schulter siegel sieger sommer spiegel spieler staub stein stengel stern stich stoff strauch streit sturm teufel topf tratsch trieb trost ursprung vogel volk wahl wald wächter wild wind wirt wolf wunder wunsch wurm wurst zahn zettel zimmer zorn greif lach lenk mach merk rief schenk trenn

 

Vor 10 Jahren hatte ich eine Lesung im “Theatro” in Graz, bei der ich den Text “362 verfleischungen” gelesen habe. Es sind dies alle Personen im Linzer Telefonbuch, die ein “normales” Wort als Namen haben, wie z.B. Herz, Liebe, Tod, Zufall etc. Diesen Text habe ich nun wieder ausgegraben, mit dem aktuellen Grazer Telefonbuch verglichen und alle Worte/Namen rausgestrichen, die dort nicht vorkommen.

Hermann J. Hendrich

nach Graz, in Graz, um Graz herum

zwei ereignisse überraschten mich in Graz nach meiner rückkehr aus den USA im sommer 1963: die meldung von der ermordung des Kennedy und die sondernummer der Kleinen Zeitung mit der umfangreichen literatur-beilage: da waren die neuen grazer autoren.

im zug über den Semmering den Spiegel lesend was schwarze hände bedeutete in dieser zeit ohne nachtquartier schliesslich eine matratze in einem verschlag der Neuen Galerie nach dem genuss von mehreren schnäpsen bei der Tante am morgen über den Schöckel nach ermüdendem marsch in Peggau in den zug nach norden.

im schnellzug aus Wien über den nicht mehr verschneiten Semmering den neuesten Spiegel interessiert durchlesend was leider auf grund der damaligen papierqualität schwarze hände bedeutete mit dem rucksack abgeholt geworden und zu fuss ein erklärender rundgang durch die innenstadt von Graz es war aber kein richtiges nachtquartier eingeplant worden, mein freund lebte selbst in bescheidenster untermiete so blieb ihm nichts anderes übrig, als mir eine matratze in einem verschlag der Neuen Galerie, in der er tagsüber zusammen mit Hartlauer restaurierte, anzubieten, und nach dem genuss von mehreren schnäpsen bei der Tante in der dunklen seitengasse, wo ich einigen stammgästen vorgestellt wurde, schlief ich wohl gut ein, konnte aber bis zum morgen nicht aus der galerie hinaus weil mein freund abschliessen musste. nach einem kargen frühstück fuhren wir mit dem bus nach Radegund und bestiegen den Schöckel. es war schon ziemlich warm und der ermüdende marsch endete erst am nachmittag am bahnhof von Peggau. ich nahm allein den zug nach norden, der am sonntag nachmittag voll besetzt war und ich in der schlechten luft beim stehen einfach umfiel, jemand fing mich auf.

aufgefangen wurde ich schon, von einem hilfreichen älteren mann oder zwei, da ich umgefallen war aus dem stehen in der stickigen luft in dem vollbesetzten waggon an einem sonntag nachmittag, nach norden fuhr dieser zug ohne den freund mit mir. in Peggau am bahnhof rasteten wir am nachmittag zum erstenmal nach dem ermüdenden marsch, es war auch schon ziemlich warm.

vom Schöckel rannten wir nach Radegund hinunter und nahmen den bus nach Graz, um unser karges frühstück einzunehmen. mein freund hatte abgeschlossen, so konnte ich aus der Neuen Galerie nicht hinaus und musste bis zum morgen warten, geschlafen hatte ich wohl gut, da ich nach meiner vorstellung einiger stammgäste schon in der dunklen seitengasse bei der Tante einige schnäpse genossen hatte, er hatte mir in der galerie, in der er tagsüber mit Hartlauer zusammen restaurierte, in einem verschlag eine matratze angeboten, übrig war ihm ja nichts anderes geblieben, weil er selbst in bescheidenster untermiete lebte, ein eingeplantes nachtquartier in richtiger weise in der innenstadt von Graz nach dem rundgang mit erklärungen langten wir zu fuss mit dem rucksack und schwarzen händen auf grund der papierqualität der damaligen zeitschriften die ich mit interesse gelesen hatte, besonders den neuesten Spiegel, über den Semmering ohne schnee aus Wien mit dem schnellzug.

mit dem leichten sausen, das ich vor dem ereignis verspürte, erwartete ich schon noch, dass der harte aufprall am schmutzigen boden des waggon passieren würde, aber ich wurde von einem hilfreichen älteren mann, es könnten auch zwei gewesen sein, die irgendeine wanderkluft trugen, so aufgefangen, dass mir nichts passierte. sollte ich jetzt das erste und letzte ereignis in meinem gedächtnis verfolgen? im waggon herrschte eine besonders stickige luft, der schweiss sovieler wanderer hatte eine besondere schwüle im vollbesetzten waggon erzeugt, es war an einem sonntag nachmittag, nach norden fuhr dieser zug mit mir auf einer der bänke gelandet, ich konnte nicht ablehnen, weil mir auch das sprechen für kurze zeit abhanden kam, an den freund dachte ich nicht mehr. nach Peggau führte mich eigentlich nie etwas besonderes, damals allerdings rasteten wir am bahnhof am nachmittag zum erstenmal auf den bänken am perron nach wien, bis mein freund über die unterführung zur richtung nach Graz mich verabschiedete, ich dachte an den langen marsch, dessen letzter teil schon wirklich ermüdend war, weil die ersten frühlingstage in der Steiermark ausgebrochen waren und wir neben dem gehen viel geredet hatten. wir waren vom Schöckel gekommen, dem markierungszeichen für meine späteren annäherungen nach Graz über die autobahn, alle die strassen die ich im auto genommen hatte, um dorthin zu kommen. sind wir damals wirklich den Schöckel hinuntergerannnt, um voller hunger den bus nach Graz zu erreichen? es war einer der lieblingsausflüge meiner schwiegermutter. mir erschien damals dieser berg, oder diese ansammlung von wäldern, forststrassen, beförderungsmitteln, berghütten, wirtshäusern, wiesen und nicht zuletzt parkplätzen eine art märchen zu sein. aber wir sollten irgendeine wurst am hauptplatz zu uns nehmen, eine art frühstück ohne kaffee oder tee, weil der platz in der Neuen Galerie, aus der mich mein freund abgeholt hatte, gar nichts anzubieten hatte, sogar auf das clo musste ich warten. schlafen war für mich damals kein problem, die reise über die verschiedenen jugendgästehäuser bis Oldenburg war noch präsent. überdies hatte der abend in der seltsamen bar bei der Tante geendet, wo mich mein freund den trinkenden stammgästen vorstellte. es war sehr dunkel dort, mir war der ort fremd, ich fühlte mich ausgeschlossen. es war wenigstens nahe zu meinem sogenannten schlafquartier, das mein freund in der galerie, in der er tagsüber die rokokokachelöfen sorgfältig restaurierte, vorbereittet hatte; die gesamtleitung hatte der bildhauer Hartlauer inne, der sich nach dem behauen von unzähligen kreuzsteinen selbst ums leben gebracht hat, und dieser schlafplatz bestand aus einer flachen matratze in einem verschlag in eben dieser galerie. mein freund lebte in bescheidensten verhältnissen in untermiete weit ausserhalb des stadtzentrums und musste nach dem er mich praktisch in der galerie ohne wasser und clo eingeschlossen hatte – er war für den schlüssel und die sicherheit verantwortlich – zu fuss nach hause marschieren. aber immerhin verbrachte ich diese nacht in der Sackstrasse in völliger ruhe, vermutlich war es auch die nacht von samstag auf sonntag, anders hätte ich wohl kaum den rundgang in der innenstadt mit den erklärungen meines freundes beenden und mit meinem mässig schweren rucksack den bahnhof erreichen können. meine dunklen hände stammten von der druckerschwärze von dem schlechten papier, auf dem der damalige Spiegel gedruckt worden war. so sass ich ruhig und irgendwie müde gerüttelt über dem Semmering ohne irgendwelchen schneebelag (war ich nicht erst vor kurzem auf dem Stuhleck schifahren gewesen?) nach Wien in dem noch dampfgezogenen schnellzug.

im schnellzug, der noch von einer dampflok gezogen worden war fuhr ich aus Wien in erinnerung an einen kürzlichen schiausflug auf das Stuhleck über den unverschneiten Semmering und sass müde gerüttelt aber sonst ruhig mit einer zeitschrift an einem fensterplatz. der damalige Spiegel war auf recht schlechtem papier gedruckt, sodass ich nach dem umblättern der nummer dunkle finger bekommen hatte. vom bahnhof aus begannen wir – ich trug meinen rucksack – unter den erklärungen meines freundes einen innenstadtrundgang in erwartung der nacht von samstag auf sonntag. in völliger ruhe schlief ich diese nacht in der Sackstrasse. mein freund musste wegen der späten stunde zu fuss nach hause marschieren, er war immerhin für den schlüssel und die sicherheit verantwortlich, nach dem er mich ohne wasser- und WC-zugang in der galerie eingeschlossen hatte, um sein weit ausserhalb des stadtzentrum gelegenes bescheidenes untermietzimmer zu erreichen. in der galerie befand sich nur eine art verschlag für werkzeug und material samt einer flachen matratze, auf der ich lag, der mann, der sich selbst nach dem behauen von unzähligen kreuzsteinen ums leben gebracht hat, war der bildhauer Hartlauer, der die gesamtleitung inne hatte. die sorgfältige restaurierung von den vorhandenen rokokokachelöfen war tagsüber die aufgabe meines freundes, wenigstens lag mein provisorisches schlafquartier nahe. ausgeschlossen fühlte ich mich, die bar war mir fremd, es war dort auch sehr dunkel. meine vorstellung bei den trinkenden stammgästen durch meinen freund bedeutete mir nicht viel, das ende bei der Tante in dem seltsamen lokal war an diesem tag erreicht. in meiner erinnerung an Oldenburg und die verschiedenen jugendgästehäuser einer autostopreise, die ich vor nicht so langer zeit unternommen hatte, gab es auch kein problem mit miesen schlafstellen. dass ich auf das clo warten musste, weil das angebot in der Neuen Galerie, in die mich mein freund gebracht hatte, aus fast nichts bestand, wurde durch das frühstück ohne tee oder kaffee am Hauptplatz beim würstelstand wettgemacht.

wie ein märchen erschienen mir die parkplätze, wiesen, wirtshäuser, berghütten, beförderungsmittel, forstrassen und wälder in ihrer ansammlung an diesem berg, den ich später als lieblingsausflugsziel meiner schwiegermutter noch besser kennen lernen sollte. nach Graz war der bus voller hunger zu erreichen, so rannten wir eben den Schöckel hinunter. kommt man dorthin, im auto über alle jene strassen, über die autobahn nach Graz, findet man für die annäherung das markierungszeichen, die dachförmige gestalt des Schöckel. wir hatten viel neben dem gehen geredet , in der Steiermark waren die ersten frühlingstage ausgebrochen, und ermüdeten am letzten teil des langen marsches, bis der abschied bei der unterführung richtung Graz von meinem freund eintrat, wir rasteten auf den bänken am perron nach Wien zum erstenmal an diesem nachmittag, andere aufgaben hätten mich sonst nie nach Peggau geführt.

an den freund konnte ich nicht denken, für kurze zeit war mir auch das sprechen abhanden gekommen, ich konnte nicht ablehnen, dass man mir einen sitz auf einer bank freigemacht hatte in diesem zug nach norden, am nachmittag eines sonntags, im vollen waggon herrschte eine besondere schwüle auf grund der vielen wanderer in ihren schweissfeuchten kleidern, die stickige luft erfüllte den ganzen waggon. es passierte mir nichts, da ich aufgefangen wurde, von in wanderkluft bestückten männern, es könnte auch nur ein hilfreicher älterer mann gewesen sein, bevor am schmutzigen boden des waggons ein harter aufprall erwartet wurde, und ich verspürte vor dem ereignis das gewohnte leichte sausen.

im schnellzug, der damals noch von einer dampflok gezogen worden war, fuhr ich aus Wien in erinnerung an einen kürzlichen schiausflug aufs Stuhleck über den unverschneiten Semmering das erstemal nach Graz und sass müde gerüttelt aber sonst ruhig mit einer zeitschrift an einem fensterplatz. zu dieser zeit hatte ich überhaupt keine ahnung davon, wie oft ich noch von Wien aus in diese stadt fahren würde, es sind in den 45 jahren wohl fünfhundert fahrten geworden. der damalige spiegel, dessen regelmässige lektüre jede woche für uns verpflichtend war, (die Zeit begann ich erst ein paar jahre später zu lesen) war auf recht schlechtem papier gedruckt, sodass ich nach dem umblättern immer dunkle finger bekam, und bei dem zustand der zugstoiletten auch kaum den wunsch hatte, diese mir vor erreichen des zieles zu reinigen. mein freund erwartete mich am bahnhof (ich hatte ihn nicht so lange vorher im Studio für Modern Jazz kennengelernt, in dem ich mich engagierte) und begannen mit leichtem gepäck, ich hatte nur einen kleinen rucksack bei mir, unter seinen erklärungen einen innenstadtrundgang, bevor die nacht von samstag auf sonntag einbrach. im gegensatz zu Wien konnte ich keine sichtbaren zerstörungen alter häuser oder eben durch neubauten ersetzte bombentreffer erkennen. sehr ruhig verlief die nacht in der Sackstrasse. allein zu sein und auf das eigene ruhige atmen zu hören. mein freund hatte noch in der nacht zu fuss nach hause marschieren müssen, denn er war für den schlüssel zur und für die sicherheit der galerie verantwortlich. das war auch der grund, warum ich eingeschlossen werden musste und keinen nächtlichen zugang zum wasser oder abort hatte, er selbst wohnte in bescheidenster untermiete weit ausserhalb der innenstadt. es war die zeit, wo wir viele gemeinsame pläne entwickelten, wie wenig realisierte sich daraus? in der galerie gab es eine art verschlag für das werkzeug und das material nebst einer flachen matratze, auf der ich lag, der mann der sich selbst nach dem behauen vieler kreuzsteine ums leben gebracht hat, war der bildhauer Hartlauer, der die gesamtleitung des restaurierungsvorhaben inne hatte. er gehörte zu einer generation von künstlern, in der manche eigene lebensbeendigungen durchführten, da sich kein künstlerischer erfolg trotz jahrzehnterlanger ehrlicher bemühung eingestellt hatte. die sorgfältige restaurierung von rokokokachelöfen – die natürlich nie mehr beheizt werden sollten – war die aufgabe meines freundes, und von meinem schlafplatz aus konnte ich sogar in der dämmerung eines dieser seltsamen gebilde ausmachen. der gebrauch des steirischen idioms war mir fremd, ich fühlte mich in der bar etwas ausgeschlossen, insbesondere durch die düstere beleuchtung. den gesprächen, die mein freund führte, konnte ich nicht ganz folgen. er hatte mich schon den ihm gut bekannten stammgästen vorgestellt, die sich bis zum ende bei der Tante in dem seltsamen lokal mit schnaps besauften. wer an diesem abend dabei war und mir viel später als autor bekannt wurde, weiss ich nicht. in der stille erinnerte ich mich an Oldenburg und die vielen anderen jugendgästehäuser, in denen ich auf meiner autostopfahrt durch Deutschland mässig genächtigt hatte, die schönste nacht war in einem strohmanderl verbracht. dort notierte ich einen der schlüsselträume meiner jugend. nach dem erwachen gab es eine unruhige wartezeit, bis mir mein freund aufsperrte und ich ans clo konnte. In der Neuen Galerie gab es nichts, so mussten wir unser frühstück am Hauptplatz an einem Würstelstand einnehmen. (bei meinen späteren aufenthalte habe ich die würstelstände am Jakominiplatz vorgezogen!) wir machten uns zum sonntagsausflug auf: wie ein märchen erschienen mir die parkplätze, wiesen, wirthäuser, berghütten, beförderungsmittel, serpentinen, forststrassen und wälder in ihrer gesammelten buntheit an diesem berg, den ich jahre später als das lieblingsausflugsziel meiner schwiegermutter noch besser kennenlernen sollte. vielleicht sollte ich dort noch einmal hinaufgehen, aber lieber wäre mir noch der Wildenkogel. nach Graz war der bus voller hunger bald zu erreichen, so rannten wir eben den Schöckel hinunter. kommt man dort vorbei, vielleicht im auto über alle jene strassen, die ich in den 45 jahren benutzte, jetzt über die autobahn, und immer nach Graz, findet man für das näherkommen dieses wuchtige markierungszeichen, die dachförmige gestalt des Schöckel. wir betrachteten uns als gebildete menschen, die etwas neues machen wollten: aber wenn ich an das denke, was ich seither gelernt habe? trotzdem akzeptiere ich mein manus aus dieser zeit ‘bergsommer’. wir hatten eben viel im gehen geredet, in der Steiermark waren die ersten frühlingstage ausgebrochen, deren wärme uns zusätzlich ermüdeten an diesem letzten teil des langen marsches, bis der abschied an der unterführung der eisenbahn richtung Graz von meinem freund begann. ich hasse abschiede am bahnhof und gehe immer eilig nach dem kofferhineintragen davon. wir hatten auf den bänken am perron nach Wien gerastet an diesem nachmittag, andere aufgaben hatte ich nie in Peggau zu erledigen, den zement kaufe ich anderswo. beim einfahren des zuges in die station wirkte er schon vollbesetzt. an den freund dachte ich längst nicht mehr, für kurze zeit war mir sogar das sprechen abhanden gekommen, ich konnte gar nicht ablehnen, als man mir einen sitz auf einen der holzbänke freigemacht hatte in diesem zug nach norden, am nachmittag eines sonntags. in dem vollen waggon herrschte eine besondere schwüle, die noch von dem schweiss der vielen heimfahrenden ausflügler verstärkt wurde, die stickige luft erfüllte den ganzen wagen. nichts war mir passiert, als mich nach dem auffangen durch einige mit kniehosen bekleideten männern ein hilfreicher älterer mann vor dem aufprall auf dem schmutzigen boden des waggons bewahrte, den ich noch erwartet hatte, bevor mich mein bewusstsein mit einem leichten sausen kurz verlassen hatte.

Monika Wogrolly

In Graz bin ich

Thomas Bernhard meinte, in Graz müsse man nicht gewesen sein. Aber neulich, als ich in Innsbruck in den Zug einstieg, wehte es mich an, schon angesichts des Wortes auf der Tafel mit den Bestimmungsorten: Innsbruck – Selzthal – Leoben – Graz; in der Erinnerung sind mir gewiss Zwischenstationen entfallen. Aber wozu Zwischenstopps einlegen? Ich fliege direkt nach Graz. Ich zieh mir die Bergschuhe an und eile auf den Schöckl. “Es gibt ja bei euch keine Berge”, hat am Vorabend ein gepiercter Tiroler bei Mc Donald’s zu mir gesagt. Wir tauschten Blicke und Pommes, da ich ein reguläres Fish-Mac-Menue hatte, aber er hatte Super-size. Er war Feinmechaniker und schätzte mich auf achtundzwanzig. Ich ihn auf siebzehn. Beides war weit verfehlt, er war älter, ich auch, und die Nacht gab sich mit uns solidarisch und ging gegen eins.

“Um eins noch ein warmes Essen!”, rief jemand am nächsten Tag, dem ich davon erzählte. Also wie ist das mit Graz? “So etwas wie Wärme”, sage ich, “so wie wenn ich Marylin Monroe bin und mit dem Glockenkleid, dem Fifties-Kleid über diesem Luftzug stehe, du weißt schon.”

Der Tiroler nickt und meint, kein Studium zu schaffen. Ich gebe ihm die größere Packung Pommes, er mir die kleinere. Die Angestellte hat sie erst nachbringen müssen und vertauscht. “In fremden Städten geh ich gern zu Mc Donald’s”, murmle ich. “Da fühlt man sich zu Haus. Zum Beispiel vor zwei Jahren in Oslo. Fünf Fish-Mc-Menues in sieben Tagen. Rekord!” – “Und in Graz nicht?” – “In Graz geh ich lieber auf den Schöckl statt zu irgendeiner Fastfoodkette. Jetzt gibt’s auch Burger-King-Menues, dort beim Seiersberg-Einkaufscenter.” –

“Ich wähle den steilsten Weg”, sage ich, “den soll auch Wolfi Bauer in seinen besten Tagen dreimal wöchentlich absolviert haben: beim Schöckelkreuz geh ich los und fast senkrecht hinauf…” – “Und wie geht’s dem Wolfi Bauer jetzt?” – “Er hat wieder Power.” – “Willst du?” – “Danke, ich hab eigenes Ketchup. Also wir haben auch Berge…” – “Oh…” –

Das Gefühl beim Einsteigen in den Eisenbahnwaggon, ehe der Schaffner mich, wie seit Jahren alle Schaffner, zurechtwies für meine auf den schäbigen Sitzbezügen gelagerten Füße mit Schuhen, ein Dampf, ein Luftzug, angenehm und irgendwie an der Grenze zu tödlich.

Und als ich in Graz am neuen Bahnhof ankomme, seh’ ich als erstes Gammler um einen Tisch herum sitzen, dort bei der Straßenbahn. Welch ein Anblick! Irgendwie intim. Nicht wie die Karlsplatz-Gestalten, bei denen du dich fragst, wie lang es sie noch gibt. Unsere Gammler sind Monumente. Globalisierungsbedingt schwankt meine Sprache manchmal etwas; sollte ich nicht statt Gammler Sandler sagen, Clochards, Obdachlose, Männerheiminsassen, Alkoholiker, Schizophrene, Vagabunden, Arbeitslose, Tagediebe, Gottes vergessene Kinder?

Ich bin Marylin und spüre die warme Luft unter mir, wovon es mir das Kleid bauscht. Mir bauscht es die Haut, die Sehnen treten hervor, während ich, an den Tiroler Feinmechaniker bei Mc Donald’s zurückdenkend, die Schöckel-Höhle erreiche. Ist Bauer hier nie hineingestürzt? – Ich auch nicht.

Nun – ich könnte um achtzig Euro einen ersten Tandemflug in Paragliding wagen, gleichsam als Rucksack eines Anderen. Ich schaue hinunter, denke daran, auch schon bei Schnee und Eis hier herauf geeilt zu sein, zwanzig Minuten damals und heute – wegen zu vieler Gedanken, die das Tempo drosselten – dreißig. Später kehre ich auf eine Salatplatte beim Schöcklbartl ein, das Gasthaus, das ich dem schon wieder nicht bewirtschafteten Alpenvereinshaus vorziehe.

Wir haben einen neuen Bürgermeister, denke ich. Das ist der Höhenkoller, bedingt durch akute Sauerstoffunterversorgung des Gehirns und Zunahme der roten Blutkörperchen in mittleren Höhen, sage ich mir, solche Gedankensprünge zu haben: von Bauer zum Paragleiten zur Salatplatte zu Nagl zu weiß-nicht-wohin-noch zu fliegen –

Ein Potpourri der Namen und Orte in meinem Kopf. Jetzt will ich wieder hinunter. Ewiges Auf und Ab. Bauer tat das dreimal die Woche! Stimmt das auch?

“Du magst Tirol so, weil ihr bei euch keine Berge habt”, belehrte mich der Feinmechaniker und hatte einen unglaublich schmalen Schädel.

Ich bin nicht Marylin. Ich komme in Graz an. Immer wieder. Warum? Wegen der warmen Luft, wegen dem Gemisch aus Auspuffgasen, Honig und Asphalt. Wegen der Tränen und der Reue. An jeder Ecke steht ein Gespenst, das Gerippe der Vergangenheit, sehe ich mich küssend und Kinderwagen schiebend, laufend und stehend, mit einem, zweien, hunderten Menschen, überall gelebt, gelacht, gewohnt und wieder davongerannt, glühen alte Augenblicke auf. Nur hier sind sie erhalten.

Der warme Luftzug sagt mir: In Graz bin ich.

Mona May

Dialog Verlorene Freiheit

(Sprecherin)

Mir hat man den Mund geraubt. Den Mund der Märchen und den Mund der freien Gedanken. Ach, könnt ich nur wissen, wie es war.

(Sprecher)

Es gibt kein Zurück. Es gibt kein Entrinnen. Ist der Ausweg versperrt, wird das Intimste betatscht, des Menschen Seele und Geist, noch bevor er in seinem Körper den ersten Atemzug tut, ist sein Leben geplant, da liegt er schon auf dem Streckbett der Manipulation und die Maschinerie arbeitet an ihm. Es wird ziseliert, gefräst, geschliffen und zum Schluss werden Nägel in seinen Kopf geschlagen, die sollen den Rest an Willen und das gebrochene Herz zusammenhalten. Die Welt leidet dann an Kreaturen, die sich selbst nicht lieben und die wiederum andere Kreaturen zur Schlachtbank führen.

Einmal hat mich einer gefragt: “Was tun Sie mit Ihrer Freiheit?” Ich schüttelte nur den Kopf, ich wusste ja nicht, wovon er sprach!

 

Dieser Textauszug ist der 1. Dialog aus “Mahnmahl”, 2001 anlässlich einer großen Tanztheater-Produktion geschrieben und heuer im März als eigenständiges Werk im Rahmen des “tête-à-tête” – einer kulturpolitischen Aktion-Gegenaktion betreffend Graz 2003 – inszeniert und aufgeführt.

Monika Mokre

Graz 2003, oder: Die Privatisierung der Kunstpolitik

Fakten und Hintergründe

Das Kulturhauptstadt-Programm

Das EG-Programm “Kulturhauptstadt der Europäischen Union” wurde im Jahr 1985 aufgrund eines Vorschlags der damaligen griechischen Kulturministerin und ehemaligen Sängerin, Melina Mercouri, ins Leben gerufen. Ziel des Programms war es “der europäischen Öffentlichkeit besondere kulturelle Aspekte der Stadt, der Region oder des betreffenden Landes zugänglich” zu machen. Von 1985 bis 2002 durften insgesamt 28 Städte diesen Titel tragen. Von 1985 bis 1999 wurde pro Jahr eine Stadt gekürt, im Milleniumsjahr sollte das Programm eigentlich mit dem pompösen Abschluss von neun zeitgleichen Kulturhauptstädten beendet werden. Aufgrund seiner großen Beliebtheit und zahlreicher Bewerbungen wurden jedoch für die Jahre 2001, 2002 und 2004 je zwei Städte zur Kulturhauptstadt ernannt. Nur für das Jahr 2003 gelang es Graz aufgrund geschickten Verhandelns und wegen formaler Einwände gegen die nicht-europäische Stadt St. Petersburg als zweite Kulturhauptstadt den Status der einzigen europäischen Kulturhauptstadt zu erringen.

Seit 2000 ist das Kulturhaupstadt-Programm Teil des größeren Schwerpunktes “Kultur 2000”. Das Ziel von Kulturhauptstädten wird im Programm von “Kultur 2000” folgendermaßen definiert: “Der Reichtum, die Vielfalt und die Gemeinsamkeiten des kulturellen Erbes in Europa sollen herausgestellt und ein Beitrag zu einem besseren Verständnis der Bürger Europas füreinander geleistet werden.”

Im Jahr 1999 wurde das Kulturhauptstadt-Programm evaluiert. Zwar waren die Ergebnisse dieser Auswertung insgesamt eher positiv, doch wurde festgehalten dass “ diese positiven Auswirkungen (…) jedoch nicht immer über die Dauer der Veranstaltung hinaus angehalten (haben). Es wird zwar anerkannt, dass die öffentlichen Entscheidungsträger in den Städten dafür zuständig sind, über den Inhalt ihres Projekts zu entscheiden, doch sollten sie darauf aufmerksam gemacht werden, dass das kulturelle Projekt in einen mittelfristigen dynamischen Prozess zu integrieren ist.” Daher soll es ab 2005 Evaluierungen der Kulturhauptstädte geben.

Die Geschichte von Graz 2003

Graz ist mit etwa 240.000 EinwohnerInnen die zweitgrößte Stadt Österreichs, wird jedoch jährlich von sehr viel weniger TouristInnen besucht als vergleichbare österreichische Städte: Im Jahr 2001 wurden in Graz etwa 600.000 Nächtigungen verzeichnet, das sind etwa so viele wie in Linz, aber deutlich weniger als in Innsbruck (1,2 Millionen), Salzburg (1,6 Millionen) oder gar Wien (7,6 Millionen).

Die Erhöhung der Attraktivität für den Städtetourismus war denn auch das Hauptargument für den früh verstorbenen Kulturökonomen Clemens Andreae, der Grazer Stadtregierung schon im Jahr 1988 zu raten, sich um den Titel der Kulturhauptstadt zu bewerben. Die Stadtväter (Mütter gab es wohl keine) nahmen sich diesen Rat zu Herzen, doch hatten sie vorerst keine Chance, da sie als Stadt in einem Nicht-EG-Land an dem Programm nicht teilnehmen konnten. Als Trostpflaster durfte Graz im Jahr 1993 zumindest den Kulturmonat ausrichten. Was eher schlecht denn recht gelang, glaubt mensch zeitgenössischen Medien- und Kulturleuten. In den Salzburger Nachrichten etwa hieß es: “Die Chance, sich inhaltlich neben den Kulturzentren Wien, Salzburg und (dem direkten Konkurrenten) Linz auf markante Weise zu positionieren, wurde vertan. (…) Wenn Graz etwas dringend braucht, dann Zugluft. Kein retrospektives Mammut-Programm, kein Schielen auf das Buch der Rekorde, kein unentwegtes Lorbeerkranz-Flechten für die alten Haudegen. (…) Was dem Kulturmonat insgesamt gefehlt hat, war Dynamik, war Herzblut, war ein Aufzeigen von Visionen, von Richtungen.” (siehe: T. Trenkler, Graz. Wer hätte das gedacht? In: Der Standard, 4.1.2003) Die städtischen PolitikerInnen wiesen diese Kritik allerdings zurück und kündigten an, künftig jährlich einen Kulturmonat durchzuführen; dies wurde indes nicht realisiert. Hingegen bemühte sich Graz auch in den Jahren danach um den Titel der Kulturhauptstadt. Eine erste Chance dazu gab es im Jahr 2000 – als zehnte Stadt – doch darauf verzichtete Kulturstadtrat Helmut Strobl, der letztendlich auch die Ernennung für das Jahr 2003 durchsetzte.

Die Organisation von Graz 2003

Das Programm von Graz 2003 wird von der Graz 2003 Ges.m.b.H. entwickelt und durchgeführt, einer Gesellschaft, die von der Stadt Graz gegründet wurde. Die Ges.m.b.H. verfügt über ein Kapital von 51,37 Millionen €, von denen je 18,17 Millionen von der Stadt Graz und dem Land Steiermark kommen, 14,53 Millionen von der Republik Österreich und eine halbe Million von der Europäischen Kommission. Die Zielsetzungen und auch die Organisation von Graz 2003 sind im Gründungsvertrag der Gesellschaft nur sehr allgemein beschrieben. “Gegenstand des Unternehmens ist die Vorbereitung und Durchführung aller Vorhaben, die die Umsetzung der Ziele der Stadt Graz für das Projekt ‘Kulturhauptstadt Europas 2003’ zum Ziel haben” (Notariatsakt vom 3. März 2000, Dr. Werner Hubmer, öffentlicher Notar, Geschäftszahl 3256, S. 3), heißt es da, während etwa im Gesellschaftsvertrag für ein anderes ausgegliedertes österreichisches Kulturunternehmen, das Museumsquartier in Wien, der Unternehmensgegenstand in drei Hauptpunkten und acht Unterpunkten über anderthalb Seiten festgelegt ist. Zwar sind gegen die knappe Formulierung des Gründungsaktes keine rechtlichen Bedenken zu erheben, doch scheint aus demokratietheoretischer Sicht zweifelhaft, ob mit einer so unspezifischen Aufgabenbeschreibung für eine öffentlich finanzierte Gesellschaft kulturpolitische Verantwortung angemessen wahrgenommen wird.

Interpretation

Das Kulturhauptstadt-Programm der EU ist außergewöhnlich ungenau, sowohl in Hinblick auf seine allgemeinen Ziele, als auch in Bezug auf die Durchführung in den einzelnen Städten. Dies lässt sich wohl daraus erklären, dass es eines der ersten Kulturprogramme der Europäischen Gemeinschaft war und die EG kulturelle Aktivitäten stets mit großer Vorsicht entfaltete, da Kulturpolitik eindeutig zu den Kompetenzen der Mitgliedsstaaten gehört. Diese Vorsicht war im Sinne der harmonischen Entwicklung der europäischen Integration sicherlich sinnvoll, denn Kulturpolitiken sind traditionell eng mit Konzepten kultureller Identität verknüpft und die Autonomie nationaler kultureller Identitäten war stets ein wesentliches Anliegen der Mitgliedsstaaten. Erst 1999, in der Präambel zu “Kultur 2000” wurde eine europäische kulturelle Identität behauptet, doch auch dies sehr gewunden und unter expliziter Erwähnung der kulturellen Identitäten der Mitgliedsstaaten. Es heißt dort “Gemäß dem Vertrag hat die Europäische Union zur Aufgabe, eine immer engere Union der Völker Europas zu verwirklichen sowie einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes zu leisten; besonders wichtig ist hierbei die Wahrung des Status der kleinen Kulturräume und der weniger verbreiteten Sprachen in Europa.”

Andererseits wurde während der letzten Jahrzehnte zunehmend deutlicher, dass die EU mehr ist als eine Freihandelszone, dass die “immer engere Integration” quasi automatisch zur Politisierung der Union führt, die eine Form von Kollektividentität als Grundlage benötigt. Denn nur wenn ich mich einer Gesellschaft in irgendeiner Form zugehörig fühle, bin ich bereit, Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren, in denen meine Meinung unterlegen ist. Demokratisierung hat daher Loyalität zu einer Gesellschaft als Voraussetzung.

Das Dilemma nationalstaatlicher Kompetenz und supranationaler Notwendigkeiten im Bereich Kulturpolitik führte zu den vorsichtigen und halbherzigen Aktivitäten der EG in diesem Bereich, wie sie sich im Kulturhauptstadt-Programm manifestieren. Die Rolle des Rates der EU und der europäischen Kommission beschränkt sich darauf, die teilnehmenden Städte auszuwählen und ihnen eine vergleichsweise geringe Geldsumme als europäischen Beitrag zuzuteilen. Das Programm liegt ebenso wie die Finanzierung fast vollständig in der Verantwortung der betreffenden Stadt. Trotzdem führt der Titel “Kulturhauptstadt der EU” vielleicht zu einer Art von Identifizierung zwischen der jeweiligen Stadt und der EU. Jedenfalls zeigt die Zahl der Bewerbungen, dass der Titel trotz der geringen finanziellen Beteiligung der EU erstrebenswert erscheint.

Dies mag indes weniger ideelle denn finanzielle Ursachen haben. Denn auch wenn der Beitrag der EU selbst gering ist, bedeuten doch die Beiträge anderer nationaler Gebietskörperschaften üblicherweise eine erhebliche Aufbesserung der städtischen Kulturbudgets. In Graz etwa kommen fast zwei Drittel des Budgets für die Kulturhauptstadt von Land Steiermark und der Republik Österreich. Während im Jahr 2002 etwas mehr als 10 Millionen € aus dem Budget der Stadt Graz für Kultur und Wissenschaft zur Verfügung standen, verfügt das Kulturhauptstadtjahr, wie schon erwähnt, über 52 Millionen €.

Das Programm “Kulturhauptstadt der Europäischen Union” macht also erhebliche Geldsummen ohne inhaltliche Auflagen für Kulturpolitik frei. Während in anderen Städten, wie Weimar 1999 und Porto 2001 trotz der zusätzlichen Mittel erhebliche finanzielle Probleme aufgrund der grundsätzlich prekären Finanzlage der Städte auftraten, konnte die wohlhabende Stadt Graz über diesen Mitteln ziemlich frei verfügen. Und während viele Städte wie Glasgow, Weimar und Porto einen großen Teil der Kulturhauptstadtmittel für bauliche Rekonstruktionen aufwandte, war auch dieser Bedarf in Graz nicht erheblich. Die Stadt hatte dadurch insgesamt einen größeren Freiraum in der Gestaltung des Kulturjahres als andere Kulturhauptstädte.

Eine solche Situation scheint gut geeignet, kulturpolitischen Zielsetzungen zu verstehen. Welche Konzepte entwickeln PolitikerInnen, welche Schwerpunkte setzen sie, wenn ein erhebliches Budget für Kunst und Kultur zur Verfügung steht und sie mehr oder weniger frei in der Verteilung dieser Mittel sind?

Im Falle von Graz 2003 ist die Antwort auf diese Frage eher erstaunlich: PolitikerInnen haben auf ihren kulturpolitischen Freiraum (und ihre kulturpolitische Verantwortung) verzichtet und die Gestaltungsmöglichkeiten für Graz 2003 ohne weitere Einschränkungen einer privaten Gesellschaft übergeben. Für diese ungewöhnliche Entscheidung könnten unterschiedliche Überlegungen ausschlaggebend gewesen sein:

  • Die österreichische Kulturpolitik seit 1945 (und auch davor) ist geprägt vom direkten Einfluss staatlicher Institutionen. Während der letzten Jahrzehnte wurde Kritik an dieser Form von Politik zunehmend lauter. Die Organisation von Graz 2003 könnte als ein Versuch verstanden werden, Kulturpolitik dem direkten Einflussbereich von PolitikerInnen zu entziehen.
  • Andererseits wäre es möglich, dass Graz 2003 den Grazer PolitikerInnen nicht besonders relevant erscheint. Vielleicht wollen sie ihre Zeit und Energie nicht auf ein Großereignis konzentrieren, sondern sich lieber langfristigen kulturpolitischen Strategien für die Stadt widmen und haben dieses Projekt daher ausgelagert.
  • Schließlich wäre es auch möglich, dass PolitikerInnen trotz oder gerade wegen ihres Interesses an Graz 2003 dieses Projekt einer privaten Gesellschaft überantwortet haben, da sie der Meinung sind, dass diese sich für die Durchführung besser eignet als die öffentliche Verwaltung. Eine solche Umstrukturierung würde einer generellen Tendenz in der EU und ihren Mitgliedstaaten entsprechen, “Regulierungsagenturen” zu schaffen, die Aufgaben übernehmen, die bisher PolitikerInnen und BeamtInnen übertragen waren.
  • Schließlich wäre es vorstellbar, dass die PolitikerInnen Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Graz 2003 befürchteten, von denen sie sich lieber fernhalten wollen. Gerade die Geschichte der Grazer Kulturpolitik zeigt eine Reihe von Skandalen und Problemen (etwa rund um das Forum Stadtpark), die eine solche Überlegung plausibel erscheinen lassen.

Unabhängig davon, welcher dieser Gründe am plausibelsten erscheint oder ob eine Kombination mehrerer Überlegungen für die Entscheidung über die Organisation von Graz 2003 ausschlaggebend war, stellt sich die Frage, wie diese Form der Auslagerung von Kulturpolitik aus normativer demokratietheoretischer Sicht einzuschätzen ist.

PolitikerInnen werden gewählt, damit sie die Verantwortung für politische Aktivitäten übernehmen, die aus Steuergeldern bezahlt werden. Während es in vielen Fällen günstig sein mag, die Durchführung kulturpolitischer Projekte “at arm’s length” von direkter politischer Intervention zu platzieren, besteht ein grundlegendes Prinzip der repräsentativen Demokratie darin, dass politische Zielsetzungen von politischen RepräsentantInnen festgelegt werden, also von Leuten, die ihre Position aufgrund von Wahlen erhalten und wieder verlieren. Zwar ist es legitim, dass Institutionen, die nicht aufgrund von Wahlen gebildet werden, Aufgaben im öffentlichen Interesse ausführen, doch müssen sie sich gegenüber gewählten Institutionen verantworten und diesen hierarchisch unterstellt sein.

Auf die Graz 2003 Ges.m.b.H. treffen diese Bedingungen nicht zu, denn der Gründungsvertrag legt keinerlei nachprüfbare Zielsetzungen und Sanktionsmechanismen für Nicht-Erfüllung fest. Zugleich sind die von der Graz 2003 Ges.m.b.H. vergebenen Gelder im Vergleich zu den regulären Kulturbudgets so erheblich, dass die Entscheidungen der Graz 2003 Ges.m.b.H. vermutlich über lange Zeit wesentlichen Einfluss auf das Grazer Kulturleben haben. Die erhebliche Definitionsmacht und fehlende kulturpolitische Kontrolle der Graz 2003 Ges.m.b.H. erscheinen also demokratietheoretisch höchst problematisch.

Gegen Argumente dieser Art wird häufig eingewandt, dass sie auf einem stark formalistischen Verständnis von Demokratie beruhen. Lässt sich denn aus der österreichischen Kulturpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg irgendeine kulturpolitische Überlegenheit öffentlicher Institutionen ableiten? Was hat die Monopolisierung kulturpolitischer Entscheidungen durch PolitikerInnen in den letzten Jahrzehnten gebracht? – Doch Demokratie kann nicht ausschließlich aufgrund ihrer Effektivität und Effizienz beurteilt werden, da sie in erster Linie eine Form der Entscheidungsfindung ist. Außerdem wird sich erst weisen müssen, ob die Graz 2003 Ges.m.b.H. der Kunst und Kultur in Graz besser dient als öffentliche Stellen. Die Nachwelt wird darüber zu urteilen haben, ob die Aktivitäten der Graz 2003 Ges.m.b.H. wesentlich für die Positionierung von Graz als internationaler Kunststadt sind.

Auf einer grundlegenderen Ebene stellt sich allerdings auch die Frage, ob es Kulturhauptstädten in erster Linie um diese Art künstlerischer Exzellenz gehen sollte. Ein wichtiges Ziel des Programms ist jedenfalls, wie bereits am Beginn dieses Artikels erwähnt, “der europäischen Öffentlichkeit besondere kulturelle Aspekte der Stadt, der Region oder des betreffenden Landes zugänglich zu machen.” Die Erfüllung dieses Anspruchs lässt sich sehr viel leichter bewerten als die künstlerische Exzellenz der Aktivitäten – und ist im Falle von Graz 2003 sehr skeptisch zu beurteilen. Hier einige Beispiele zur Illustration:

  • Viele der beauftragten Projekte werden von Grazer oder steirischen KünstlerInnen durchgeführt. Eines der prominentesten, sichtbarsten und auch teuersten Projekte, die Murinsel, beruht allerdings auf einem Konzept des internationalen New Yorker Künstlers Vito Acconci, und ist auch schlecht für die natürlichen Gegebenheiten der Mur, insbesondere ihre starke Strömung, geeignet. Die Insel ist daher nicht wirklich eine schwimmende Insel, sondern musste befestigt werden, damit sie nicht weggeschwemmt wird. Da es in Graz keinen Bedarf für eine künstliche Insel gibt, ist auch völlig unklar, wie dieses Werk nach 2003 genützt werden soll.
  • Die Verträge zwischen der Graz 2003 Ges.m.b.H. und den KünstlerInnen, die für die Kulturhauptstadt Projekte durchführen, sind außerordentlich problematisch und oftmals nachteilig für die KünstlerInnen. Einnahmen aus Sponsoring sind großteils an die Ges.m.b.H. abzuführen; Kritik an der Ges.m.b.H. oder Graz 2003 im allgemeinen wird mit Pönalen belegt. (Kleine Zeitung, 22.2.2002)
  • Von 2001 bis 2003 hat die Graz 2003 Ges.m.b.H. einen Prozess mit steirischen Kunstschaffenden um die Graz2003-Internetdomains geführt. Diese Domains wurden von den Kunstschaffenden bereits vor Gründung der Ges.m.b.H. gesichert. Dieser Rechtsstreit verdeutlicht das problematische Verhältnis zwischen der Durchführung kulturpolitischer Aufgaben im öffentlichen Interesse und den kommerziellen Interessen einer privaten Gesellschaft.

Diese Probleme machen deutlich, dass Zweifel an den positiven Effekten des Agierens der Graz 2003 Ges.m.b.H. für die Grazer Kulturszene angebracht sind. Wie insbesondere die beiden letzten Beispiele zeigen, ergeben sich tiefgreifende Konflikte nicht aus dem guten oder schlechten Willen der Verantwortlichen bei Graz 2003, sondern daraus, dass ein privates Unternehmen einer anderen Logik folgt als öffentliche Kulturpolitik. So wurden die kritisierten Klauseln in den Verträgen mit ProjektbetreiberInnen vom Geschäftsführer der Ges.m.b.H., Eberhard Schrempf, damit argumentiert, dass die Graz 2003 Ges.m.b.H. kein Fördergeber, sondern Firma und Projektpartner sei. (Kleine Zeitung, 22.2.2002) Doch die Interessen öffentlicher Kulturpolitik sind andere als die privater VeranstalterInnen und während die Vermeidung von Kritik durchaus das Interesse einer Firma sein kann, ist sie niemals mit den Zielsetzungen demokratischer Kulturpolitik zu vereinen. Die Souveränität einer Stadt und ihrer Kultur kann nicht den Geschäftserfordernissen einer privaten Gesellschaft überlassen werden und ist nicht in derselben Art verhandelbar wie Geschäftspolitiken. Der Erfolg demokratischer Kulturpolitik wird nicht an BesucherInnenzahlen oder Verkäufen gemessen, sondern an der Erreichung politischer Ziele. In Bezug auf Kulturpolitik bestehen diese Zielsetzungen in erster Linie in der Gewährleistung kultureller Vielfalt in mehrfacher Hinsicht:

  • Kulturelle Vielfalt der Regionen, Volksgruppen, Generationen;
  • Ökonomische Vielfalt von Institutionen und Unternehmen;
  • Inhaltliche/formale Vielfalt verschiedener Kunstformen;
  • Politische Vielfalt der Interessen und Meinungen.

Eine solcher Art definierte Kulturpolitik ist nicht nur formal demokratisch, sondern trägt auch zu einer substantiellen Form von Demokratie bei, indem sie öffentlichen Raum schafft, in dem konfligierende Standpunkte verhandelbar sind. Eine Kulturpolitik, die mit Steuergeldern bezahlt wird, aber gemäß den kommerziellen Standards einer privaten Firma durchgeführt wird, und zugleich dieser Firma ein Monopol der Kulturfinanzierung in einer Stadt überträgt, kann als Gegenteil des hier skizzierten Konzeptes demokratischer Kulturpolitik verstanden werden.

Gernot Lauffer

Politik und (Subventions-)Kultur

In Stainz 6.1.03

Österreich ist ein besetztes Land.
oder
Geben wir uns Gedankenfreiheit, Sire!

In Stainz ruft der Hirschmann die Kreativen zusammen. Die SPÖ hat die “Kultur”, der Hirschmann nimmt die Funktion des “Schattenministers” wahr. Da sitzen sie nun alle, die Künstler in ihren bunten Trachten, voller Hoffnung, zu etwas Staatsknete zu kommen. Ein exzentrisches Völkchen, die übliche Mischung aus Besessenheit, Verschrobenheit, Weltfremdheit, hermetischer Isoliertheit und – Opportunismus.

Ich komme zu spät. Am Wort ist gerade Andreas Braun, Kulturmanager von Swarovski in Wattens, vorher der sehr erfolgreiche Chef der Tirol-Werbung. Ein Tiroler, wie er im Buche steht, kernig, selbstbewußt, lakonisch, direkt.

Er erzählt die üblichen Geschichterln für Unbedarfte: Wie erfolgreich er sei, wie er das alles gedeixelt habe mit den Kristallwelten, was jetzt geschieht und wie es weitergehen soll. Nichts Wesentliches, aber doch Nachrichten aus einer fernen, fremden Welt der Bodenhaftung und der Selbständigkeit.

Und dann das Lamento der heimischen Künstel, dass sie zu wenig Geld kriegten, dass sie ein Recht auf mehr hätten, dass der Staat seinen Pflichten nicht nachkäme, dass die allgemeine Atmosphäre kulturfeindlich wäre und dass Kunst und Künstler wichtig, ja lebensnotwendig für das Gemeinwesen wären. In diesem Stil geht es weiter: Ein einziger Berichte vor der Beschwerdekommission, das übliche Bla Bla aus Vorwurf, Forderung, Selbsterhöhung und Selbstmitleid. Die Einzelnen referieren über ihre Arbeit, ihre Kunst und die geringen Subventionen. Keine Reflexion allgemeiner Natur über das Wesen, den Stand, die Umstände oder die Zukunft der Kunst. Ein hoch subventionierter Konzertveranstalter wird vom Tiroler Braun gefragt, wieviel seines Budgets er herein spiele. Das interessiere ihn überhaupt nicht, das wäre völlig irrelevant, das habe überhaupt nichts mit dem zu tun, was er anstrebe, gibt sich dieser gekränkt.

Ein paar Jahre vorher, vor der letzten Wahl, fast die selbe Besetzung, am Podium allerdings der rote Kulturminister Scholten sekundiert vom späteren Kulturreferenten Schachner. Der Himmel hing voller Geigen und Versprechungen. Einige Ausfälle von links kaschierten, dass man ein Herz und eine Seele war. Die Eiseskälte der nachfolgenden Realität zerstörte allerdings diese Blütenträume, jetzt erwarteten wir uns wieder vom schwarzen Gegenüber das Heil. Opportunistisch tanzen wir auf jeder Hochzeit und reden dem augenblicklichen oder künftigen Mächtigen nach dem Mund.

Mir ging das unfrohe vorwurfsvolle Geseire schon lange auf den Keks, außerdem mußte auch ich mich wichtig machen, positionieren, wie das neuerdings heißt. Wozu saß ich schließlich da herum, doch nicht, um etwas zu erfahren. Ich käme wir vor wie in der untergehenden Sowjet Union, als alles nur mehr eine Frage der schwindenden Staatsmittel gewesen wäre. Allgemeine Empörung. Dann meldet sich noch der Kulturchef des lokalen Kleinformats zu Wort, warf sich ob seiner übergroßen Verdienste um die Kulturzene in die Brust und wies auf den Anzeigenwert (!) seiner Kulturberichterstattung hin. Ein kleines Schreiduell folgte ob dieser Ungeheuerlichkeit. Die allgemeine Desorintiertheit hatte ihren Höhepunkt erreicht. Die armen Journalisten! Nur weil ihnen jeder hinten hinein kriecht, damit überhaupt berichtet wird, halten sie sich für wichtig und bedeutend und wissen nicht mehr, wo Gott und das journalistische Ethos wohnt. Ich war naturgemäß unzufrieden mit ihren Leistungen und sagte es auch bei jeder Gelegenheit so nach dem Motto, entweder kriechen oder kontern. Wer berichtet schließlich schon gerne über ein Kreativmagazin wie den Sterz, die Texte sind lang – wann soll man die lesen? –, die wie die Grafiken oft von Unbekannten sind. Ob die wohl gut sind, ob die im Trend liegen? Und wenn das Ganze schon weit über zwanzig Jahre erscheint und täglich die Papierlawine über einen hereinbricht, geht leicht die Übersicht verloren. Da muß man sich entscheiden, wen man protegiert. Natürlich den, den man kennt, “gut” kennt, einfach so oder von den hinteren Kontakten. Ja, wie kommt man dann zu einer Besprechung? Persönliche Kontakte, sagt mein Gewährsmann vom Wiener Niveaublatt, sind das wichtigste. Ja, ja, der Balkan … über den letzten Sterz “Tausend Bilder” berichtete die FAZ. Der Autor gab bis vor Kurzem eine Zeitschrift für Fotogeschichte heraus, als Österreicher in Deutschland, wo es dafür keine staatlichen Zuschüsse gibt. In Österreich wäre die Finanzierung vor allem von den persönlichen Beziehungen abhängig und weniger von der Qualität, das hätte er sich doch nicht antun wollen. Für besagte “Tausend Bilder” erhielt der Sterz wegen des großen Aufwands auch vom Ministerium einen Zuschuß. Später redet mich ein Kulturmensch an, mit dem ich sonst nichts zu tun habe, ob ich zufrieden wäre. Wie, was, warum, wobei, womit? Ihm hätte ich die Zuwendung zu verdanken. Ich bedankte mich überschwänglich. Die Qualität des vorgelegten Heftes wäre anderswo Grund genug gewesen. Ja, ja, der Balkan …

Jetzt hat sie sie wieder, die VP die Kultur nämlich bzw. das, was davon über ist, seit der alte Koren in grauer Vorzeit das Zepter niedergelegt hat. Jetzt ist jedenfalls noch weniger Geld da als je, das wird es den kleinen abhängigen Kulturmachern Angst und Bang. Die Großen sind meist öffentliche Institutionen, die berührt das weniger, obwohl eine kleine Einsparung dort bei den kleinen viel ausmachen würde … Aber was sind das für lächerliche Brosamen gegen das, was die gefräßige Maschine in Wien verschlingt. Die haben wir seit des Kaisers Zeiten, als noch ein Imperium zu repräsentieren war, die brauchen wir einfach, um in der Welt wenigstens noch irgendwer zu sein, bilden wir uns zumindest ein. Großmannssucht auf Kosten der Kleinen, der eigenen Kleinen. Da sparen wir alle für ein Großmachtgehabe, das schon in Paris lächerlich genug ist.

Um den Rest wird gerauft, denn das schnellere Geld ist immer noch das vom Staat, zumindest bei uns. Und so buhlen wir um die Gunst der Beamten, der Sekretäre, der Kuratoren, der Politiker, gefangen in unserer gegängelten Welt.

Die Karawane der Moderne ist allerdings schon längst weitergezogen, bis in das ferne Amerika. Andere Um- und Zustände erfordern andere Vorgangsweisen, andere Methoden, ein anderes Bewußtsein. Die Menschen, die Künstler, die Interessierten sind aus der höfischen Bevormundung befreit in einen freien Markt der Meinungen und Methoden entlassen worden. Dort wölbt sich ein anderer Himmel über den Kreativen, “die Gesellschaft” ist dort keinem etwas schuldig, dort muß, da kann jeder selber schauen, wo er bleibt, er ist ohne Vorwurf — an wen auch? — und daher voller Unternehmungsgeist. Dort agiert keiner in höfischer Abgeschiedenheit, dort hat keiner (Berührungs-)Angst vor dem Volk, keiner verachtet es, keiner haßt es. Keine Subvention verstellt die Sicht auf die Realität. Dafür, so sagen unsere Kulturtheoretiker und -politiker läge dort auch alles darnieder, die allgemeine Kulturlosigkeit wäre mit Händen zu greifen.

In dem riesigen Land sind allerdings klassische Kultureinrichtungen wie “Burg und Oper” äußerst spärlich, die müssen selbst sehen, wie sie über die Runden kommen, dafür fressen sie den kleinen Kulturproduzenten nicht alles weg, und die amerikanische Variante der modernsten darstellenden Kunst, des Films, beherrscht die Welt. Die Bedingungen für bildende Kreative scheinen dort für unserer Begriffe ziemlich schlecht, und doch wird immer noch dort bestimmt, wohin die (Kunst-)Reise geht. ein funktionierendes Atelier in NY ist immer noch ein Erfolgsbeweis.

Wir Ösis werden immer noch in Abhängigkeit gehalten, wir selbst halten uns in Abhängigkeit, wir leiden unter den Folgen “klerikaler Despotie” im Sinne der “asiatischen Despotie”, mit der Marx das alte Rußland beschrieb. Um zu überleben, unterwarfen wir uns der Gegenreformation, die kein Mensch wollte, die kein Mensch brauchte. Wir paßten uns an, wir arrangierten uns, wir wurden Teil des Systems der Vernichtung, Entrechtung und Erniedrigung und wir halten die Deformationen aus unserer Knechtschaft für einen wesentlichen Teile unserer, wie wir meinen, liebenswürdigen Identität.

Immer noch werden wir bevormundet von nicht mehr kaiserlichen Beamten, die nach Gutdünken bestimmen. Wer will deren Redlichkeit bezweifeln, wenn sie entscheiden müssen, bedrängt von Antragstellern, Bittstellern, Interventionen, Direktiven und den Wünschen der Politiker. Der freie Markt, das freie Spiel der Kräfte, von dem jetzt immer die Rede ist, kann da allerdings nicht stattfinden. Wie wird eine Arbeit verglichen, beurteilt, evaluiert, nach Gutdünken, nach Bedürfnis, nach Direktiven? Siehe oben.

Dieses System hängt bleischwer in der Luft, und auch das Aufbegehren dagegen gehört dazu wie die Dissidenten zum Zwangsstaat. Sie sind die Feigenblätter einer angeblichen Liberalität. Ob sie Gerhard Roth, Thomas Bernhard oder Elfriede Jelinek heißen, sie sind systemimanente Dissidenten. Sie werden veröffentlicht und aufgeführt, herumgereicht, mit Preisen bedacht. Ohne sie beginnt keine Vorstellung. Sie werden im Tross mit geführt als institutionelle Gegner, so wie die (schwarzen) Haarlem Globetrotter ihre (weißen) Jausen-Gegner immer mitbrachten bei ihren Basketball-Tourneen. Im Kulturghetto geliebt, werden sie von räudigen Hunden bekläfft, von Gaffern beschimpft, von der plebs misera mit Dreck beworfen, der man die volle Verachtung des (Geistes-)Adels entgegenbringt.

Als Hofnarren gehören sie zu den Herrschenden, zur Karawane der Auserwählten, da braucht man sich nicht abgeben mit fiesen Kötern und dem Lumpengesindel. Sind diese “die Gesellschaft”, die uns immer was schuldig ist, oder sind doch wir sie, die edlen Ritter des Geistes hoch über den Niederungen kleinlicher Gefühle, Vorstellungen, Meinungen und Ansichten?

Die Gesellschaft ist uns was schuldig, so wie früher der Souverän dem Volk was schuldig war, oder war es nicht umgekehrt, waren nicht das Volk dem Souverän etwas schuldig, und der hat sich bedient, hat sich das Beste genommen und den Rest verkommen lassen.

Jetzt ist das Volk schon lange der Souverän, aber wir lassen es, frei nach Kreisky, weder über die Todesstrafe abstimmen noch kulturelle Belange entscheiden, das muß schon den jeweiligen Experten überlassen werden. Die “Kaiserin” Maria Theresia hätte sich allerdings schön bedankt, hätten ihr Experten vorgeschrieben, was sie für gut und schön zu halten gehabt hätte, ob sie z. B. den kleinen Mozart auf den Schoß hätte nehmen dürfen. Wer aber erkennt unsere Einmaligkeit und Genialität, wer nimmt uns auf den Schoß, jeden von uns in seiner Einmaligkeit à la kleiner Mozart? Hat nicht jeder das Recht darauf, ohne dem Gutdünken irgendeines Beamten ausgeliefert zu sein. Die Beamten sind nur Beamte, gut oder schlecht, klug oder dumm, korrupt oder korrekt — siehe oben —, wir setzten doch besser Kuratoren ein, Fachleute, die bestimmen dann aus reiner Wissenschaft und Erkenntnis, wer kriegt und wer nicht. Und wieder sind wir auf einer neuen Stufe des individuellen Beliebens angelangt: Subjektivität und Freunderlwirtschaft entscheiden über den Geldfluß, ohne Kontrolle, ohne Maßstab. Wie denn auch? Der Souverän ist, wie weiland Kaiser Ferdinand, unter Kuratel gestellt, entmündigt, und die Mäuse feiern Hochzeit.

Kunst ist wie so vieles zur Angelegenheit von Experten geworden, ein geheimes Fachwissen von Ausgebildeten ist notwendig, um sich auszukennen, wir lassen schließlich bei der Molekularbiologie auch nicht jeden mitreden.

Hermetisch abgeschlossen findet die Kettenreaktion des Kunstvollzugs vor den immer gleichen Leuten statt. Die haben sich angepaßt in ihren Erwartungen, in der Art und Weise des Konsums. Man läßt auf sich wirken, nachgefragt wird nicht, Position wird nicht bezogen. Kritik und Skepsis, Grundvoraussetzungen intellektueller Redlichkeit, werden als Störenfriede, als Konsensbrecher diskreditiert. Denn innerhalb der hermetischen Blase herrscht Harmonie, der gemeinsame Feind ist außerhalb. Mit dem gibt es keine Kommunikation. Man müßte erklären, und das ist unzumutbar, zu Markte tragen, und der ist unabwägbar.

Im geschützten Bereich der Kunstszene wird nicht diskutiert, es wird vollzogen nach den Regeln des Kuckucksnests. Der Vitalste, Stärkste setzt sich durch im Verdrängungswettbewerb, ähnlich wie in den Apparaten der Kammern und der Gewerkschaft. Ein besonderer Typ Mensch hat sich herausgebildet: Der homo sowjeticus, ein Wesen des Apparats, ein Meister der Intrige, der Intervention, der Anpassung, der Unterwerfung, der Gruppenzwänge. Wie in der DDR wird mit gespaltener Zunge gesprochen, für sich das eine gemeint und laut das andere gesagt. Man ist gleichzeitig Spitzel und Bespitzelter, Denunziant und Denunzierter. Und merkt es nicht einmal oder findet nichts dabei, denn das sind halt die Regeln des Lebens.

Österreich ist ein besetztes Land, in dem sich die Unterworfenen aus Überlebensgründen den Unterwerfern angepaßt haben. Wenn einer nicht entkommen kann, dann muß er die Zwangsherrschaft und ihre Folgen lieben lernen. Das Überlebensmuster wird zum Lebensmuster, zum Liebensmuster, zum Selbstliebensmuster.

Österreich ist ein besetztes Land, ein sich selbst besetzt haltendes Land, das stolz ist auf seine Deformationen, auf seine Indirektheit, auf seine Ironie, seine Unterwürfigkeit, seine Intrigenwirtschaft, auf seine höfisch geschlossene Gesellschaft.

Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire. Mein Souverän, öffnen Sie den Kerker, entfliehen Sie dem Kerker, verlassen Sie die Gefangenschaft, die schon längst eine freiwillige ist, streifen Sie die Verstrickungen ab, entfesseln Sie sich, Sire, der alte Despot ist lange schon weg, wir sind unser eigener Despot, Sire, wir sind Sie.

Walter Hoelbling

grazer stadtleben

lange
wie lange
ist es her
dass ich die strassen dieser stadt
beschreiten konnte
ohne quälende gedanken

die furcht vor dem vergess’nen tun
die last der faul vertanen zeit
der zwang zur effizienz
die hast nach diesem
oder jenem ding

sie alle sind beinahe
mir schon eigen
mein schritt beschleunigt sich von selbst
wenn er die alten häuser um sich fühlt
ich eile übers kopfsteinpflaster
rockschösse flatternd
haar zerwühlt
den sinn besessen nur
auf zweck gerichtet

ein sklave meiner parkscheinuhr
die ich
aus knausrigkeit
oder perversem sportgedanken
so stelle dass ich rasen muss
will ich die dinge alle schaffen
die auf den krausen zettel ich geschrieben

so dräng’ ich mich durch massen von touristen
die langsam
viel zu langsam
äugend schleichen
versuche kinderwägen auszuweichen
und alten damen
schaff’ glücklich alle fristen
und kehre im triumph
beizeiten zurück
beladen mit der beute meiner eile
und lächle freundlich
zu der parkscheinfrau
deren strafzettelnde langeweile
wenngleich nur um sekunden
der meinen überlegen war

ich leg’ den gang ein und fahr los

die stadt
ach ja …
wie ist sie bloss?

Renate Weis

Der Uhrturm und sein Schatten

War der von mir sehr geliebte und oft in der Mittagspause besuchte Uhrturm (die meisten Menschen sagen ohnehin “Schloßberg” zu ihm) einsam? Mag sein, dass man so dachte, ihm helfen wollte und ihm einen Schatten zur Seite stellte. Ich denke, er stand zwar immer allein auf dem Schloßberg, aber von Einsamkeit war keine Rede – sicher kann er gar nicht die Frage beantworten, wie viele Menschen ihn besucht haben, wieviele immer wieder erstaunt sind, dass gerade bei seinem Ziffernblatt der große Zeiger der Stundenzeiger ist … und wenn auch schon, falls wirklich an Tagen mit Glatteis und Kälte nur der eine oder andere Schloßbergbesucher bei ihm vorbeischaute, was solls, Alleinsein kann manchmal sehr guttun. Von der Ferne betrachtet, ob nun von der Burgruine Gösting, ob von St. Veit, von der Bahnhofgegend, von der Hauptbrücke, dieses Viereckerl gehört zu dem Herzstück der Steiermark – ist seine Seele.

Diese Gedanken waren ganz stark in mir als ich irgendwann gelesen habe, dass der Uhrturm einen Schatten bekommen soll. Häufige Besuche bei ihm haben mir dann ein schwarzes Trumm “Irgendwas” beschert und ich war sehr skeptisch, ob nicht der Schatten mächtiger werden würde, als der Uhrturm selbst.

Alles falsch gedacht. Uhrturm und Schatten sind eins geworden. Angeblich soll der Schatten nach dem Kulturhauptstadt-Jahr nach Seiersberg “überführt” werden. Könnte ich, wie ich wollte, ich würde um ihm kämpfen. Was soll der Uhrturm ohne seinen Schatten? Er wird wie nackt dastehen. Seine wahre Schönheit ist erst durch diesen Schatten zutagegekommen. Ich denke aber auch an den Schatten: es wird ein nichtssagender dunkler Fleck im Süden von Graz sein, der sicherlich an der großen Sehnsucht nach seinem Uhrturm seelisch zugrundegehen wird.

So ist das: da soll sich einer auskennen bei uns Frauen. Zuerst skeptisch. Schatten stellt eine Bedrohung für den Uhrturm dar und dann der Versuch, ihn unter allen Umständen für den Uhrturm zu behalten. Mag sein, dass die Wankelmütigkeit der weiblichen Gedanken eine Rolle spielt – es könnte allerdings auch gut sein, dass “frau”, wenn sie erst mal von einem “Schatten” überzeugt wird, ihn unter keinen Umständen mehr loslassen möchte.